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Literatur

Hypnotiseure aus Soest

Quelle: (c) Line Hoven "Hierophant"

Hypnotiseure aus Soest

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMontag, 09.12.2019

In der FAZ las ich vor einigen Jahren diesen Leserbrief:

"Unbequem auf der Couch

Seit vielen Jahren bin ich sehr zufriedener Abonnent und Leser der F.A.Z. Nachdem ich Politik, Wirtschaft, Finanzen, Sport und das Feuilleton der Wochenendausgabe in Ruhe gelesen und genossen hatte, kam schließlich das neue Magazin dran. Das alte Magazin war sicher etwas klein geraten, was das Format betrifft. Aber das neue Riesen-Format ist für den Leser, zumindest für mich, eine Zumutung. Es ist äußerst unhandlich, man kann es eigentlich nur lesen, wenn man es auf einen Tisch legt. Ich pflege aber meine Zeitungslektüre bequem im Sessel sitzend, manchmal sogar auf der Couch liegend, zu gestalten. Bei dem Format Ihres neuen Magazins ist das leider nicht möglich.

Wulf Reuter, Soest"

Dieser Text hat mich berührt, weil aus ihm ein großes Leid sprach. Ein Mensch war in seinen Gewohnheiten gestört worden, das ist ja das Schlimmste, was einem passieren kann, und noch dazu von seiner Zeitung, die sich verändert hatte, bereits zu seinen Lebzeiten. Er konnte seine Zeitungslektüre jetzt nicht mehr auf der Couch liegend gestalten, sondern mußte für das Magazin aufstehen und an einen Tisch gehen, den er vielleicht gar nicht besaß. Das erinnerte mich an eine Geschichte aus Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit". Dort hatte ein Mann die Gewohnheit, jeden Tag zur gleichen Zeit eine öffentliche Toilette im Park aufzusuchen, um sich zu erleichtern und dabei die Zeitung zu lesen. Als eines Tages seine Frau starb, fühlte er sich aus der Bahn geworfen, weil er für ein paar Tage nicht auf seine gewohnte Art auf die Toilette gehen konnte. Erst nach einer Weile normalisierte sich die Lage für ihn wieder. Es gibt ja im StGB einen Paragraphen, der die Störung der Totenruhe behandelt, aber die Störung der Lebendenruhe ist ein nicht weniger heikles Thema.

Üblicherweise erscheinen ja in der FAZ Leserbriefe, in denen jemand bemängelt, daß in einem Artikel über die Schlacht von Donski Woroschilow behauptet wurde, General Vincenz von Müller gehörte zu den Stalingrader Generälen um Ritter Wieland von Singen-Kalbutz, wo er doch in Wirklichkeit als kommandierender General dieser Heeresgruppe lange vor dem Durchbruch der Potemkinschen Reiterarmee in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten sei. Solche Leserbriefe sind interessant, weil sie belegen, daß, egal wie gut ein Journalist ist, es immer einen Leser gibt, der sich noch besser auskennt. Aber sie regen nicht so sehr unser Mitgefühl an, wie der Brief von Herrn Reuter aus Soest, der seine Zeitungslektüre neuerdings nicht mehr auf der Couch liegend gestalten konnte. Sollte er jetzt vielleicht sein ganzes Leben umkrempeln und einen Couchtisch anschaffen für die zu große Zeitung? Oder sollte er eine kleinere Zeitung abonnieren? Aber wer sagte denn, daß dort das gleiche drinstand? Würde die FAZ zur Vernunft kommen, und das Format ihres Magazins wieder dem Bedürfnis eines ihrer treuesten Leser anpassen, der die Zeitung nicht nur las, sondern, wie er schrieb "genoß", und zwar in der ungewöhnlichen Reihenfolge: Politik, Wirtschaft, Finanzen, Sport und Feuilleton? Mir ist selbst theoretisch überhaupt kein Mensch vorstellbar, der seine Zeitung so vorschriftsgemäß von vorne lesen würde, ich bin immer davon ausgegangen, daß Zeitungen generell von hinten gelesen werden, daß das sogar so vorgesehen ist, weshalb die interessanteren Dinge ja auch weiter hinten stehen. Wollte die FAZ diese Art Leser im Grunde loswerden, weil sie ja doch nur noch auf die jüngeren Generationen mit ihren iPads setzte, die wegen ihres traumwandlerischen Umgangs mit den neuen Technologien nicht an ein bestimmtes Bequemlichkeitsarrangement gebunden sind, sondern ihre Zeitungslektüre zur Not sogar mit einer Hand gestalten könnten, ohne Leselicht, irgendwo draußen in der Welt und vollkommen unergonomisch?

