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Volk und Wirtschaft

Die Krise unserer Gesellschaft, eine Krise der Großstädte?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlDonnerstag, 01.02.2024

Dankwart Guratzsch, ein deutscher Journalist und Architekturkritiker, offenbar auch ein konservativer Kritiker der architektonischen Moderne (geboren 1939 in Dresden), schreibt in der WELT über die Krise unserer Städte als Symptom der Gesellschaftskrise. Interessant ist der mit Zahlen hinterlegte große historische Bogen, den er schlägt.  Leider steht dieser Artikel hinter dem Paywall. Ich werde mich bemühen, die wesentlichen Aussagen heraus zu destillieren. Sein Ausgangspunkt:

Noch nie außer nach den beiden Weltkriegen befand sich Deutschland in einem so desolaten, reparaturbedürftigen und gleichzeitig schuldenbelasteten Zustand wie heute. Noch nie arbeiteten die großen Staatsbetriebe von der Post bis zur Telekom, von der (zurzeit bestreikten) Bundesbahn bis zum Verkehrswegebau, vom Schulwesen bis zu den Universitäten so ineffektiv und störanfällig – vom desaströsen Zustand der Streitkräfte und der Energieversorgung, von der Flickschusterei bei der Integration der Flüchtlinge und im Wohnungsbau ganz zu schweigen.

Die Lebenswelten der Bürger verändern sich schnell, es scheint vielen, "als wanke der Boden unter den Füßen". Und dieser Umsturz der Lebenswelten und Empfindungen trifft heute auf einen Staat (der scheinbar oder real) hilflos und überfordert ist. Wie stark die Verunsicherung der Bürger ist, zeigt u.a. eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach, der «Sicherheitsreport 2024»Die tiefe des Umbruchs und der Probleme lassen sich empirisch zeigen:
Mit 84 Millionen Einwohnern hat Deutschland heute die höchste Einwohnerzahl seiner Geschichte – und klagt über 55000 offene Stellen, die aus diesem Pool nicht besetzt werden können. Der Bevölkerungszuwachs – 20 Millionen in hundert Jahren: 1925 zählte das Deutsche Reich rund 63 Millionen Einwohner – erlangt noch eine ganz andere Größenordnung, wenn man in Rechnung stellt, dass das Land im gleichen Zeitraum 25 Prozent seiner Landfläche verloren hat. Aber die Ungleichgewichte sind größer geworden. In derselben Zeit ist die Zahl bäuerlicher Betriebe von 3,7 Millionen auf 266.000 gesunken, hat sich die Zahl der im Dienstleistungsgewerbe Beschäftigten von 13 auf 34 Millionen vermehrt, die der Studenten von 120.000 (1913) auf drei Millionen (2019). Deutschland zählt zu den am dichtesten besiedelten Ländern der Welt. Etwa gleich geblieben ist nur die Zahl der Industriebeschäftigten (9,5/10,9 Millionen) und die der Handwerker (5,7/5.4 Millionen), was angesichts der Bevölkerungszunahme (anteilig - T.W.) eine Schrumpfung bedeutet.

Ich würde das zwar nicht als Ungleichgewichte bezeichnen. Es sind Entwicklungen, Veränderungsprozesse. Größere Gesellschaften befinden sich eigentlich nie im Gleichgewicht, immer im Fluß. Diese Verschiebungen gehen aktuell wieder einher mit einer beachtlichen Migration, wodurch besonders in den Städte ein enormer Anpassungsdruck entsteht. Folgt man dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), sind daher Städte die eigentlichen Zentren der Entwicklung, dort treffen die Widersprüche besonders unmittelbar auf die Bevölkerung:

