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Gestern & Heute: Woran erkennt man den Vorkrieg? - Hanekes Filme
Dr. phil.
picker für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
schreibt u. a. für die Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) und die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Zuletzt erschien als Hardcover sein literarisches Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Der viel gesehene und häufig ausgezeichnete Film DAS WEISSE BAND (2009), geschrieben und inszeniert von Michael Haneke, ist historisch genau wie aktuell.
Selten ist das frühe 20. Jahrhundert auf dem Lande, also das späte Kaiserreich, so genau gefilmt worden und wird es wohl auch nicht mehr jenseits von Computeranimationen. So konnte u. a. die Filmproduktion die Asphaltierung einer Kopfsteinpflasterstraße in Netzow (Mecklenburg-Vorpommern) für den Dreh verschieben.
Kein nostalgischer Kostümfilm, kein papierender Geschichtsfilm entstand, sondern ein Werk von bestürzender Aktualität, da er in einer Vorkriegszeit Ursachen der kommenden Gewalt zeigt. Der Film spielt 1913 am Vorabend des Ersten Weltkriegs, der oft als Urkastrophe des 20. Jahrhundert gesehen wird.
Haneke bemerkte zu seinem "schönen", grausamen und analytischem Meisterwerk:
Ideologie ist eine verabsolutierte Idee. Überall, wo es Unterdrückung, Demütigung, Unglück und Leid gibt, ist der Boden bereitet für jede Art von Ideologie. Deshalb ist ‚Das weiße Band‘ auch nicht als Film über den deutschen Faschismus zu verstehen. Es geht um ein gesellschaftliches Klima, das den Radikalismus ermöglicht.
Das ist ebenfalls im Vorfeld des neuen Kriegs im Osten zu erkennen, von dem wir nicht wissen, ob wir gerade den Beginn eines Dritten Weltkriegs erleben oder ob es gelingt, weitere Eskalationen zu verhindern. Aber auch ein "konventioneller" Krieg bleibt furchtbar.
Haneke wollte ebenso nicht, dass DAS WEISSE BAND nur als Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gesehen wird. Im Stoff von Gestern sah er Gefahren von Heute, die im letzten Jahrzehnt relevanter geworden sind:
Das eigentliche Thema ist, jedenfalls war das meine Absicht, zu zeigen, wie Menschen, die unter Druck stehen, empfänglich werden für Ideologie, das heißt wie sie sich sogar selber eine Ideologie schaffen; wie sie eine Idee verabsolutieren und dann mit Hilfe dieser verabsolutierten Idee diejenigen, die ihnen die Idee gepredigt haben, aber anders leben als die Idee fordert, bestrafen.
Vor oder mit der Ideologisierung brechen die Stützen der Gesellschaft weg:
ein Baron, der keine Souveränität mehr ausstrahlt, ein Arzt, der seine Tochter missbraucht, und ein Pfarrer, der die Seelen seiner Kinder mit protestantischen Dogmen vergiftet.
Hier gibt's Hintergründe zum gesamten Werk des Ausnahmekünstlers, der zu den wenigen Regisseuren gehört, die den Oscar und zweimal die Goldene Palme von Cannes gewannen. Dieser Dokumentarfilm zum 80. Geburtstag ist noch bis zum 18. April 2022 in der arte-Mediathek.
BENNY'S VIDEO (1992) war erste Film von Michael Haneke, den ich sah. In ihm findet man wichtige Themen, die er in den letzten 30 Jahren entfaltete, schon in konzentrierter und konziser Form. Deshalb ist er wie DAS WEISSE BAND (2009) bis zum 30. April 2022 in der arte-Mediathek.
Dort findet man auch seinen Oscar-Gewinner LIEBE (2012), der weniger politisch-geschichtlich ist, aber der berührt.
Quelle: Michael Haneke u. a. www.arte.tv
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