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Zeit und Geschichte

Zeit der Monster - Bücher, um unsere Vielfachkrise zu begreifen

Achim Engelberg
Dr. phil.
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Achim EngelbergFreitag, 15.12.2023

Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.

So charakterisierte Antonio Gramsci unheimlich aktuell seine Vielfachkrisenzeit. Was ist das Gemeinsame, was ist das Neue zu unserer Epoche? Welche Bücher könnten uns helfen, unser Zeitalter zu begreifen?

Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert

Mein erstes Buch ist "Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert" von Herfried Münkler. Während die meisten Neuerscheinungen vor allem schnell geschrieben sind, legt der bekannte Politikwissenschaftler ein fundiertes Buch vor, weil viele seiner Themen aus den letzten Jahrzehnten von Imperien bis zu den neuen Kriegen tagesaktuell geworden sind. Außerdem liest er Klassiker der politischen Literatur neu und bringt sie im Lichte unserer Erfahrungen zum Leuchten.

Der Peloponnesische Krieg

Eine seiner Lektüren sollte jede/r, der sich für Politik und Geschichte interessiert, einmal gelesen haben oder immer mal hereinlesen: "Der Peloponnesische Krieg" von Thukydides, mit dem die analytische Geschichtsschreibung begann. Gäbe es dieses Buch nicht, dann würden sich nur wenige Althistoriker mit diesen Ereignissen auseinandersetzen. Heute, wo das Werk mehr wie die "Ilias" oder die "Orestie" gelesen wird, machte Thukydides nach Lane Fox "den Peloponnesischen Krieg zum lehrreichsten Konflikt der Menschheitsgeschichte". Auf der Suche nach den Motiven, die jenseits der Agitation und Propaganda zum Krieg führten, gewann er Erkenntnisse und Einsichten in das Wesen von Kriegen, die variieren, aber immer noch gültig sind wie zur Entstehungszeit Ende des 5. Jahrhunderts.

Münkler geht davon aus, dass sich als neue Weltordnung eine Pentarchie, also eine Welt mit fünf Machtzentren, herausbildet: Die USA und die Europäische Union, sowie Russland, Indien und China. Zwischen Dreißigjährigem Krieg und Ersten Weltkrieg waren Fünf-Mächte-Ordnungen die Regel; besonders deutlich im 19. Jahrhundert.

Bismarck. Sturm über Europa

Eigentlich wollte ich das von mir herausgegebene Buch "Bismarck. Sturm über Europa" meines Vaters Ernst Engelberg ans Ende der Liste stellen, aber die Letzten sind momentan die Ersten – zumindest bei yourbook. Im Bismarck-Geburtsjahr 1815 entstand nach dem Ende der napoleonischen Kriegen eine neue Pentarchie, während seinem Wirken entstand eine andere Fünf-Mächte Situation und im Alter warnte Bismarck vor neuen Veränderungen im Verhältnis zwischen den großen Mächten, die zunehmend ihre Stabilität verloren. Wie sein Antipode Friedrich Engels warnte er davor, dass es – nach einer langen Friedenszeit – wieder zu großen Kriegen kommen wird – bei Beibehaltung der sogenannten "Weltpolitik". Bismarck sprach 1892 von einem Zeitrahmen von 20 Jahren. Im Jahr 1914 begann der Erste Weltkrieg.

Wenn Münkler recht hat, dass wir wieder eine Pentarchie bekommen, ist Bismarcks Wirken tagesaktuell. Hier kann man Glanz und Elend von Fünf-Mächte-Ordnungen im fernen Spiegel sehen.

Von ihrer Hände Arbeit

Natürlich gab es seitdem gravierende Veränderungen. Deshalb, aber auch wegen seiner poetischen und erzählerischen Kraft, empfehle ich John Bergers große, klassisch werdende Trilogie über das Verschwinden der Bauern.

Seit 2007 leben erstmals in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land; die bäuerliche Lebensweise wird zu einer Erscheinung am Rande.