Hier sind es die Migranten, die für die stärksten Zuwächse sorgen. Danach ist die Bevölkerung in allen 55 untersuchten Städten außer Gelsenkirchen in zehn Jahren deutlich gewachsen, durchschnittlich um 10 Prozent (die Jahre nach der Coronakrise sind noch nicht erfasst), am stärksten in Leipzig (17,8), Potsdam (16,5), Offenbach (15,5) und Frankfurt am Main (13 Prozent). Das Schlusslicht bildet das Ruhrgebiet. Aufschlussreich ist die Aufschlüsselung nach Altersklassen. Den stärksten Zuwachs verzeichnen die über 85-jährigen und die unter Sechsjährigen, wobei sich der Zuwachs der Jüngsten auf die Migrantenfamilien beschränkt. Die mit Abstand höchsten Zuwanderungsgewinne verzeichnen die sieben größten Großstädte. 

Solche Wachstumsprozesse, Verschiebungen oder Umschichtungen sind historisch nicht neu. Schon im deutschen Kaiserreich sprach man von einer "Bevölkerungsexplosion“ mit dem Focus auf die großen Städte.

Ihre Einwohnerzahl vermehrte sich in nur 60 Jahren um das Fünf- bis Siebenfache – eine Umschichtung, zu der der heutige Wandel der Großstädte wie ein Miniaturereignis erscheint. Dabei machte schon damals die Zuwanderung den größten Faktor aus. Die Industrialisierung hatte Menschenmassen in Bewegung gesetzt. Ganze Landstriche Deutschlands begannen sich zu entleeren, vor allem im agrarischen Osten. 1885 – 1890 ließen sich 640.000 Menschen (das entsprach 75 Prozent des Geburtenüberschusses) davon mitreißen, bis zum Ersten Weltkrieg mehr als zwei Millionen, hauptsächlich Landarbeiter und Kleinbauern aus Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien.

Dieser Umschichtungsprozess übertraf also zahlenmäßig den heutigen um ein Mehrfaches. Das die Wandernden damals fast ausschließlich aus demselben Kulturkreis kamen hat sicher vieles vereinfacht. Trotzdem war es eine gewaltige Herausforderung an jeden einzelnen und an die Gesellschaft mit ihren Institutionen sowie Infrastrukturen. Wie heute verließen die Zuwanderer 

ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben und sammelten sich dort, wo Arbeitskräfte willkommen waren und am dringendsten gebraucht wurden: in den Industriezentren und Großstädten. Wir sehen hier die weltweite Migrationsbewegung unserer Zeit vorweggenommen. Die Logik ist heute dieselbe wie damals. Wenn die Maschinen nicht zu uns kommen, kommen wir zu ihnen. Noch vor 1900 kippten die Bevölkerungsmehrheiten. Die industriell Erwerbstätigen majorisierten mit 50,9 Prozent alle anderen großstädtischen Berufssparten, drei von vier Großstädten des Reiches waren direkt oder indirekt abhängig von der Industrie. Es gab also keinen Zweifel: Die Entwicklung der Großstadt war, …. „ursächlich auf das engste mit der Entfaltung des fabrikmäßigen Großbetriebes verknüpft“.

Wobei mit steigendem Anteil der städtischen Neubürger der Anteil der Stammbürger zurückging. So war dann zwar bereits jeder sechste Deutsche Großstädter, aber nur jeder zweite davon war in der Großstadt geboren. 

Aufgeschlüsselt auf ausgewählte Städte zählte etwa München 36 Prozent Neubürger, Dresden 38 Prozent, Berlin 40,7 Prozent, die Ruhrgebietsstadt Barmen 61 Prozent. …… Was wir heute erleben, unterscheidet sich vom großen Gesellschaftsumbau der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg in einem wesentlichen Punkt. Der Ausländeranteil unter den Zuwanderern der Großstädte war deutlich kleiner. In Berlin erreichte er gerade einmal zwei Prozent.

