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Zeit und Geschichte

König Ohneland ist tot – ein Film zum Tod von Gorbatschow

Achim Engelberg
Dr. phil.
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Achim EngelbergDonnerstag, 01.09.2022

Für die einen ist Michail Sergejewitsch Gorbatschow ein Bankrotteur, der ein Weltreich ruinierte, für die anderen ein Befreier vom Kommunismus.

Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.

Das, was Friedrich Schiller über seinen Wallenstein schrieb, gilt auch für den letzten Staatschef der Sowjetunion, der nun am 30. August 2022 im Alter von 91 Jahren verstarb.

Der Regisseur Vitaly Mansky porträtierte den schon schwer kranken Gorbatschows in einem beeindruckenden Dokumentarfilm.

Gespräch mit einem Narren

Diesen Filmtitel schlägt sarkastisch der greise Staatsmann vor der Kamera vor, der als gescheiterter Reformer, der dennoch viel erreichte, in die Geschichte eingeht.

Wärmer ist das Statement des Regisseurs, er wollte mit seinem Film erreichen, dass

hinter der kühlen, steinernen Maske der Mensch zum Vorschein kommt, der aus freien Stücken beschlossen hat, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Mit dieser Motivation haben wir uns dem langwierigen Prozess gestellt, diesen weltmüden 90-Jährigen dazu zu bewegen, uns an seiner Welt teilhaben zu lassen – bestimmt von Einsamkeit, Enttäuschung und Freude über die Freiheit.

Seit dem Tod seiner Frau Raissa am 20. September 1999 lebte er über zwei Jahrzehnte alleine – in einem vom russischen Staat gestellten Haus mit Haushälterin, Köchin, Assistenten und Chauffeur.

Dem Sohn einer ukrainischen Mutter wurde Russland fremd. Er schwankte zwischen Kritik und Versuchen, sich in Übereinstimmung zu bringen.

Der Regisseur, dem sich Gorbatschow in so verblüffender Weise öffnete, ist auch ein aufschlussreicher Charakter:

Kurz vor Weihnachten 2020 demonstrierte er mit einer vor sich gehaltenen blauen Männerunterhose direkt vor der Lubjanka in Moskau gegen das Nervengift-Attentat auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny am 20. August 2020. Die Lubjanka ist die Zentrale der Tscheka, des KGB und heute des FSB. In den Kellern der Lubjanka wurden Hunderttausende gefoltert und mit Genickschuss exekutiert. Die Gefängniszellen der Lubjanka sind heute noch in Gebrauch. Vitaly Mansky wurde wegen dieser ungenehmigten Ein-Mann-Demonstration verhaftet und für kurze Zeit ins Gefängnis gebracht. Wenig später wurde er freigelassen und konnte in sein Exil nach Riga in Lettland zurückkehren.

Michail Gorbatschow war ein enorm widersprüchlicher Politiker. Meistens hat er genau das Gegenteil von dem erreicht, was er geplant hatte.

Gorbatschow wollte durch Perestroika (Umbau) die Wirtschaft der Sowjetunion reformieren – und richtete sie zugrunde.

Gorbatschow wollte durch Glasnost (Klarheit) Offenheit im Geistigen schaffen – und erreichte den ideologischen Zerfall, der bis zum heutigen Tag die gesamte Linke erfasste.

Die "realexistierende" Linke entstand nach, aber durch sein Wirken, etwa in Form von "New Labour". Diese lebt heute in den Ruinen in der zerfallenden neoliberalen Tyrannei und gebar den rechtsextremen Nationalismus. Wegen dieser dialektischen Schattenseite feiern auch Rechte den als kommunistischen Reformer angetretenen Gorbatschow.

Das Filmporträt über diesen Jahrhundertmann steht bis zum 28. Februar 2023 in der arte-Mediathek zur Verfügung.

König Ohneland ist tot – ein Film zum Tod von Gorbatschow

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Kommentare 12
  1. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

