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Volk und Wirtschaft

Die wuchernde Verwestlichung der Welt

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlDonnerstag, 12.10.2023
Nicht nur die Verwestlichung der Welt beschleunigt sich, auch die Interpretation darum spitzt sich zu. Die einen sagen:
Der Kolonialismus ist zwar tot, lebt aber fort als Kulturimperialismus. Der Westen drückt dem Süden noch immer seine Werte und Sichtweisen auf, entmündigt und erniedrigt ihn. Flankiert wird die Anklage von den üblichen Verdächtigen wie Kapitalismus und Rassismus. Was die Seminare und Regale füllt, ist Wissenschaft als «blame game»: Schuldzuweisung und Selbstbezichtigung – nostra culpa. Der Westen ist Täter, der Rest bleibt Opfer.
Josef Joffe meint in der NZZ hingegen, Grund für den Vormarsch westlicher Ideen, Verhaltensweisen und Technologien ist ganz einfach:
Kopiert wird, was funktioniert. Der Westen bleibt trotz seinen vielen Verfehlungen ein Vorbild der Moderne.
Es gibt viele westliche Erfindungen, die sich mit der Moderne ausgebreitet haben, der Kolonialismus jedoch ist nichts originär westliches. Weder das gewaltsame Wachstum des Großherzogtums Moskau, das sich bis zum Pazifik ausdehnte und dabei unzählige Völker unterjochte, noch Chinas tausendjährige Herrschaft über Vietnam und die heutige über Tibeter und Uiguren lassen sich darauf zurückführen.
Schon gar nicht Japans mörderischen Raubzug durch Asien ab 1931, der Tokio 8,5 Millionen Quadratkilometer einbrachte. Heute kann der Eurozentrismus nur mit dialektischen Verrenkungen begründen, warum Kriege und Binnenkonflikte zum Beispiel viele afrikanische Länder quälen. Deren Schurken sind keine Weissen. Diese aber sitzen allein auf der Anklagebank, nicht die Pharaonen, die schon in «Exodus» Sklaven hielten, arabische Eroberer, die bis Spanien vordrangen, türkische Sultane, die es bis Wien schafften. Versklavung ist keine Sache der Pigmentierung. 

Das eigentliche Rätsel ist aber – so Joffe – wieso gelingt "postkolonialer" Kultur und Wirtschaft diese Verwestlichung der Welt. Ohne Gewalt und selbst da, wo ganz andere Herrschaftsverhältnisse walten – siehe z.B. China, Vietnam oder Indien?

Wer "treibt die Schnellesser von Delhi bis Nairobi in einen McDonald’s". Wer zwingt Menschen weltweit, Netflix zu sehen oder Mercedes zu fahren? Wolkenkratzer entstanden zuerst in New York. Heute wetteifern Dubai, Mekka oder Kuala Lumpur um die Höhenrekorde.

Hardware wie Telefon, Auto, Flugzeug oder Magnetresonanztomografie wurde im Westen erfunden; heute regiert sie die Welt. Warum? Kopiert wird, was funktioniert, übrigens auch im Westen, wo die einen seit Jahrhunderten von den anderen borgen – oder klauen. Doch geht es nicht nur um Techno- und Mode-Tand, sondern auch um die «Software». Warum streben asiatische Talente in deutsche und amerikanische Musikhochschulen? Warum möchten ehrgeizige Nepalesen oder Äthiopier lieber am MIT oder in Cambridge studieren als in Moskau oder Mumbai?

Fragen über Fragen. Ist es dem Kolonialismus tatsächlich gelungen, den Waren- und Konsum-Fetischismus in die Hirne der "Verdammten der Erde" zu implementieren? Hat der weiße Mann den anderen Kulturen erst deren angebliche Defizite eingeredet, um diese dann durch westlich-kapitalistische Konsumbedürfnisse zu ersetzen?

Glauben diese angeblich Manipulierten tatsächlich an ihre Rückständigkeit und eifern deshalb dem Westen nach? Den fürsorglichen Kritikern des Eurozentrismus würden sie entgegenschleudern: «Ihr haltet uns für so minderbemittelt, wie es eure Vorväter taten, als sie uns mit ihrer ‹mission civilisatrice› zu beglücken gedachten. Wir importieren, was nützt – wie seit Anbeginn der Menschheit.»

Oder ist es nicht eher so, dass der freie Wille, die Selbstbestimmung auch im globalen Süden wächst? So wie Adam beim Biss in den Apfel eigenmächtig gegen das göttliche Verbot handelte? Sollten Renaissance, Reformation, Rechtsstaat und (demokratische) Revolution nur im weißen Europa funktioniert haben und funktionieren? Nein, das bipolare Weltbild vom Kampf zw. dem Guten und dem Bösen aus dem Westen ist aberwitzig einseitig. 
Der Westen ist beides: Traktor und Tank, Gedankenfreiheit und Guillotine, Penicillin und Giftgas, Michelangelo und Mussolini. Allerdings hat der Westen nicht den Kolonialismus erfunden, wie es die geschichtsvergessende Eurozentrismus-These darstellt. Die Sklaverei hat England schon 1807 geächtet; sie existiert noch heute in Afrika. Die Bilanz? Der Westen hat die moderne Welt geformt und tut es heute mehr denn je, obwohl die Kolonialherrschaft längst abgeschafft ist. Er bleibt das Modell, leider auch für die Stalins, Pol Pots und Saddam Husseins. Sein Magnetismus wird erst schwinden, wenn China und andere Grossmächte mit Filmen wie «Barbie» und «Oppenheimer» weltweit Milliarden einnehmen – und Harvard und Oxford entthronen.