Laut der Studie des BBSR lebten 2021 in den untersuchten 55 Städten 4,6 Mio. Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, ein Ausländeranteil (Zuwanderer mit ausländischem Pass) von 20,2 Prozent. Verglichen mit heute betrug der Anteil der Ausländer um 1900 also ein Zehntel davon. Wie die Zahlen des Statistischen Bundesamtes klar machen, lebten in Deutschland 2023 23,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, 

was einem Gesamtanteil an der deutschen Bevölkerung von 28,1 Prozent entspricht. Auch hier ist der Anteil in den größten Städten am höchsten: in Berlin liegt er bei 35,5 Prozent, in Frankfurt, Stuttgart, München bei über 40 Prozent. Der gesamte Bevölkerungszuwachs Deutschlands seit hundert Jahren entspricht also ziemlich exakt der Gesamtzahl zugewanderter Ausländer, woraus sich Anforderungen an die Integration ergeben, die geschichtlich beispiellos sind.

Dazu kommt, dass es heute weniger die Maschinen sind, die die Arbeit schaffen. Die Großfabrik verschwindet eher zugunsten des Dienstleistungssektors. Auch andere historische Motoren der Stadtentwicklung erlahmen - Handel, Gewerbe und Verkehr.

Das Gewerbe ist aufs flache Land emigriert, der Handel in den Onlinehandel. Ganze Geschäftskomplexe, Kaufhäuser, Passagen und Einkaufsstraßen fallen brach. Die Zahl der Büroarbeitsplätze hat sich um 30 Prozent verringert. Das Verkehrswegenetz ist vielfach verschlissen. Der Großstadtverkehr ächzt unter Klimadiktaten und erstickt an sich selbst.

Der Städte- und Gemeindebund geht inzwischen von einem Investitionsstau im Bereich der kommunalen Infrastruktur von 166 Milliarden Euro aus. Wenn da jetzt nicht gegengesteuert wird, dann "sind wir gerade bei den Straßen und Brücken in der grundhaften Sanierung". Dass bedeutet, bald kann man diese Infrastrukturen nur noch abreißen und neu bauen. Wodurch die Kosten noch höher werden.

Die aktuelle Bevölkerungsentwicklung ist also verwoben mit einer tiefgreifenden Krise des „Systems“ Großstadt. Dankwart Guratzsch diagnostiziert dieser Lebensform, der Stadt des Industriezeitalters, eine fundamentale Funktionskrise. Das ist natürlich nicht der Untergang des Abendlandes, aber eine riesige Herausforderung. Nicht nur die Bürger der Großstädte stehen unter Anpassungsdruck. Wie etwa die Bauernproteste zeigen, gilt das auch für die Landbevölkerung. Leben doch mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland in ländlichen Regionen, in kleineren Städten oder Gemeinden. Und natürlich müssen sich besonders die Politik und Verwaltungen dem Veränderungsdruck stellen. Es gilt für alle:
Mit der Bequemlichkeit vergangener Jahre ist es vorbei. Sollte sich die Demokratie als unfähig erweisen, dem verfetteten Gemeinwesen eine Rosskur an Haupt und Gliedern zu verschreiben, wäre das ihr Ende.

Wir schaffen das (wahrscheinlich), müssen uns allerdings der Größe der Aufgabe bewußt werden.

Die Krise unserer Gesellschaft, eine Krise der Großstädte?
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Kommentare 36
  1. Philip G
    Philip G · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

    Ich bekomme von diesem piq so gar keine Lust, diesen Artikel zu lesen oder gar zu bezahlen. Ich finde auch nicht, dass er die Argumente des piqers unterstützt.

    1. Großstädte ächzen sicher nicht unter Klimadiktaten, sondern unter dem Gegenteil, vor allem den Autos, und einer jahrelangen Vernachlässigung der Infrastruktur, insbesondere der des Umweltverbunds. Die Lösung ist nicht der Abbau des vom Autor „verfetteten Gemeinwesens“, sondern der Abbau des vom piqers vorgebrachten Investitionsrückstaus. Was bedeutet, mehr Geld ins Gemeinwesen zu stecken.

