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Volk und Wirtschaft

Wo Putin auch versagte – die gescheiterte Modernisierung Russlands

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSonntag, 02.04.2023

Es gibt verschiedene Interpretationen der sowjetischen und der postsowjetischen Geschichte. Fakt scheint mir, Gorbatschow hat durch seine Reformen "Glasnost und Perestroika" den Niedergang der UdSSR nicht aufhalten können. Die beabsichtigte soziale und ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft scheiterte, die erzwungene Staatenunion löste sich auf. Russland geriet in eine schwere Wirtschaftskrise, während der sich das Bruttosozialprodukt halbierte. Misswirtschaft, Korruption, Verarmung und sinkende Ölpreise führten das Land in eine Katastrophe. Dann – so eine verbreitete Erzählung – erschien Putin als nationaler Retter, der Russland wieder groß machte. Noah Smith zeigt nun mit vielen Statistiken, dass diese Revitalisierung eher eine Folge der steigenden Ölpreise als das Ergebnis einer grundsätzlichen Modernisierung war. Brutal gesagt: Die 20 Jahre unter Putin waren nur ein Zwischenhoch auf dem Weg des postsowjetischen Zusammenbruchs. Eine Chance wurde vertan.

Richtig ist, kurz bevor Putin 2000 die Macht übernahm, begann Russlands Pro-Kopf-BIP seinen Tiefstand aus dem Zusammenbruch zu überwinden. Dieses Wachstum lief ziemlich parallel zu den Ölpreisen am Weltmarkt, die etwa 1998 zu steigen begannen, 2008 ihren Höhepunkt erreichten und 2013/14 dann einbrachen. Damit endeten auch der steile Anstieg des BIP in Russland – sowie Putins glorreiche Jahre.

Aber, so Smith:

auch Putins Wirtschaftsmanagement spielte eine Schlüsselrolle. Die Öffnung der Wirtschaft für den Handel, anstatt darauf zu bestehen, alles im Inland zu tun, ermöglichte es Russland, sich auf das zu spezialisieren, was es gut konnte (d.h. Öl und Gas zu fördern). Und es erlaubte der Zentralbank, Devisen anzuhäufen. Die Devisenreserven schützten Russland vor Zahlungsbilanzkrisen in mehreren Krisen - der Großen Rezession, den Sanktionen nach 2014 und den Sanktionen von 2022. Unter Putin stabilisierte sich auch die russische Gesellschaft vom Chaos der 1990er Jahre. Von 2003 bis 2019 gab es einen Rückgang des Alkoholkonsums um 43%, was teilweise auf Putins Politik zurückzuführen ist, das Trinken zu verhindern. Die spektakulär hohe Mordrate des Landes fiel auf ein ziemlich niedriges Niveau.
Die Lebenserwartung übertraf das sowjetische Niveau, bevor Covid sie dann wieder fallen ließ. Russlands, damals gegenüber anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, relativ starke Wirtschaft generierte einen Zustrom von Einwanderern. Kombiniert mit einer niedrigeren Sterblichkeitsrate führte dies dazu, dass die russische Bevölkerung (die in den 1990er- und 2000er-Jahren zurückgegangen war) in den 2010er-Jahren um etwa zwei Millionen wuchs.
Mit anderen Worten, Putin leitete eine echte, wenn auch bescheidene Wiederbelebung der russischen Wirtschaft ein. Selbst wenn ein Teil dieser Wiederbelebung auch auf Glück beruhte, waren erhebliche Teile davon auf Putins Führung und politischen Scharfsinn zurückzuführen.
Aber bei kritischerer Analyse zeigen sich die Schattenseiten:
  • Der Bevölkerungszuwachs blieb gering und vorübergehend. Er kam zudem aus Ländern mit schnell schrumpfenden, alternden Bevölkerungen. 
  • Russlands Fruchtbarkeitsrate erlebte zwar während Putins "Glory Days" einen leichten Anstieg, erreichte aber nie wieder das Niveau der Sowjetzeit. 
Ein umsichtiges makroökonomisches Management mag Russland davor bewahrt haben, als Reaktion auf die Sanktionen nach 2014 zusammenzubrechen, aber der Lebensstandard hörte auf zu steigen. Russland, das viel reicher war als Polen, Rumänien oder das Baltikum, als die UdSSR zusammenbrach, hinkt diesen Ländern jetzt deutlich hinterher. 

Was eine ziemliche Umkehrung der Entwicklung ist und ganz und gar nicht Putins Ambitionen oder den Erwartungen der Russen entspricht. Eher im Gegenteil ist es eine Gefahr für die Herrschaft des Präsidenten, zeigt sich doch das Potenzial des europäischen Weges.

Dramatisch auch die Ungleichheit der Einkommen (vor Steuern).

