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Europa

Unsere europäische Idee – ein Streitgespräch mit Robert Menasse

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlMontag, 03.07.2023
Der Österreicher Robert Menasse engagiert sich seit vielen Jahren leidenschaftlich für Europa. Er streitet für ein postnationales, regionalisiertes Europa mit einer Zentralregierung. Sein Roman über den Sitz der europäischen Institutionen "Die Hauptstadt" handelt von Menschen, die in Brüssel für diverse EU-Institutionen arbeiten. Auch wenn der Roman das Thema "Europa" und die Union satirisch überspitzt, den bürokratischen Wahnsinn großer Institutionen bitterböse aufs Korn nimmt, das Interview in der NZZ zeigt, Menasse ist es mit seiner Liebe zu Brüssel und einem nationenfreien Europa bitterernst. Diese Leidenschaft ist beeindruckend. Aber wenn Rationalität und Leidenschaft sich mischen, dann wird vieles eindimensional und unterkomplex. Menasse sieht über dem Europagedanken eine Tragikomik walten:
Dass es in fast allen europäischen Mitgliedsstaaten Politiker gibt, die in Sonntagsreden sagen, dass sie glühende Europäer seien, dann aber de facto antieuropäische Politik machen. Sie benutzen Brüssel bloss als Bankautomat. Sie heben Geld ab, aber Gemeinschaftspolitik blockieren sie. Das heisst dann Verteidigung der nationalen Souveränität. Und Wähler, die nicht aufgeklärt sind im Hinblick auf die europäische Idee, finden das super. Aber in Hinblick auf globale Krisen gibt es keine nationalen Lösungen. Dann sagen die Menschen: Die nationalen Politiker sind nicht konsequent genug, und wählen noch radikalere Nationalisten. Und so setzt sich eine Spirale in Gang, die ich nicht mehr komisch finde.

Auf die Frage, ob es nicht sein könne, dass die europäische Idee die Leute nicht begeistert, meint er: "Wie sollen sie begeistert sein, wenn sie sie nicht kennen?"

Er hält die Bürger für verdummt und meint, nur die wenigsten in den EU-Mitgliedstaaten wissen, was "die Idee" sei. Das es nicht nur eine Idee von und zu Europa gibt, nicht nur seine Vorstellung dazu, das reflektiert Menasse nicht. Er sieht den Kommunikations- oder in seiner Sicht den Manipulationsprozess zur Europafrage so:

Was schlecht läuft, ist Schuld der EU, und was funktioniert, ist Leistung der nationalen Regierung. Tatsächlich aber ist alles, was schiefläuft, Folge der jeweils nationalen Politik der Mitgliedstaaten. Keine der grossen gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen kann national gelöst oder gemanagt werden. Diese sind nämlich schon längst transnational, wie die Finanzströme, die Lieferketten, die Energieversorgung, die Flüchtlinge und die Migrationsproblematik, die Erderwärmung.

Aus der Tatsache, dass viele Probleme natürlich transnational oder gar global entstehen und gelöst werden müssen, schließt er, die Nationalstaaten sind schuld und müssen weg oder müssen zumindest ihre Souveränität aufgeben. Als ob z. B. die Probleme in einer Gruppe von Menschen nur von einem übergeordneten Menschen gelöst werden könnten. Dass aus der Idee der Nation, des Nationalstaates, auch immer wieder Ideologien und verschiedene Nationalismen entstanden sind, ist ja richtig. Aber diese Gefahr, etwa ein europäischer -ismus, wird ja durch die Europäisierung der Staatsgewalt nicht gebannt. Die "Gleichschaltung" der Regionen im Namen der großartigen Idee von Europa oder ein Agieren der Union als Imperium sind genauso wenig ausgeschlossen wie Bürgerkriege in Nationalstaaten oder zwischen dann europäischen Regionen. 

Aus der Gleichsetzung von Nation oder Nationalstaat mit Nationalismus und der nachvollziehbaren Vermutung, Nationalismus führe in letzter Konsequenz zu Auschwitz, schlussfolgert er, die Nation sei das Problem. Und polemisiert gegen den Interviewer:

Sie haben die europäische Idee wirklich nicht verstanden. Ich habe gesagt, Friede durch Überwindung des Nationalismus. Die Idee war nicht: Wir müssen wettbewerbsfähig werden gegenüber China und den USA. Das kann man diskutieren. Aber nach europäischen Bedingungen: Es dürfen keine Waren, die mit Kinder- und Sklavenarbeit und ohne minimale soziale Standards produziert werden, auf den europäischen Markt kommen, darauf muss die Europäische Kommission achten. Auf der Basis von amerikanischen oder chinesischen Standards kompetitiv zu sein – das war nie die Idee eines vereinten Europa.