Black Paper

Nach John Berger, der auch ein großer Kunstkritiker war, erneuert jeder originale Künstler eine Tradition, zu der er gehört. Und nicht nur in seinem neuen Buch erneuert Teju Cole die Tradition, die von Walter Benjamin über John Berger bis zu ihm führt.

Sein neues Buch, das auch auf Grundlage alter Kunst, unsere Zeit neu betrachtet, ist sehr zu empfehlen. Es löst ein, was er im ersten Satz verspricht:

Die Essays in diesem Band nehmen die vielfältigen Bruchlinien unserer Zeit aus wechselnder Warte in den Blick. 

Im Dunkeln spielen

In "Black Paper" gibt es nicht nur einen Brief des nigerianisch-amerikanischen Schriftstellers, Fotografen und Kunsthistorikers Teju Cole an den toten John Berger, sondern ebenso tiefgründige Auseinandersetzungen mit der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison. Deren neu edierten Essays zu Rassismus und Kolonialismus sind brandaktuell für das Begreifen unserer Vielfachkrise. Hören wir kurz Toni Morrison zu: 

Und wo wir von dunkel reden. Ihr glaubt wohl, dunkel hätte bloß eine Farbe, aber von wegen. Es gibt fünf oder sechs Arten von Schwarz. Mal wie Samt, mal wie Wolle. Mal einfach leer. Mal wie Finger. Und Schwarz hält nicht etwa still. Es wabert und wechselt von einem Schwarz zum anderen. Von pechschwarz zu reden, ist wie von grün reden. Grün wie? Grün wie meine Flaschen? Grün wie Grashüpfer? Grün wie Gurken, grün wie Salat oder grün wie der Himmel wird, bevor ein Gewitter losbricht? Ungefähr so ist es mit dem Schwarz bei Nacht. Könnte genauso ein Regenbogen sein. Ich habe Schwarz gelernt, und ich habe die Diversität von Schwarzsein gelernt. Schwarz, stellt sich heraus, ist facettenreich und generativ. Es ist umfassend und widerständig. Diejenigen, die Schwarz erst lernen müssen, erweitern seine Bedeutung. Mein Schmerz ist Schwarzer Schmerz, meine Freude ist Schwarze Freude, meine Eigenart ist Schwarz. Pechschwarz spanne ich einen Regenbogen zusammen mit den ganzen anderen black cats. Wer künftig Schwarz lernt, wird auch mich lernen müssen.

Schermanns Augen

Als Steffen Menschings "Schermanns Augen" erschien, kam der epochale Roman nicht mal auf die Longlist des Deutschen Buchpreis. Mittlerweile mutierte dieses Jahrhundertbuch zum Longseller und erhielt nationale wie internationale Preise. Als der Autor 2022 den Berliner Literaturpreis mit besonderer Erwähnung von "Schermanns Augen" erhielt, war seine erste Reaktion auf die Ausweitung der Kriegszone in der Ukraine: 

Ich dachte, ich hätte Vergangenheit rekonstruiert, aber ich habe Zukunft beschrieben.

Für Sinn und Form, der Zeitschrift der Akademie der Künste, durfte ich ein Gespräch mit Steffen Mensching zur Aufnahme in diesen Kreis führen und fragte ihn danach:

Es gab frappierende Ähnlichkeiten und Korrespondenzen. Von den überfüllten Zügen mit Menschen auf der Flucht bis zu den Granatenangriffen. In Lemberg / Lwiw stieg damals wie heute die Bevölkerungszahl aufgrund der Ankommenden. Gespenstisch gleich ist, wie die Sowjets durch das Geheimabkommen mit Deutschland Lemberg ab September 1939 in die Sowjetunion eingliederten, und wie Rußland mit besetzten Gebieten wie der Krim verfährt: sofort werden der Rubel und russisches Recht eingeführt. In Lemberg wurde 1939 Moskauer Zeit eingeführt, was katastrophale Folgen hatte. So mußten viele um sechs Uhr zur Arbeit aufstehen, aber es war eigentlich erst um vier. Es werden gezinkte demokratische Wahlen mit festgelegten Kandidaten durchgeführt. Wer keine Arbeit hat, bekommt keinen Wohnsitz. Im Prozedere gibt es viele Ähnlichkeiten. Mein Buch beginnt 1940: Der Spanische Bürgerkrieg ist verloren. Die Tschechische Republik wird nach dem Münchener Abkommen filetiert. Das war wie die Annektion der Krim. Das Sudetenland ist wie Donezk. Die Westmächte reagieren nicht oder zu schwach. Als Polen angegriffen wird, erklären sie den Krieg, aber kämpfen nicht. Die Engländer tun wenig, die Franzosen nichts. Spanien war wie die Ukraine heute auch keine konsolidierte Demokratie, aber es gab ein gewähltes Parlament. Wer die ideologische Konzeption der Sowjetunion in den dreißiger Jahren bis zum Überfall Deutschlands 1941 betrachtet, vom Spanienkrieg über das Münchener Abkommen bis zur Infiltration der kommunistischen Bewegung, sieht: Sie ist getragen vom Haß auf das demokratische westliche System. Das findet man auch heute wieder. Frankreich und Großbritannien waren schlimmere Feinde als Nazideutschland. Diese Parallele ist in ihrer antizivilisatorischen Ausrichtung erschreckend.

Da bleibt nur noch zu erwähnen, dass bei allem Schrecken es in "Schermanns Augen" zahlreiche lustige Szenen gibt. Immerhin erlangte Steffen Mensching als Clown Bekanntheit.

Judas

Neben dem Krieg in der Ukraine betrifft uns in Europa der Krieg im Nahen Osten. Natürlich gibt es noch keine aktuellen Bücher, aber der Roman "Judas" von Amos Oz, der vor zehn Jahren erschien, zeigt schon die Konfliktlinien, die heute wieder hervortreten. Auf dem Stand neuerer Militärtechniken, wie auch in der Ukraine. 

Neben der brennenden Aktualität, der Auslotung der Beziehungen zwischen Juden und Arabern, enthüllt Amos Oz einen neuen Blick auf das Verhältnis zwische Jesus und Judas.


Planet ohne Visum

Kein Thema trennt so sehr, wie die Ankunft von Migranten und Flüchtlingen. Das war in Zeiten der Monster, wie Gramscis Umbruchszeiten mit Vielfachkrisen bezeichnete, oft so. Nun erschien auch hierzulande "Planet ohne Visum" von Jean Malaquais und erregte zu Recht für Aufsehen. Es ist eines der großen Epen, weil der Autor auf Grundlage von Fluchtgeschichten ein Epochenbild formt. Als der Roman in den Staaten wieder aufgelegt wurde, bemerkte kein Geringerer als Norman Mailer: 

Dieser Roman war seiner Zeit fünfzig Jahre voraus. Es ist Zeit, ihn zu lesen. 

Rund zwanzig Jahre später gibt es eine herausragende Übertragung von Nadine Püschel auf Deutsch zu lesen.

Kapitalismus ohne Demokratie

Mit Herfried Münkler begann dieser Reigen, enden soll er mit dem neuen Werk von Quinn Slobodian. Auch dieses Buch ist kein Schnellschuss, sondern basiert auf langen Forschungsarbeiten. Diesmal geht es um die neueste Entwicklung des sogenannten "Neoliberalismus".

Es gibt verschiedene Definitionen für den Begriff, aber in diesem Buch werden mit der Mont Pèlerin Society (oder verwandten Denkfabriken) assoziierte Personen als Neoliberale bezeichnet.

Unter den Neoliberalen waren Intellektuelle mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen, die jedoch durch die Überzeugung geeint wurden, dass der Kapitalismus im Zeitalter der Massendemokratie vor der Demokratie geschützt werden musste.

Natürlich ist eine neoliberal entfesselte Wirtschaft neben dem "Weltkrieg auf Raten" (Papst Franziskus) eine Hauptursache für die alle anderen Krisen überwölbenden und verstärkenden Klimakatastrophe.

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Zeit der Monster - Bücher, um unsere Vielfachkrise zu begreifen

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