    Die authentische Doku über Gorbatschows Lebensbilanz sah ich live auf Arte, stieß aber erst jetzt auf den PIQ. Die ambivalenten Bewertungen der historischen Leistung des letzten sowjetischen Präsidenten werden bestimmt – und gerade wegen des aktuellen Krieges – noch länger Bestand haben.
    „Perestroika“: Das Grundgerüst der sozialistischen Planwirtschaft wurde durch Ansätze von Unternehmertum und Marktwirtschaft ergänzt. Alles geschah in einer Phase ökonomischer Schwäche - die Sowjetunion hatte sich im Wettbewerb mit dem stärkeren Westen kaputt gerüstet. Das hat der Perestroika a priori geringe Chancen verliehen. Auf diese Umstände geht der Film, soweit ich mich erinnere, nicht ein.
    „Glasnost“: Gorbatschow entwickelte ein Gesellschaftsmodell, dass die kommunistischen Ideale mit persönlichen Freiheiten verband und die ideologische Bevormundung beendete. Die neuen Freiheiten wurden von den Massen bald als selbstverständlich gesehen. Indes beflügelten sie auch Zentrifugalkräfte, die Machtinteressen der Parteifürsten in den Sowjetrepubliken. Somit wurde die Plünderung des Volksvermögens erleichtert. Ein Großteil des Machtapparats übte Verrat an Gorbatschows Idealen - die wahrscheinlich bekanntesten Ausnahmen sind Schewardnadse und Jakowlew.
    Die Jahre der wirtschaftlichen Zerrüttung nach der planlosen Auflösung der Sowjetunion sind vielen ihrer ehemaligen Bürger bis heute präsent. In Russland verstärkten sich Hegemonieansprüche, während in den anderen Nachfolgestaaten schnell vergessen wurde, dass erst unter Gorbatschow ein (Wieder-)Aufleben ihrer Identität als Nationen möglich wurde. Ein tragisches Schicksal dieses in der Weltgeschichte bedeutenden Reformers. Und die Ironie der Geschichte ist, dass von einem Nachkriegsrussland wesentlich abhängen wird, was Historiker in den postsowjetischen Staaten darüber schreiben werden.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      Ich fürchte, wir erleben immer noch den Zerfall und die Auflösung der Sowjetunion. Der Krieg in und um die Ukraine ist der größte der Zerfalls- und Auflösungskriege. Sollte Russland tatsächlich verlieren, dann werden die Gebiete, die ohne russisches Militär nicht als eingefrorene Konflikte da sein würden, relevant für neue Auseinandersetzungen.

    2. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

      @Achim Engelberg Die Sowjetunion hat sich ja 1991 selbst aufgelöst. Die Kriege, angefangen unmittelbar danach im Kaukasus, sehe ich als Nachbeben dieses chaotischen Zerfalls - ganz wesentlich von Russland provoziert oder befördert, wie auch im Donbass seit 2014. Es hat seine „Satellitenstaaten“ nie als Partner betrachtet und mit seiner Wirtschaftsmacht in der Old Economy, im Rohstoff- und Energiesektor, unter Druck gesetzt. Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS): auch hier die russische Vormachtstellung, die zum Austritt einiger Mitgliedstaaten führte. Eine kleine Episode: Ein Wirtschaftsberater der ukrainischen Regierung berichtete 1995 im Osteuropainstitut der FU Berlin, dass die Ukraine Deutschland um Mediation bei den Zuckerverhandlungen mit den russischen Importeuren gebeten hatte.

      Mit seiner Politik und seinem Militär hat Russland schon damals verloren.

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      @Lutz Müller Bestimmt ist Russland die stärkste revisionistische Macht, aber ein Imperium kann man nicht einfach auflösen.

      Wie die Kriege im sowjetischen Raum in die Geschichte eingehen, kann ich nicht sagen. Der Verfall des spanischen Imperiums ging u. a. als achtzigjähriger Krieg in die Historie ein. Das wusste damals natürlich kein Zeitgenosse.

    4. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

      @Achim Engelberg Ein Imperium kann man nicht einfach auflösen, korrekt. Die wirtschaftlichen Verflechtungen und Interdependenzen, die wir in Europa jetzt besonders vor Augen haben, können sich innerhalb eines Imperiums viel stärker entfalten. Dazu kommen die menschlichen, familiären Beziehungen usw.

      Was ich jedoch nicht unterschreibe ist, dass der Zerfall von Imperien ex post zwingend in Kolonialkriege münden muss. Großbritannien erlebte Anfang des 20. Jahrhunderts einen Rückgang seiner Wirtschaftsmacht, der nicht nur den Ersten Weltkrieg mit auslöste, sondern auch den Zerfall des Britischen Weltreichs einleitete. Wahrscheinlich geschah das nicht ohne militärische Spezialoperationen. Aber hat UK danach jemals versucht, frühere Kolonien zurückzuerobern?

      Im Fall eines offiziellen Kriegszustands zwischen Russland und der Ukraine „könnte Russland etwas tun, was es bisher nur angedeutet hat: das gesamte Land ins Mittelalter zurückbomben", sagt Christian Wehrschütz vom ORF: www.heute.at/s/zurueck... .
      Als einen Rückfall ins Mittelalter bezeichnet Ralf Südhoff in der FR die Missachtung humanitärer Regeln und Prinzipien durch Russland: www.fr.de/politik/krie... .

      Ich sehe den russischen Überfall als Rückkehr zu einer jahrhundertealten Kolonialgeschichte. Die historische Einordnung wird nicht von Rhetorik, aber von den Kriegsschrecken und -ergebnissen abhängen. Äußerungen von Historikern aus der Ukraine, Russland und anderen Ländern zitiert ein Artikel vom BBC World Service, den ich auf www.piqd.de/users/nnn.... empfahl.

