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Europa

Wandel durch Handel in Europa – von Feindschaft zur Nachbarschaft

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSamstag, 18.06.2022
Man diskutiert ja gegenwärtig intensiv, ob Annäherung durch Handel als Konzept funktioniert. Man könnte sagen, im Prinzip ja, nur nicht immer. Auch in heute absurd erscheinenden historischen Konstellationen hat Europa mit seinen Nachbarn jedoch immer wieder in längeren Perioden den Handel zum Wandel eingesetzt:
Während des 16. und 17. Jahrhunderts eroberten, versklavten und verkauften sowohl europäische Christen als auch maghrebinische Muslime ihre Feinde im ganzen Mittelmeer. Obwohl sie sich manchmal auf den heiligen Krieg beriefen, hatten Wirtschaft und Politik regelmäßig Vorrang.  Muslimische Gefangene etwa wurden besonders für ihre angebliche Ausdauer auf den rückenbrechenden europäischen Galeeren geschätzt. Sowohl europäische als auch maghrebinische Korsaren oder Freibeuter hatten Lizenzen von ihren Regierungen. Sie zahlten Steuern auf ihre Gefangennahmen und griffen nur offizielle Feinde an.
Der Handel mit diesen Sklaven war ein Teil der dynamischen Wirtschaft auf beiden Seiten des Mittelmeers. Europäische Händler und Abenteurer zog es in den Maghreb. Man ließ sich auch dauerhaft dort nieder. Es wurden Friedens- und Handelsverträge zwischen europäischen Mächten und Maghrebi-Staaten geschlossen. Es wurde üblich,
Botschafter sowie Informationen auszutauschen und sich gegenseitig üppige Geschenke zu senden. Diese relativ stabilen Beziehungen von Staaten, Völkern und Volkswirtschaften existierten – zumindest für die Briten – im späten 17. und 18. Jahrhundert, bis hin zu den kolonialen Eroberungen Europas im 19. Jahrhundert.
Nur wenige Jahrzehnte davor war die Situation eine komplett andere. In den 1620er und 30er Jahren beschossen britische Marineschiffe Algier, die mächtige Levant Company zog nach wiederholten Korsarenangriffen ihre Vermögenswerte aus der Region zurück. Auf der Gegenseite eroberten algerische Korsaren die Insel Lundy im Bristol-Kanal und entführten Hunderte Dorfbewohner aus Baltimore in Irland. Britische Gefangene wurden versklavt  und zwangsweise zum Islam bekehrt. Es herrschte Krieg. 
Selbst nach den wegweisenden Verträgen zwischen Großbritannien, Algier, Tunis und Tripolis im Jahr 1662 wurden in vier brutalen Kriegen mit Algier und Tripolis Tausende britischer Gefangener genommen, riesige Tribute und Lösegelde gezahlt und zahlreiche anklagende Erzählungen über Gefangenenschicksale veröffentlicht.
Andererseits wechselten viele Tausende Briten frei die Seiten, angezogen von der Macht, dem Reichtum und den Freiräumen, die die osmanischen Länder boten.

Der Artikel zeigt das damalige bunte Panorama in der Region, beleuchtet das Netzwerk britischer Einwohner, die Ende des 17. Jahrhunderts in Algier, Tunis und Tripolis lebten. Wir erleben, wie sie nach Jahrzehnten des Konfliktes zwischen den Kulturen neues Leben gestalteten und so den Weg für Frieden und Handel zwischen Großbritannien und den Maghrebi-Staaten, in einer mit heute durchaus vergleichbar komplexen Welt, ebneten. Es war ein langer schwieriger Weg, den die Akteure gehen mussten. Er zeigt uns heute aber, es ist möglich, aus der Konfrontation heraus langsam zu gegenseitigem Vorteil und damit zu Verständigung zu gelangen. Es scheinen dabei immer persönliche Kontakte sowie Interessen eine große Rolle gespielt zu haben.