Was mir am meisten zu schaffen machte, war, daß Wulf Reuter die Veröffentlichung seines Leserbriefs vielleicht gar nicht mehr erlebt haben könnte, weil er physikalisch nicht mehr in der Lage gewesen ist, die FAZ weiter zu lesen. Es könnte sogar noch schlimmer sein, und er könnte einen der größten Erfolge seines Lebens verpaßt haben, in seiner eigenen Zeitung seinen Namen zu lesen, weil er die FAZ auf dem Boden ausgebreitet und sich drübergebeugt hat und ihm dabei ein Äderchen im Gehirn geplatzt ist. Die meisten Männer sterben ja dabei, daß sie sich zu schnell nach einer alten Socke bücken, manchmal nicht mal der eigenen! Es muß aber nicht so gekommen sein. Vielleicht hat Wulf Reuter auch die naheliegende Idee gehabt, sich von einem Hypnotiseur zwischen zwei Stühlen, hart wie ein Brett, in waagerechter Haltung versteifen zu lassen, um so die am Boden liegende FAZ lesen zu können, ohne sein Leben zu riskieren. Für die etwas angestaubte Kunst des Hypnotisierens eröffnet sich durch den medialen Wandel ein ganz neues Geschäftsfeld: der älteren Generation (zu der ich mich natürlich auch zähle), die von der Entwicklung der neuen Medien abgehängt wird, weiter ihre gewohnte und gesundheitlich unbedenkliche Zeitungslektüre zu ermöglichen!

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Kommentare 2
  1. Uwe Protsch
    Uwe Protsch · vor mehr als 4 Jahre

    Am merkwürdigsten finde ich die Formulierung "gelesen und genossen". Sehr rätselhaft: Hat Herr Reuter die FAZ erst gelesen und dann genossen? Sind Lesen und Genießen zwei verschiedene Tätigkeiten (wenn ich die FAZ lese, dann ist das oft der Fall!)? Oder genießt Herr Reuter das Lesen der FAZ?

    Meine Hypothese: Herr Reuter liest die FAZ, dann legt er sie beiseite und genießt es, über das Gelesene auf der Couch liegend zu sinnieren. Wäre er nunmehr gezwungen, nach der Lektüre vom Stuhl auf die Couch zu wechseln, könnte dadurch bereits die Unmittelbarkeit des Genusses beeinträchtigt sein ...

  2. Falko Hennig
    Falko Hennig · vor mehr als 4 Jahre

    In dem Satz "Üblicherweise erscheinen ja in der FAZ Leserbriefe, in denen jemand bemängelt, daß in einem Artikel über die Schlacht von Donski Woroschilow behauptet wurde, General Vincenz von Müller gehörte zu den Stalingrader Generälen um Ritter Wieland von Singen-Kalbutz, wo er doch in Wirklichkeit als kommandierender General dieser Heeresgruppe lange vor dem Druchbruch der Potemkinschen Reiterarmee in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten sei." befinden sich zwei Fehler, zum einen ist im Wort wurde das u falsch formatiert, zweitens gibt es in Druchbruch einen Buchstabendreher. Den Genuss des Textes haben die Errata nicht getrübt.

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