Um nach dieser Vereinfachung wirtschaftlicher Fragen aber auch so zu argumentieren:

Ich sage nicht, dass der Nationalstaat abgeschafft gehört. Ich sage nur, dass er durch europäische Gemeinschaftspolitik und durch die Globalisierung absterben wird. Und ja, es ist in der Tat vollkommen verrückt, dass der europäische Nationalismus, der in Deutschland ein ethnisch definierter Nationalismus war, einen ethnisch definierten Nationalstaat im Nahen Osten produziert hat. Ich bin der Meinung, dass Israel in die EU aufgenommen werden muss, Europa hat das Problem verursacht. Europa muss es zurückholen.

Davon abgesehen, dass die Nationalstaaten eigentlich immer auch kulturell definiert waren (die Kultur aber der reinen Ethnie zugeordnet wurde), ist die eigentliche Frage nicht eher, was für ein Europa stellen wir uns vor? Was könnte die Rolle des Nationalstaates sein? Die Zukunft ist offen. Wir wissen nicht, ob der Nationalstaat absterben oder sich "nur" wandeln wird. Das sollte (hoffentlich) letztendlich das Ergebnis demokratischer Aushandlungsprozesse sein, die natürlich auch immer wieder experimentelle Schritte erfordern werden. Wir müssen sozialtechnische Experimente durchführen, die Ergebnisse empirisch auswerten.  

Es reicht nicht, über den gegenwärtigen Zustand zu schimpfen, etwa so:

Die Ungarn, die Polen machen, was sie wollen. Sie brechen europäisches Recht. Da soll die europäische Idee obsolet sein? Gerade jetzt müssen gemeinsame Standards verteidigt und weiterentwickelt werden. Ein gemeinsamer Rechtszustand wäre ein Fortschritt gegenüber nationaler Willkür, das verstehen Sie doch, oder?

Ja, wir brauchen gemeinsame Standards, aber die müssen gemeinsam entwickelt werden. Und übernationale Willkür, oder etwas was auch nur so empfunden wird, ist keine Lösung. Das "Subsidiaritätsprinzip" kommt in dem Interview z. B. gar nicht vor. Aber hier beginnen gerade die Probleme mit der "Idee von Europa" – sie liegen in vielen, vielen Details. Europa kann sich nur entwickeln, muss eigentlich entwickelt werden, mit unendlich viel Geduld. Und das durch die Nationalstaaten. Die Frage bleibt, haben wir die Zeit? Insofern brauchen wir auch viel mehr solcher Streitgespräche über unsere Ideen von Europa.


Unsere europäische Idee – ein Streitgespräch mit Robert Menasse

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Kommentare 14
  1. Frank Kitz
    Frank Kitz · vor 10 Monaten

    Ich schätze Robert Menasse

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 10 Monaten

    Bei Menasse bin ich immer wieder hin- und hergerissen. Seine Romane sind oft klüger als seine politischen Ansichten. Deshalb ist der Schluss des Gesprächs für mich wichtig:

    Als Schriftsteller ein politisches Programm zu verfolgen, geht das?
    Das mache ich ja nicht. Hatte Balzac ein politisches Programm? Er hat ein Panorama seiner Epoche eröffnet. Um erzählen zu können, was war, muss man sich mit den Gegebenheiten beschäftigen. Literatur ist nichts anderes als die Reflexion der eigenen Zeitgenossenschaft in Erzählung. Und mehr ist auch nicht mein Anspruch. Und was ich Ihnen hier sage, sage ich nicht als Dichter, sondern als Bürger.

  3. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 10 Monaten

    hab mir aus Interesse das Interview angesehen und stimme Ihnen zu, insofern Menasse tatsächlich etwas inkonsequent spricht. allerdings - bei aller Zustimmung zu den wichtigen Details die Sie erwähnen - verstehe ich ihn insofern, dass (leider nach so langer Zeit) immer noch die Europäische Idee an sich vermittelt und propagiert werden muss.

    und "gemeinsame Standards, aber die müssen gemeinsam entwickelt werden"? sorry, diese Standards haben wir bereits. und es ist tatsächlich eine Schande, wie sehr die nationalen Politiker die EU missbrauchen (= und nicht nur die Sorgenkinder Ungarn, Polen, auch Deutschland gern).

    Ob die Nation an sich das Problem ist, möchte ich auch bezweifeln.
    ich glaube allerdings, dass sie tatsächlich in ihrer sub-europäischen Form verschwinden wird, so wie abgesehen von ein bissl Lokalkolorit sich in Deutschland kaum noch einer als Mitglied der Hessischen Nation versteht oder ähnliches. und innerhalb einer föderalten Bundesrepublik setzen wir ja auch auf Subsidarität.