    2. Dann ist da dieser eigentlich nicht mehr unterschwellige Rassismus, der zwischen den Zeilen hervortrieft. Glaubt der Autor wirklich, Einwanderer aus Schlesien (nicht unbedingt deutschsprachig) seien im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende als „aus dem selben Kulturkreis“ wahrgenommen worden, nur weil sie eine ähnliche Hautfarbe hatten? Wikipedia hat sogar einen Artikel über „Ruhrpolen“: „ Die deutsche Arbeiterschaft nahm die „Ruhrpolen“ als fremd wahr wegen ihrer zum Teil streng katholischen Konfession und ihrer ungewohnten Sprache. Folglich bildeten die Polen ein eigenständiges Arbeitermilieu in den Städten des Ruhrgebiets.“

    3. Die „Landbevölkerung“ (hier definiert als Hälfte der Bevölkerung, also 40 Millionen) repräsentiert zu sehen durch die Bauern (wie geschrieben, 266.000 Betriebe), ist sehr weit hergeholt. Das Argument zieht so gar nicht.

    4. Beschäftigungszahlen über 100 Jahre zu vergleichen, macht sehr wenig Sinn. Globalisierung und technischen Fortschritt, und vor allem eine riesige Steigerung des allgemeinen Wohlstands dabei komplett unerwähnt zu lassen (oder wurde es hier nur nicht zitiert), kommt mir wie absichtliche Verzerrung vor.

    5. Im selben Text zu sagen, die Universitäten wären so ineffektiv wie nie, und die extrem hohen Studierendenzahlen zu nennen, ist mindestens widersprüchlich. Gerade die Universitäten sind ein Aushängeschild des Landes, und übrigens auch Vorreiter bei allen möglichen Digitalisierungsthemen. Da braucht man nun wirklich keine Krise herbeizureden.

    Mein Eindruck: „mit Zahlen hinterlegt“ mag der Artikel sein, das heißt aber noch lange nicht, dass diese Zahlen nicht nur zusammengeklaubt wurden, um eine sehr lückenhafte Argumentation zu unterfüttern.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      Erst mal danke für die kritischen Kommentare. Ich denke, man sollte von einem Artikel keine allumfassende und lückenlos belegte Argumentation erwarten. Das kann man in der Diskussion dann vertiefen.

      Man kann natürlich darüber streiten ob die Herausforderung durch den Klimawandel mehr oder weniger groß sind als die durch Autos. Die auch nicht das Gegenteil zu den "Klimadiktaten" sind. Konkret steht aber dort: "Der Großstadtverkehr ächzt unter Klimadiktaten und erstickt an sich selbst." Das impliziert zwei Dinge, der Klimawandel diktiert das Aus für den Verbrenner und die schiere Masse der Autos erstickt den Verkehr. Das ist die Herausforderung die dort vor uns steht. Was ist daran falsch?

      Der Artikel zeigt ja explizit, dass damals die Zuwanderung in die großen Städte vornehmlich aus dem weiteren Umland erfolgte - also aus dem gleichen oder doch ähnlichen Kulturkreis und Sprachen/Dialekten. Die von ihnen erwähnten Schlesier waren i.d.R. zweisprachig. Der Anteil aus dem Ausland war im 19.Jh. wesentlich geringer als heute (ein Zehntel). Was Kultur mit Hautfarbe oder Rasse bzw. Rassismus zu tun hat, verstehe ich nicht. Da die Hautfarbe reinzubringen finde ich nun wieder rassistisch. Natürlich ist auch die Zuwanderung nicht nur aus Polen mit Reibungen verlaufen. Auch in ähnlicheren Kulturkreisen gibt es kulturelle Unterschiede (zw. Stadt und Land etwa) und damit Vorbehalte. Das weiß jeder, der mal innerhalb Deutschlands gewandert ist. Keiner hat behauptet, gleicher Kulturkreis bedeutet völlige Identität bzw. Reibungslosigkeit. Das ist ihre Erfindung und Unterstellung. Weder ist per se gleicher Kulturkreis problemlos noch ist andere Kultur unüberbrückbar. Das ist unterstelltes schwarz/weiß-Denken. In der Realität gibt es zwischen Kulturen sehr differenzierte, größere oder kleinere Brücken und Hindernisse. Das es auch im 19.Jh. eine große Herausforderung war wird explizit erwähnt. Eine gewisse Berechtigung an der Kritik sehe ich darin, dass der Begriff „Kulturkreis" nicht definiert wurde. Und es wäre natürlich interessant diese Herausforderungen vertieft zu analysieren. Sprengt allerdings den Rahmen.