Die russische Ungleichheit stieg nach dem Fall der UdSSR massiv an und fiel auch unter Putin nicht wirklich (bis vor kurzem, als reiche Russen von Sanktionen getroffen wurden). So ging das Einkommen der mittleren Russen zwischen 1989 und 2016 tatsächlich sehr leicht zurück, während die armen Russen noch ärmer wurden. Fast das gesamte Wachstum Russlands unter Putin entfällt auf die wohlhabendsten 10% des Landes

Wie Noah Smith richtig bemerkt, ist Putin wirtschaftlich einfach der Logik des komparativen Vorteils gefolgt. Das heißt hart formuliert, Russland ist weitgehend ein Petrostaat, ein Rohstofflieferant geblieben (oder geworden) und hat sich noch mehr auf importierte Technologien verlassen. Was in guten Zeiten funktioniert, das kann langfristig in die Stagnation führen:

Die Ölpreise können nicht ewig steigen, und Petrostaaten sind bekannt für langsames langfristiges Wachstum. Russlands Abhängigkeit von westlichen Maschinen für die Öl- und Gasförderung wird dem Land langfristig auch noch mehr schaden, es sei denn, es wird Ersatz aus China kommen.

Das Fehlen eigener technologischer Fähigkeiten zeigt sich auch im Krieg gegen die Ukraine. Russlands Rüstungsindustrie stützt sich offensichtlich weitgehend auf importierte westliche Computerchips. Auch die Maschinen, die Russland zur Produktion militärischer und ziviler Güter braucht, kommen bisher aus dem Westen. Auch die könnte man mittelfristig durch chinesische ersetzen – und gerät wieder in Abhängigkeit. Von einem Land, mit dem es traditionell oft kriegerische Auseinandersetzungen gegeben hat. Das Zarenreich wuchs auch auf Kosten chinesischer Territorien. Was nicht vergessen ist, wie jüngst die NZZ schrieb:

Wenig hilfreich in diesem Zusammenhang erscheinen dabei die von chinesischen Kolumnisten geposteten Beiträge über die Territorialverluste Chinas seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Phantomschmerzen lindern sie mit einer Litanei über den Raub von anderthalb Millionen Quadratkilometern Staatsgebiet durch das Russische Reich, einschliesslich der heutigen russischen Fernostregion, der Mongolei und einiger Gebiete im heutigen Kirgistan und Kasachstan. Dass derartige Beiträge auch in Zeiten «grenzenloser Freundschaft» zwischen Peking und Moskau unter den wachsamen Augen der chinesischen Internetpolizei veröffentlicht und geteilt werden dürfen, lässt ebenso aufhorchen wie der toponymische Patriotismus einer Ministerialverordnung über die Gestaltung chinesische Karten.

Die technologische Schwäche des neuen Russlands erstreckt sich übrigens nicht nur auf Produkte, in denen schon die Sowjets schlecht waren, wie Computerchips und computergesteuerte Werkzeugmaschinen. Auch Technologien, in denen die Sowjetunion führend war, wie bei der Raumfahrt, fehlt es an Entwicklung und Potenzial. So wurde Russlands Versäumnis, mehr Spionagesatelliten zu starten, zu einem realen militärischen Handicap gegenüber den Ukrainern mit ihren westlichen Verbündeten. Ohne die entsprechende technologische und industrielle Basis ist man keine Supermacht. Insofern stimmte vielleicht das Bild von "Obervolta mit Raketen", das Helmut Schmidt mal gegenüber der Sowjetunion gebrauchte, oder Obamas Einschätzung von der Regionalmacht – auch wenn es unklug ist, dies öffentlich zu formulieren.

Russlands Entwicklung – so Noah Smith – hält aber auch eine Lektion für die Vereinigten Staaten und Europa bereit:  
Ein Land, das sich allein von der einfachen Grenzkosten-Logik des komparativen Vorteils leiten lässt, wird am Ende kurzfristige wirtschaftliche Gewinne erzielen. Aber diese Gewinne können durch den Verlust tiefgreifenderer technologischer Fähigkeiten wieder aufgehoben werden. In den 2000er und 2010er Jahren war es für die USA und Europa kurzfristig wirtschaftlich sinnvoll, China den größten Teil des weltweiten Lithiums und Kobalts verarbeiten zu lassen, alle Batterien und Unterhaltungselektronik der Welt herzustellen, alle seltenen Erden der Welt abzubauen und so weiter. Aber genau wie bei Putins Entscheidung, Russlands Umwandlung in einen Petrostaat fortzusetzen, hatten diese kurzfristigen Gewinne ihren Preis. Wir beginnen erst jetzt aufzuwachen und diesen Preis zu erkennen.
Eine geschwächte Industrienation, eine ehemals führende Weltregion mit hohem moralischen Anspruch, aber ohne Raketen und funktionierendem Militär, wird schnell zum Papiertiger.
Wo Putin auch versagte – die gescheiterte Modernisierung Russlands

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