So wie auch der Süden beides umfasst – traditionsreiche Kulturen und große Imperien in einer langen Geschichte. Und auch dort kann der freie Wille fürchterliches hervorbringen – wie die Hamas. Insofern muss zusammenwachsen, was zusammengehört – wirtschaftlich, politisch und kulturell. Und was wahrscheinlich oft gar nicht so unterschiedlich ist? Arbeiten wir daran, das Zusammenwachsen halbwegs zivilisiert zu gestalten, zu lenken. Bipolare Erklärungen helfen dabei nicht.


Die wuchernde Verwestlichung der Welt

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Kommentare 6
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 6 Monaten

    stimmt schon. witzig ja (fast) witzig ist, dass sich die Kritik an der Verwestlichung und die postcolonial studies zt vom Westen "erfunden" wurde...

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 7 Monaten

    Hier geht vieles Durcheinander; so werden vorkapitalistische Raubzüge und Sklavenhandel vermischt mit der europäischen Expansion + Kolonialismus während der kapitalistischen Formation .

    Die akute Krise des Westen kommt wenig bis gar nicht vor; hier ein Beispiel über das Scheitern des jetzigen Kapitalismus in den USA: https://www.zeit.de/20...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 7 Monaten · bearbeitet vor 7 Monaten

      Vermischt wird da nichts, aber verglichen. Kolonialismus und Sklavenhandel wurden ja nicht durch den Kapitalismus erfunden. Aber in den kapitalistischen Zentren abgeschafft. Das der Kapitalismus in den USA evtl./tendenziell scheitert (aber vorsichtig, Untergangsprophezeiung gibt es seit Anbeginn dieser Gesellschaftsform!), nimmt ja offensichtlich seinen Erfindungen und Lebensstilen nicht ihre Anziehungskraft. Siehe China oder Vietnam. Selbst die größten Feinde des Westens schicken ihre Kinder in die Universitäten dort oder lassen sich in modernen Krankenhäusern behandeln. Bauen das im eigenen Land nach. Kaufen westliche Statussymbole etc.. Und die Flüchtlinge strömen auch in Richtung Westen, wenn sie können.

      Das Problem, den Gesellschaften im globalen Süden gelingt es oft nicht auch den allgemeinen Wohlstand des Westens für ihre Bürger zu schaffen.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 7 Monaten

      @Thomas Wahl Der moderne Kolonialismus entstand mit dem Kapitalismus. Eine Kronkolonie wie Indien konnte es zuvor nicht geben; die Kongokonferenz, in der die Regeln der Aufteilung Afrikas beschlossen worden sind, fand 1884 statt.

      Momentan können immer weniger "normale" Studenten eine renommierte Universität sich leisten.

      Die Sklaverei steigt. https://www.bpb.de/sho...

      Natürlich fliehen viele zunächst im eigenen Land und wenn es dort nicht geht, in die reicheren Länder. Allerdings wird deren Zahl propagandistisch überhöht. Siehe den Aufruf aller oder der überwiegenden Mehrheit der Migrationsforscher: https://www.piqd.de/fl...

      Wenn die jetzige Entwicklung weitergeht, haben wir bald wieder "unerwartete" Verbrechen wie bei allen Einschränkungen des Asylrechts zuvor.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 7 Monaten

      @Achim Engelberg Ja natürlich, der moderne Kolonialismus entstand mit der Moderne. Wer bezweifelt das? Kapitalismus ist ein Ergebnis historischer Prozesse und hat Formen vorheriger Gesellschaften (zeitweise) übernommen, probiert, verändert, abgelegt. Indien selbst bestand vor der britischen Kolonialisierung im Grunde zum großen Teil aus islamischen Eroberungen, Sultanaten oder Mogulenreichen, die untereinander Krieg führten. Was den Engländern die Herrschaft erst ermöglichte.

      Das unselige Kastenwesen in Indien haben auch nicht die Europäer eingeführt. Kurz und schlecht - Indien war ein von ständigen Kriegen und Unterdrückung geschüttelter Subkontinent und keine Insel der glücklichen Einwohner. Was sicher nicht die englische Kolonialisierung rechtfertigt.

      Und auch Afrika's u.a. Grenzen wurden unter westlicher Herrschaft festgelegt. Meist nicht ideal. Das ist auch bekannt. Aber wo geschah das jemals ideal? Auch die Grenzen Europas waren und sind die, die die Gewinner der Kriege hier gezogen haben. Und die kann man anerkennen oder (friedlich oder nicht) korrigieren - auch in Afrika durch die inzwischen unabhängigen Staaten dort.

      Ob die Zahl der Flüchtlinge nach Europa nun propagandistische überhöht wird oder nicht - der Strom geht nach Westen und nicht umgekehrt. Der Magnet liegt nicht im globalen Süden. Nichts anderes wollte Joffe sagen.

      Die Frage des Artikels ist also nicht, ob der Westen eine gute oder ideale Politik betrieben hat. Das gewiß nicht. Und auch hier die Frage, wo hat es jemals ideale Politik gegeben, woran immer gemessen? Man kann natürlich immer Schuld auf Schuld türmen, eine Seite (den Westen) zum Bösen stempeln und als Alleinschuldigen bezeichnen. Nur entspricht das nicht der Realität und erklärt auch nicht die Beliebtheit westlicher Lebensweisen in der Welt. Ein solches bipolare Weltbild von (moralisch) Guten und Bösen hilft keinem.

  3. askan Schmeißer
    askan Schmeißer · vor 7 Monaten

    Guter Artikel um die Eindimensionalität der Diskussion um unsere Welt aufzubrechen. Eher ein Aufbruch zur Lösungssuche als eine fertige Analyse.

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