Kanäle
Jetzt personalisiertes
Audiomagazin abonnieren
Log-in registrieren
forum verwendet Cookies und andere Analysewerkzeuge um den Dienst bereitzustellen und um dein Website-Erlebnis zu verbessern.

handverlesenswert

Kluge Köpfe filtern für dich relevante Beiträge aus dem Netz.
Entdecke handverlesene Artikel, Videos und Audios zu deinen Themen.

Du befindest dich im Kanal:

Literatur

HAPTISCH ERINNERN

HAPTISCH ERINNERN

SABINE SCHOLL
Autorin
Zum User-Profil
SABINE SCHOLLDienstag, 25.08.2020

Meine erste Lektüre dieses Buches geschah zufällig und beiläufig. Das zweite Mal las ich Edmund de Waals „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, weil ich herausfinden wollte, mit welchen Mitteln der Autor sein historisches Material in erzählte Geschichte umwandelt.

Das Buch stellt eine Besonderheit insofern dar, als der englische Keramiker das Schicksal seiner jüdischen, aus Odessa stammenden Familie, weder als Historiker noch als Schriftsteller erforscht. Der mit seinen Händen arbeitende Künstler stellt Gegenstände in den Mittelpunkt seiner Erkundungen, welche ein Verbindungsglied zwischen den Generationen bilden. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Netsuke, winzige aus Elfenbein und edlem Holz in Japan geschnitzte Skulpturen, die sein Urgroßonkel Charles im Zuge der Pariser Mode des japonisme erworben hatte. Sie allein überstanden den Niedergang der vermögenden jüdischen Familie Ephrussi und landeten schließlich im Besitz de Waals. Diese Objekte, ursprünglich gemacht, um sie mit sich herumzutragen und zu betasten, mit den Fingern zu erkunden, sind das einzige, was nach Vertreibung und Enteignung geblieben war.

Um der vergangenen Größe nachzuspüren, ruft de Waal haptisches Erinnern, den Tastsinn und das Raumgefühl auf. Er will so die damaligen Lebensumstände nachvollziehbar machen, die Diaspora der Familienmitglieder und ihres Besitzes zumindest mithilfe dieses Buchs aufheben. Wo die materielle Wiedergutmachung nicht gelingt, - ein langes Kapitel widmet sich dem erfolglosen Bemühen seiner Großmutter, das arisierte Vermögen und den Familiensitz an der Wiener Ringstraße zurückzuerhalten -, soll der Übervorteilten und Verfolgten zumindest mithilfe dieser Rekonstruktion gedacht werden.

Zudem symbolisieren diese Objekte die einstige geographische und gesellschaftliche Reichweite der Ephrussis: In Paris waren die Netsuke von dem mondänen Charles erworben worden, der sich in Künstler- und Schriftstellerkreisen bewegte. Dann gelangten sie als Hochzeitsgeschenk an de Waals Urgroßeltern, die im Wiener Palais lebten, wo sie zum Spielzeug für deren Kinder wurden, bevor die Familienmitglieder mit der Machtübernahme Hitlers nichts als ihre Leben retten konnten. Neben einem Nachfühlen mithilfe von Gegenständen beschäftigt sich de Waal auch mit den Räumen, in denen diese untergebracht sind, bringt ausführlich Interieurs, architektonische Details, Überlegungen zur Akustik ins Spiel. Alle Sinne jenseits des Sehsinns werden in diesem Erzählen bedeutsam und transponieren das vergangenen Lebensgefühl in die Gegenwart.

Mit einem dramaturgischen Trick, der Einführung von Anna, des Wiener Dienstmädchens der Familie, welches anscheinend das Palais nie verlassen hat und deshalb die winzigen Gegenstände unter den Augen der Arisierer in ihrer Schürzentasche davontragen konnte, hellt de Waal seine düstere Geschichte etwas auf. Anna versteckte die Netsuke unter ihrer Matratze und schlief all die Kriegsjahre wie eine Prinzessin auf der Erbse darauf, berührte die Erinnerung an vergangene Lebensformen mit ihrem Körper. Jedes einzelne Schnitzwerk wird so zum Signal des Widerstands gegen die völlig Umwertung des Alltags unter dem Naziregime. Anna dient dem Autor außerdem als Kontrast zur ausführlich dokumentierten Geschichte seiner einst vermögenden und privilegierten Vorfahren. Während diese unzählige Verschriftlichungen vorweisen können, - so war etwa Charles mit Marcel Proust bekannt, der sogar einen Nachruf auf ihn verfasste, so schrieben sich Großmutter Elisabeth und der Dichter Rilke Briefe, so findet de Waal in den Gesellschaftsspalten damaliger Zeitungen die Namen und Kleidungsvorlieben seiner Vorfahren wieder - , ist von Anna nicht einmal ein Nachname zu eruieren. Sie verkörpert sozusagen den guten Geist des Hauses, ein Gegengewicht zur gängigen Wiener Bosheit. Ansonsten ist de Waals Urteil über diese Stadt meist vernichtend, die Ringstraßenarchitektur sei eine Potemkin’sche Kulisse für den Triumphzug der Nazis, die Bereitwilligkeit der Wiener Hitler zu empfangen, überzogen mit einer Schichte aus Zuckerguss und Schlagobers.