      Genau wie erwähnt wird, das die Leute in die Städte ein besseres Leben suchten. Das der Lebensstandard mit dem Industrialisierungsprozess gewaltig gestiegen ist, versteht sich in diesem Zusammenhang m.E. von selbst. Insofern fand es der Autor des Artikels (und ich auch) wohl nicht explizit erwähnenswert. Sorry.

      Bei den vergleichen der "Beschäftigungszahlen" zahlen geht es letztendlich um die Beschäftigten in den Sektoren der Volkswirtschaft und um die Verteilung zw. Stadt und Land. Wie sie diese historischen quantitativen Dunkel /qualitativen Verschiebungen dort ohne solche Zahlen über 100 Jahre verdeutlichen wollen, das verstehe ich nicht.

      Was die Universitäten betrifft - ihr Nationalstolz in allen Ehren - aber in den internationalen Rankings stehen wir wirklich nicht mehr so gut da. Das war vor 100 Jahren komplett anders. Das man in D halbwegs gut und besonders billig studieren kann, das stimmt. Und das zieht Studenten an. Quantität ist aber nicht gleich Qualität. Man kann und muß auch darüber streiten ob die hohe Studierendenquote gut ist für unser Gemeinwesen. Wir brauchen eigentlich eher viele Handwerker, Facharbeiter, Meister, Pflegende etc.. Wenn heute mehr als 50% eines Jahrganges ein Studium beginnt, dann ist dies sicher ein Problem. Zumal unsere Hochschulen auf diese Zahlen gar nicht ausgerichtet sind.

    2. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl ich möchte nur auf einen der wichtigen Aspekte kurz eingehen: ich glaube wir unterschätzen rückwirkend den Kulturschock, den die vielen Zuwanderer vom Land und aus anderssprachigen deutschen Gebieten mit zt auch mehrheitlich anderer Religion ausging, als diese in die großen Städten kamen. Sie wurden als fremd, als ungebildet angesehen und ihnen wurde u.a. vorgeworfen, absichtlich oder aus Dummheit viele Kinder in die Welt zusetzen, um die einhemische kultur zu unterwandern bzw. dem Staat auf der tasche zu liegen etc. Das dürfte uns bekannt vorkommen.
      allerdings zeigte sich dann schnell, was sich immer zeigt: mehr Einkommen und mehr Sicherheit führte dazu, dass schon eine Generation später darüber geklagt wurde, dass zu wenig Kinder geboren würden etc.
      Und das war um die Jahrhundertwende.
      Meine Mutter hat noch in ihrer Kindheit - also kurz nach dem zweiten Weltkrieg - erfahren, wie sehr "Deutsche" aus dem ach so kulturgleichen Gebieten wie Siebenbürgen, Ostpreußen etc. als fremde Zumutung empfangen wurden und ausgegrenzt. Rückwirken dann heißt es heute dann oft von den alten Verwandten - ach ja, die waren ja wenigstens Deutsche...
      wir sind heute halt ganz andere ...Fremdheiten... gewohnt.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Cornelia Gliem Ich denke auch, dass es damals erst mal einen Kulturschock gegeben hat. Vorurteile gibt es immer. Siehe Ossi/Wessi. Das widerspricht aber nicht der These, das der Kulturkreis ähnlicher war und die Integration vergleichsweise erleichtert hat. Die Gesamtheit der Lebenswelten, Sprache und Bildungsnähe waren doch ähnlicher.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Cornelia Gliem Das wir Fremdheit gewohnt sind (besonders in westlichen Großstädten) besagt doch nichts darüber, wie erfolgreich sich verschiedene Einwanderergruppen jeweils integrieren und integrieren lassen. Da muß man schon jedesmal genauer hinschauen. Es wäre ja schön, wenn das alles völlig unabhängig von der Herkunftskultur wäre. Und nur von der großherzigen Toleranz der Mehrheitsgesellschaften abhinge. Beides ist aber nicht so sondern recht komplex.