    Was könnte also helfen, die Idee wieder stärker in den Fokus zu rücken? nun eine Europäische Öffentlichkeit. Europäische Presse, Medien (=wie ARTE) und natürlich Europäische Transnationale Parteilisten für die Wahlen. und die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzip bei den meisten Entscheidungen plus Sanktionsmöglichkeiten gegen Abweichler.

    1. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor 10 Monaten

      Ja die vielbeschworene, von allen politischen und medialen Dickschiffen hundertfach geforderte und nie wirklich versuchte, europäische Öffentlichkeit. In diesem Sinne sehen wir unser euro-piqs und hoffen Budget zu finden für mehr davon:

      https://www.piqd.de/sp...

    2. Ferdinand H
      Ferdinand H · vor 10 Monaten

      @Marcus von Jordan Kann man das abonnieren?
      Finde ich eine super Idee!

    3. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor 10 Monaten

      @Ferdinand H Danke Ferdinand - bis jetzt gibt es nur die oben verlinkte Sammlung und die werden wir nach und nach erweitern, wenn wir es uns leisten können. Wir suchen intensiv nach einer Förderung für dieses Projekt um das regelmäßig und strukturiert machen zu können. Dann werden wir das natürlich auch offensiv kommunizieren und ganz sicher einen Newsletter dazu anbieten.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 10 Monaten

      Ich bin mir nicht ganz klar, was "die Europäische Idee" sein soll, jenseits des abstrakten Gemeinschaftsgedanken? Was wir haben ist eine EU mit Regeln und Institutionen, die mehr oder weniger gut funktioniert. Wir haben eine Währung, in der einige EU-Länder beteiligt sind, andere nicht. Die Regeln werden recht und schlecht befolgt. Aber wohin genau soll sich dieses Gebilde entwickeln? Wollen wir eine gemeinsame Armee und Außenpolitik? Wollen wir eine Zentralregierung oder nicht? Was wäre denn eine europäische Öffentlichkeit in einem riesigen, sehr differenzierten Gebilde mit mehr als 500 Mio. Einwohnern. Geht das überhaupt und wenn ja, bis zu welcher Größe? Wie soll da das Subsidiaritätsprinzip wirklich realisiert werden. So oft wie heute schon Regeln verletzt werden, ist das wohl nicht trivial?

    5. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor 10 Monaten

      @Thomas Wahl Nicht trivial und nur sehr langsam realisierbar... glaube ich auch mittlerweile.
      Die "Idee" ist für mich einfach ein Zustand unzweifelhafter Zusammengehörigkeit und Solidarität. Das braucht es sicher keinen weiteren Demokratieverlust durch hyperbürokratische, zentrale Organisation. Und ein kurzfristiges Auflösen der Nationalstaaten halte ich für ein brandgefährliches Ziel. Lieber projektbezogene Verschränkung, so wie das bis 1990 auch gelaufen ist. Unbedingt sicherheitspolitisch, was ja dann zumindest einen außenpolitischen Grundkonsens erzwingen würde. Und eben gemeinsame Öffentlichkeit.

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 10 Monaten

      @Marcus von Jordan Hier sind wir uns einig …… 😊

    7. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor 10 Monaten

      @Thomas Wahl ...um Gottes Willen!

    8. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 10 Monaten

      @Thomas Wahl ah ich verstehe die Europäische Idee schon weitergefasst als "Zusammengehörigkeit und Solidarität". JA: wohin soll sich die EU entwickeln? auf eine echte Europäische Föderation, einen Staat - ähnlich komplex und kompliziert wie die deutsche Einigung - und zwar die von 1872 :- ), die hat auch von mindestens 1848 bis 72 gedauert...

    9. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 10 Monaten

      @Cornelia Gliem Ja, und es ist noch viel komplexer wie die deutsche Einheit …..

  4. Hermann J. F. König
    Hermann J. F. König · vor 10 Monaten

    Ich begreife nicht, weshalb es geduldet wird, dass einzelne Staaten EU-Gesetze brechen können, ohne den Rauswurf zu riskieren.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 10 Monaten

      Wenn ich das richtig verstehe, dann muß der Rauswurf einstimmig sein. Und das ist nicht so. Da widersprechen sich die Regeln selbst. Eine schlechte Konstruktion. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man so einfach von Gesetzesbruch reden kann. Dazu kommen noch strategische Fragen. Eine EU etwa ohne Polen oder Ungarn wäre an der Ostflanke geschwächt.

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