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Volk und Wirtschaft

Ist die "Industrialisierung" tot oder braucht die Welt mehr davon?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlDonnerstag, 15.02.2024

Der Streit unter Ökonomen und Politikern um die richtige Politik für den Wohlstand der Nationen geht schon länger. Nach dem 2. Weltkrieg und der Entkolonialisierung hat er noch mal Fahrt aufgenommen - oft an den Erfolgen von sich entwickelnden Ländern wie Südkorea, China und den asiatischen Tigern orientiert.

In den 1990er und 2000er Jahren waren die Fronten in der Entwicklungsdebatte ziemlich klar. Auf der einen Seite standen die Neoliberalen, die der Meinung waren, dass Freihandel, geringe Regulierung, umsichtige Makroökonomie sowie eine gute Gesundheitsversorgung und Bildung so ziemlich alles sind, was man braucht. Auf der anderen Seite standen die Industrialisierer, die meinten, der Schlüssel dazu sei, Südkorea nachzueifern und eine Industriepolitik zu betreiben, die auf den Export von Industriegütern ausgerichtet ist. Das letztere Lager war kleiner ……

Noah Smith greift die Diskussion wieder auf, die er noch nicht für entschieden hält. Womit er sicher recht hat. Inzwischen stellt sich auch für die alten Industrienationen die Frage, ob ihr Reichtum durch eine Deindustrialisierung bedroht ist. So fragt die FAZ - "Verliert Deutschland seine Industrie?". Womit aber das verarbeitende Gewerbe gemeint ist. Auf den ersten Blick sieht Deutschland dabei nicht so schlecht aus.

Gemessen an der industriellen Bruttowertschöpfung sei Deutschland das Land, das sich am besten gehalten habe, ….. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung fiel in den Jahren nach der Wiedervereinigung, als im deutschen Osten viele Betriebe dichtmachten. Seit Mitte der Neunzigerjahre aber schwankt diese Kennziffer um 22 Prozent. Erst in den Jahren seit 2018 rutscht sie ein wenig ab. Im Vergleich liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in Deutschland deutlich höher als die 16 Prozent in der Europäischen Union (inklusive Deutschlands) oder die rund 11 Prozent in Frankreich oder in den Vereinigten Staaten. Diese Länder haben bis in die frühen Jahre dieses Jahrhunderts einen großen Deindustrialisierungsschub erlebt, Deutschland aber bislang nicht.

Der FAZ-Autor Patrick Welter zieht daraus den Schluß, das ein hoher Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung eines Landes nicht unbedingt ein Vorteil sein müsse.

Obwohl die industrielle Basis in den Vereinigten Staaten seit vielen Jahren weit geringer ist als in Deutschland, ist der Wohlstand in Amerika – gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Kopf – weit größer als im alten Europa. Die Vermutung, dass die Industrie für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung unverzichtbar ist, wird dadurch widerlegt.

Er übersieht dabei, dass der amerikanische Digitalsektor in diesem Vergleich gar nicht enthalten ist. Aber das Land den globalen Handel mit digitalen Gütern dominiert. Vergleicht man z.B. die jeweiligen Top 10 der börsennotierten Internetunternehmen in den USA, China und Europa nach Marktkapitalisierung (Anwendungssoftware, E-Commerce-Abwicklung, Infrastruktursoftware, Internetbasierte Dienste, Internetmedien), sieht man das die großen amerikanischen Firmen 2022 eine Marktkapitalisierung von fast 4,5 Billionen Euro hatten, China lag immerhin bei etwa 1,2 Billionen. Während Europa mit seinen Digitalunternehmen lediglich auf ca. 0,3 Billionen Euro kam. Die USA haben also für ihr abgewanderte verarbeitende Industrie eine moderne Alternative gefunden. Man sollte daher tiefer bohren. Und so zeigt sich für die Bundesrepublik lt. FAZ:

In wichtigen Bereichen der Industrie ist die Produktion seit dem konjunkturellen Hoch in den Jahren 2017 und 2018 stark gesunken. Besonders betroffen sind die chemische Industrie mit einem Minus von 20 Prozent, die Automobilindustrie mit minus 14 Prozent, die Metallindus­trie mit minus 13 Prozent und der Maschinenbau mit minus 10 Prozent. Zusammen erwirtschaften diese Branchen hierzulande mehr als die Hälfte der Produktion im verarbeitenden Gewerbe. Ihnen ist gemein, dass sie sich seit Jahren schlechter als die Konkurrenz in den anderen Staaten der Europäischen Union entwickelt haben.

Und das leider ohne einen starken Strukturwandel hin zu einer Digitalwirtschaft, mit der sich eine neue Art von Industrialisierung ankündigt, die auf nicht so einfach handelbaren Dienstleistungen basiert. Und die eine andere Industriepolitik bräuchte, jenseits der Regulierung der großen globalen Player.

Wie sieht es nun lt. Noah Smith mit den "Industrialisierungs-Politiken" in den weniger entwickelten Ländern der Welt aus. Die ja einen großen Teil des produzierenden Gewerbes übernommen haben. Wie haben sie dies erreicht - vorrangig "Neoliberal" wie oben beschrieben oder mit Industriepolitik. Oder mit einer Kombination von beiden Strategien? Smith sieht hier auch keine eindeutig klaren Indizien für die eine oder andere Strategie. Das Beispiel der rasanten Industrialisierung Chinas spricht eher für eine Abfolge und Anpassungen:

… seine frühen Erfolge waren vor allem auf neoliberale Reformen zurückzuführen, aber ab Ende der 2000er Jahre wurde eine Reihe industriepolitischer Maßnahmen ergriffen. Es ist immer noch eine offene Frage, wie wichtig - und wie zuverlässig und wie einfach - eine exportorientierte Industriepolitik ist. 

Aber auch zwei der spektakulärsten Entwicklungserfolge seit 1990 - Polen und Malaysia - sind Erfolgsgeschichten , die nur von Südkorea (dem Klassiker der "Entwicklungsdiktatur") und Taiwan und ihren  Export-Produktionsstrategien in den Schatten gestellt werden. Polen und Malaysia sieht Smith in seinem Post "The Developing Country Industrialization series" als

Superstars des verarbeitenden Gewerbes, die in der Wertschöpfungskette stetig nach oben geklettert sind und sich nun an der Schwelle zum Status eines Industrielandes befinden. Und beide haben diesen Erfolg zum Teil dadurch erreicht, dass sie um große Mengen ausländischer Direktinvestitionen geworben haben - eine Idee, die von einigen Befürwortern der Industriepolitik mit Argwohn betrachtet wird, die aber Polen und Malaysia bisher nicht geschadet zu haben scheint. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, ob sie den endgültigen Sprung in die Riege der reichen Länder schaffen können.

Dieser letzten These widerspricht nun der Harvard-Ökonom Dani Rodrik sowie der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz. Diese Rodrik-Stiglitz-These, dass die Tage der Industrialisierung gezählt sind, diskutiert Noah Smith kritisch. Klar ist, dass die Industrialisierungs-Strategien der sich entwickelnden Staaten in das globale Produktions- und Handelsgefüge integriert sind. Als sich, so Rodrik, die verspäteten Entwicklungsländer 

dem Handel öffneten, wurden ihre Produktionssektoren von einem doppelten Schock getroffen. Diejenigen Länder, die keinen großen komparativen Vorteil im verarbeitenden Gewerbe hatten, wurden zu Nettoimporteuren des verarbeitenden Gewerbes, wodurch ein langer Prozess der Importsubstitution umgekehrt wurde. Darüber hinaus "importierten" die Entwicklungsländer die Deindustrialisierung aus den fortgeschrittenen Ländern... Diese Erklärung steht im Einklang mit dem starken Rückgang sowohl der Beschäftigung als auch der Produktionsanteile in den Entwicklungsländern (insbesondere in den Ländern, die sich nicht auf das verarbeitende Gewerbe spezialisiert haben). Sie trägt auch dazu bei, die Tatsache zu erklären, dass die asiatischen Länder, die einen komparativen Vorteil im verarbeitenden Gewerbe haben, von denselben Trends verschont geblieben sind."