    5. Philip G
      Philip G · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Danke für die Rückmeldung!

      Ich hab die Zitate des Artikels mit „Welt“-Brille gelesen. Und da bedeutet „Klimadiktat“ Gängelei durch unnötige Verbote, weil Klimawandel kein Problem sei; und „Menschen aus demselben Kulturkreis“ bedeutet „weiße Europäer“. Vielleicht tue ich Herrn Guratzsch damit unrecht, aber wohlwollende Interpretationen passen meiner Meinung nach nicht in das Springer-Welt-Bild ;)

      Und nochmal zu den Unis: Diese Rankings werden tatsächlich stark kritisiert. Sie sind sehr auf die Randbedingungen amerikanischer Unis ausgerichtet. Ich arbeite in der Forschung und nehme die deutsche Wissenschaft international als sehr hoch geschätzt wahr. Natürlich hat Deutschland nicht mehr das Standing der 20er und Deutsch ist nicht mehr internationale Wissenschaftssprache, aber das haben die Nazis zerstört.

      Wir sind ein Hochlohnland, unser wichtigstes Kapital ist die gute Ausbildung. Natürlich gibt es da haufenweise Problem, und ja, wir brauchen die gelisteten Berufe, aber wir brauchen auch eine ganze Menge studierte Menschen - was man an den Statistiken zu Arbeitslosigkeit unter Akademikern sehen kann. Studierendenzahlen zu verringern ist keinesfalls eine Lösung. Dass die Unis hier und da fehlende Kapazitäten haben, spricht übrigens auch nicht für einen Abbau des Gemeinwesens, sondern wieder eher für höhere Investitionen.

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Philip G Also auch mit "WELT-Brille" wird der Klimawandel nicht geleugnet, bedeutet Kulturkreis nicht weiße Europäer. Allerdings ist dort der nationale deutsche Weg nicht der allein selig machende. Das mit dem Springer Weltbild ist wohl überhaupt etwas Schubladen-Denken? 😏

      Ich war ja selbst auch in der Forschungsförderung tätig. Die Verbundprojekte liefen alle in Kooperation aus Unis, Forschung und Unternehmen. Die Diskussionen über die Leistungsfähigkeit der Hochschulen kenne ich ziemlich genau. Auch die über Unterausstattung und verfallende Infrastrukturen, die Qualität der Absolventen etc.. Sicher haben wir auch noch sehr gute Universitäten und Institute.

      Was die Studierendenzahlen betrifft - mehr als 100% eines Jahrganges können nicht studieren, bei 55% sind wir jetzt. Und ich höre, dass viele Studienanfänger den Anforderungen gar nicht gewachsen sind. Während Handwerksbetriebe über fehlenden Nachwuchs klagen. Gute Ausbildung fängt eben nicht erst mit dem Bachelor oder darüber an. Also ganz so simpel ist das Problem nicht.

    7. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 3 Monaten

      das "verfettete Gemeinwesen" ist mir auch sehr negativ aufgefallen... leider erwarte ich von der WELT fast nichts sachliches mehr.