Die Effekte seines Buches in der realen Gegenwart waren enorm. Aufgrund des Erfolges konnte 2014 der Roman seiner Großmutter Elisabeth de Waal über ihren Kampf um Restitution kurz nach Kriegsende unter dem Titel: „Donnerstags bei Kanakis“ veröffentlicht werden. Außerdem wurden 2019 ein Teil der Netsuke, de Waals Recherchematerialien, Fotografien, Briefe, Gemälde in einer großen Ausstellung im Jüdischen Museum in Wien gewürdigt. De Waals künstlerische Arbeiten erfuhren durch die weltweite Bekanntheit des Buches eine Aufmerksamkeit, die sie ohne seine sorgfältig aufbereitete Familiengeschichte nicht erreicht hätten.

Die Erfahrung von Orten und Gegenständen, die Materialität von Dokumenten und Fotografien bilden also neben ihrem Informationswert einen wesentlichen Impuls dieser Erinnerungsarbeit. Um Historie in persönliche Fälle überzuführen, mit denen sich die Menschen der Gegenwart identifizieren können, setzt de Waal sinnliche Erfahrbarkeit ein. Wo Proust die Kategorie des Erinnerns mittels Geruch und Geschmack in die Literatur einführte, kann de Waal als Begründer des haptischen Erinnerns gelten, das es ermöglicht, emotionale Reaktionen im Heute hervorzurufen. 

Möchtest du kommentieren? Dann werde jetzt kostenlos Mitglied!

Kommentare 1
  1. Andreas Schabert
    Andreas Schabert · vor mehr als 3 Jahre

    Sehr schöne Besprechung des Buches, die mich neugierig machte, und daher habe ich das Buch gekauft. Bin momentan noch in der Wiener Zeit, manchmal ist mir das schon sehr langatmig, die vielen Details über das Leben der Finanz-Elite damals. Auf der anderen Seite ist der Gesamt-Kontext natürlich sehr interessant, und es gibt viele sehr schöne und berührende Momente, z.B. wenn er beschreibt, wie es ihm selbst in dieser Recherche geht. Interessant, dass so ein ungewöhnliches Buch so erfolgreich sein konnte. Danke für diesen Piqd.

Bleib immer informiert! Hier gibt's den Kanal Literatur als Newsletter.

Abonnieren

Deine Hörempfehlungen
direkt aufs Handy!

Einfach die Hörempfehlungen unserer KuratorInnen als Feed in deinem Podcatcher abonnieren. Fertig ist das Ohrenglück!

Öffne deinen Podcast Feed in AntennaPod:

Wenn alles geklappt hat,
kannst du das Fenster schließen.

Öffne deinen Podcast Feed in Apple Podcasts:

Wenn alles geklappt hat,
kannst du das Fenster schließen.

Öffne deinen Podcast Feed in Downcast:

Wenn alles geklappt hat,
kannst du das Fenster schließen.

Öffne deinen Podcast Feed in Instacast:

Wenn alles geklappt hat,
kannst du das Fenster schließen.

Öffne deinen Podcast Feed in Apple Podcasts:

Wenn alles geklappt hat,
kannst du das Fenster schließen.

Öffne deinen Podcast Feed in Podgrasp:

Wenn alles geklappt hat,
kannst du das Fenster schließen.

Bitte kopiere die URL und füge sie in deine
Podcast- oder RSS-APP ein.

Wenn du fertig bist,
kannst du das Fenster schließen.

Link wurde in die Zwischenablage kopiert.

Öffne deinen Podcast Feed in gpodder.net:

Wenn alles geklappt hat,
kannst du das Fenster schließen.

Öffne deinen Podcast Feed in Pocket Casts:

Wenn alles geklappt hat,
kannst du das Fenster schließen.