Was bedeuten könnte, das diesen Ländern die Industrialisierungsmöglichkeiten früher und auf einem viel niedrigeren Einkommensniveau ausgehen könnten, als den frühen Industrieländer. Wobei nicht die Automatisierung der Schuldige ist, sondern der sich globalisierende Handel.

Rodrik kann damit auch die Deindustrialisierung Afrikas und Lateinamerikas seit den 1960er Jahren erklären:

Die Industrialisierung Asiens hat den größten Teil der Nachfrage der reichen Welt nach Produktionsgütern aufgesaugt, so dass weniger für Afrika und Lateinamerika übrig blieb.
Die Menschen in den reichen Ländern begannen, mehr Dienstleistungen zu kaufen, und ihre Nachfrage nach materiellen Gütern kam zum Erliegen, was insgesamt eine geringere weltweite Nachfrage nach Industrieerzeugnissen bedeutet.

Sollte das stimmen,  könnten sich Afrika und Lateinamerika nicht die gleiche Weise industrialisieren und modernisieren wie die schon früher gestarteten und erfolgreichen Länder. Smith sieht das nicht so pessimistisch. Ihm sind die Thesen und Alternativen von Rodrik und Stiglitz zu allgemein und zu spekulativ.

Rodrik und Stiglitz sprechen sehr allgemein über Dinge wie "strategischen Dialog", "politische Koordinierung" und "Institutionen" zur Unterstützung einer neuen Art von Industriepolitik, die sich auf nicht handelbare Dienstleistungen konzentriert. Aber das Bild ist sehr vage. Im Gegensatz dazu wissen die Länder inzwischen ziemlich genau, wie sie den Export von Industrieerzeugnissen fördern können.

Denn die Länder, die sich gerade jetzt schnell entwickeln, haben gerade mit einer ziemlich traditionellen Strategie der Industrialisierung Erfolg. 

Vietnam ist ein gutes Beispiel, aber mein Lieblingsbeispiel ist Bangladesch. In den letzten Jahrzehnten hat Bangladesch einen der reibungslosesten Wachstumspfade von allen Ländern hinter sich. Es ist immer noch arm und wächst nicht so schnell wie China, aber es hat sein Pro-Kopf-BIP seit 1995 verdreifacht und dabei große Fortschritte bei der Bekämpfung der absoluten Armut gemacht

Aber auch Indonesien scheint mir lt. NZZ ein gutes Beispiel zu sein. Die dortige Wirtschaftspolitik ruht demnach auf drei Säulen:

  • ausländische Investoren anlocken und neue Jobs schaffen
  • die Wertschöpfung vom Abbau des Rohstoffs Nickel bis zum fertigen Endprodukt im Land zu halten, um den Export höherwertiger Produkte zu fördern
  • Ausbau der Infrastruktur

Indonesien ist damit eines der am schnellsten wachsenden Schwellenländer geworden. 

Die Ökonomen der Denkfabrik Capital Economics rechnen damit, dass Indonesien 2050 die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt sein wird. 2022 belegte das südostasiatische Land in dem Ranking noch den 16. Platz.

Insofern können wohl Ökonomen nur bedingt die richtigen Strategien für reale Ökonomien vorgeben. Es ist und bleibt immer ein konkreter Prozess von Versuch und Irrtum - probieren geht über studieren. Aber man sollte dabei die Daten und theoretischen Diskussionen kennen. Nicht der Wissenschaft folgen, sie als Werkzeug nutzen ….

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