Zunehmend ab 1662 konnten britische Kaufleute frei und sicher in Maghrebi-Gesellschaften leben, ohne Druck auf Assimilation zu erfahren. Sie bauten enge Beziehungen zu muslimischen und jüdischen Machthabern auf und knüpften robuste Netzwerke im gesamten Mittelmeerraum auf, indem sie Briefe, Informationen, Waren und Menschen in alle Richtungen schickten. 1680 zum Beispiel nannte Baker, der damalige britische Konsul in Tripolis, den muslimischen Korsarenkapitän Cara Villy Rais "meinen besonderen Freund". 1695 besuchte Cole, der Konsul in Algier, regelmäßig seinen Nachbarn, Dey Hadj Ahmed, um über "ein Gericht Kaffee" zu klatschen und die großen Schätze zu bewundern, die der Dey von europäischen Unterhändlern erhielt.

Und es blieb natürlich nicht bei diesen Kontakten im engeren Kreis. Für Diplomatie und für den Handel brauchte man lokale Übersetzer, Mediatoren und Käufer. Man lernte sich in der Breite kennen, man verstand, die Kultur zu schätzen und man lernte Vertrauen. So und nur so kann m. E. Annäherung funktionieren. Lernen wir aus der Vergangenheit. Die zeigt u. a.:

Der zunehmend stabile Frieden zwischen Großbritannien und den Berberstaaten bedeutete, dass Handelsmöglichkeiten in der zweiten Hälfte des 17. und bis ins 18. Jahrhundert größer waren als je zuvor. Mit britischen Schiffen, die vor Korsarangriffen sicher sind und mit verschiedenen Produkten zum Importieren und zum Export bildeten britische Händler im Maghreb breite und vielfältige kommerzielle und persönliche Netzwerke. Goodwyn bewahrte zwischen 1679 und 700 mehr als 3.000 Briefe von mehr als 600 verschiedenen Menschen in mindestens 60 Städten aus seinen 21 Jahren als Kaufmann und Konsul in Tripolis und Tunis. 

Der Umzug in den Maghreb war demnach für diese Kaufleute i.d.R. nicht gefährlicher als der Umzug in das katholische Europa: Es gab sicher auch dort einige Bedrohungen, etwa in Bezug auf ihren Protestantismus. Aber vor allem gab es viel mehr Möglichkeiten.

Wandel durch Handel in Europa – von Feindschaft zur Nachbarschaft

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Kommentare 2
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor fast 2 Jahre

    Ich dachte bei dem Titel ja eher an Europa nach dem 2. Weltkrieg - speziell Frankreich und Deutschland. Dieser Grundgedanke - Wandel durch Handel - ist ja Basis der EU-Gründung...

    Ich denke auch dass die Idee dahinter durchaus stimmt: Handel kann Wandel bedeuten und Konflikte einebnen.
    Aber eben auch nichts bewirken oder sogar neue erzeugen.

    Der Fehler bei der WdH-Idee ist vermutlich dass man es als einseitige Methode zur Beeinflussung sieht.

    tatsächlich funktioniert WdH "leider" auch andersherum - auch unsere Seite wird dadurch gewandelt wenn man zb ansieht wie China uns beeinflusst.
    Auch bezüglich Russland lässt/ließ sich das beobachten: der Westen wurde "apeast", beschwichtigt...

    Aber ja: diese gegenseitige Beeinflussung kann auch im positiven klappen wie im Artikel genannt.

    (bin ich zynisch wenn ich mich aber auch frage ob das die oben genannte Konstellation Briten und Maghreb tatsächlich zeigt? ich meine beide "Seiten" haben nach Jahrhunderten dieses gegenseitigen Kennen/Lernens und des Austausches trotzdem Imperialismus und Kolonialismus und Kriege erfahren.)

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 2 Jahre

      Ja, jede Interaktion hat immer mindestens zwei Seiten. Und man weiß nie, wie es ausgeht. Ich fand den Blick in die Geschichte gerade deswegen interessant.

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