    5. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      @Lutz Müller Allerdings schrieb ich nirgends von zwingend notwendigen Kolonialkriegen, sondern nur von langen Prozessen, die zur Auflösung von Imperien führen. Das war auch beim Britischen Weltreich so.

  2. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Für mich war die Autobiografie von A. Jakowlew "Die Abgründe meines Jahrhunderts" am erhellendsten, was Gorbatschow und seine Perestroika, ja die ganze Geschichte der Sowjetunion betrifft. Kann ich nur empfehlen.

  3. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

    die Geschichte wird ein eindeutig positives Bild von ihm haben: er beendete für zigMillionen Menschen den Kommunismus - und damit den Kalten Krieg - und das friedlich.
    und auch wenn die Sowjetunion dabei zerfiel (= was ich als Kosmopolit ebenso bedauerte wie zb bei der Auflösung der Tschecheslowakei), war auch das folgerichtig; denn Zwangsehen bilden nun mal meist keine stabilen Familien wenn Freiheit winkt.
    und es war vor 30 Jahren nicht anzusehen, ja nicht mal vor 20 oder noch 10 Jahren alternativlos, dass das Ganze nicht zu einem demokratischen friedlichen Russland in der Welt werden könnte.

    Dass Putin ihm kein Staatsbegräbnis gibt ist klar. Und auch gut so. So kann er das nicht instrumentalisieren.
    Das können "wir" nachholen sobald Putin weg und - hoffentlich - ein neues besseres Russland entsteht. Dann wird Gorbatschow eine gute Symbolfigur sein...

    für uns Deutsche wird er sowieso immer der Befreier der DDR sein. ..

    Ob dies hier - "die 'realexistierende' Linke entstand ... in Form von "New Labour". Diese lebt heute in den Ruinen in der zerfallenden neoliberalen Tyrannei und gebar den rechtsextremen Nationalismus" - allerdings so unwidersprochen gesagt werden kann, möchte ich doch bezweifeln.

    Gorbi: RIP.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      Das New Labour sich auf den Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks bezog, ist unzweifelhaft an den damaligen Diskussionen nachzulesen oder zu hören.

      Diese trieb viele, die früher Old Labour wählten, nach Rechts. Die Wahlergebnisse sprechen eine deutliche Sprache.

      Was das Bild Gorbatschows in der Geschichte sein wird, weiß ich nicht. Allerdings schwankt dieses oft, deshalb begann ich mit Schiller.

      Das gilt auch für Gestalten unserer Geschichte, die lange tot sind. Es gibt eindeutige Urteile, etwa bei Hitler, aber bei Bismarck oder anderen bleibt es ambivalent.

      Viele, die Gorbatschow kannten, halten den hier empfohlenen Film für einen der besten, gar für ein Meisterwerk - allerdings unterscheiden sich ihre Interpretationen stark.

  4. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

    Der empfohlene Film ist auch für Ivan Krastev, wahrlich kein Unbekannter auf Piqd, erhellend:

    The German poet Hans Magnus Enzensberger labelled him “the hero of retreat”. But does retreat produce heroes? A lost man haunted by the death of his beloved wife and torn apart by a sense of guilt and anger for the tragic death of his beloved country. This is how Mikhail Gorbachev, the Soviet Union’s first and final president, vividly appears in Vitaly Mansky’s documentary Gorbachev. Heaven. This was also my experience several years ago when I visited Gorbachev in his foundation’s empty offices. This stark, poignant impression of Mikhail Sergeevich, who died last week at 91, will forever stay with me.

    Viel sanfter als Schichkin (siehe anderen Kommentar) urteilt Krastev über den Staatsmann, der kein Staatsbegräbnis bekam.

    https://www.theguardia...

  5. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

    Der große Schriftsteller Michail Schischkin schreibt in der NZZ über Gorbatschow und empfiehlt darin diesen Film:

    "Nicht nur für Putin, auch für Gorbatschow war der Zusammenbruch der Sowjetunion «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts». Im Film «Gorbatschow. Paradies», einem Meisterwerk von Witali Manski aus dem Jahr 2020, erklärt er, dass er auch am Ende seines Lebens ein überzeugter Kommunist geblieben sei: «Ich sehe Lenin als unseren Gott an.» Gorbatschow wollte sein morsches, kommunistisches Imperium modernisieren, aber er war ein schwacher Diktator: «Man sagte mir, ich solle schiessen lassen, und ich erwiderte, dass dies nicht der richtige Weg sei.» Den Zerfall und das Ende der Sowjetunion hielt er für einen Staatsstreich."

    Hier der ganze Artikel:
    https://blendle.com/i/...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Den NZZ-Artikel hatte ich übersehen. Danke. Spannend und gnadenlos …..

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