    8. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Cornelia Gliem Ich erwarte eigentlich, dass der fette bürokratische Überbau, die Überregulierung, die idiotischen Vorschriften für alles und jedes reduziert und vereinfacht werden. Dann geht es auch schneller mit der Sanierung und Modernisierung. Ich verstehe gar nicht, dass so viele hier verbissen solche nationalen "Errungenschaften" verteidigen. Wenn ich durch Deutschland fahre, dann sehe ich viel Stillstand. Aber jeder konkrete Schritt erfordert großen bürokratischen Aufwand. Ist das zu Verteidigen besonders kritisch und progressiv?

    9. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl das Problem ist ja auch nicht das "verfettet", sondern das "Gemeinwesen".... Stünde da "verfette Bürokratie" oder "verfettete Überregulierung" so wäre das ja was anderes oder?

    10. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Marcus von Jordan Ich denke ein demokratisches Gemeinwesen mit einer verfetteten Bürokratie und bürokratischer Überregulierung ist selbst verfettet. Sonst hätte es das nicht. Zumal die Beamtenpensionen zunehmend zur Belastung werden. Es sei denn, die Bürokratie lebt auf Kosten des Gemeinwesen, beherrscht es und erfüllt ihren Zweck nicht. Wobei ein demokratisches Gemeinwesen, dass dies nicht ändert dann wohl auch satt und träge oder feige ist. Das ist doch hier wieder so ein Streit um Begriffe. Nicht um reale Probleme.

    11. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl sag ich doch... der Begriff machts. "Gemeinwesen" ist kein genau definierter solcher. Aber "verfettetes Gemeinwesen" bei Springer löst halt was aus. Bei mir auch. Klingt halt absehbar nach "der Sozialstaat" ist schuld und muss reduziert werden" und nicht nach "Bürokratie muss weg und toxische Förderung durch zB. überbordenden Lobbyismus".

    12. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Marcus von Jordan Nein, nein, der Sozialstaat ist natürlich heilig und darf nur wachsen.

    13. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl jetzt ignorier ich einfach mal deine Ironie und tue so, als ob du eingelenkt hättest... nur fürs Gefühl :)

    14. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Marcus von Jordan Guter Abschluß …. ;-)

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 3 Monaten

    Ergänzend, antineoliberal und dadurch viel, viel besser:
    https://www.suhrkamp.d...

    "Dass Städte politische Räume sind, verrät bereits die Herkunft des Wortes Politik vom griechischen polis. In Städten wird regiert und demonstriert, zuletzt in Kairo oder New York. In Städte wird aber auch investiert, Geld verwandelt sich in Häuser, in Wolkenkratzer und Vorortsiedlungen. Und schließlich ist Stadtplanung spätestens seit dem Umbau von Paris durch Georges-Eugènes Haussmann immer zugleich ein Instrument der politischen Kontrolle. All diesen Themen geht David Harvey in Rebellische Städte nach. Er befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Hochhausboom und Wirtschaftskrise, mit dem rasanten Wachstum chinesischer Städte und erkundet das emanzipatorische Potenzial urbaner Protestbewegungen wie »Occupy Wall Street« und »Recht auf Stadt«."

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      Danke, klingt interessant. Aber was hat "der Neoliberalismus" konkret damit zu tun, dass die Bundesrepublik, genau wie die DDR/RGW, systematisch seine Infrastrukturen vernachlässigt hat? Zugunsten der Sozialausgaben und dem privaten Konsum.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Bei der DDR war es der wirtschaftliche Niedergang.

      Bei der Bundesrepublik war, ist es vorrangig der Neoliberalismus. Früher war z. B. die Bundesbahn ein Staatsbetrieb mit Beamtenstatus, die Beschäftigten verdienten gut und durften nicht streiken. Beim versuchten Börsengang durch die neoliberale Gestalt Mehdorn wurde alles privatisiert, Strecken stillgelegt und die Infrastruktur vernachlässigt.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Achim Engelberg Ja, die DDR, der ganze Ostblock war ein Beispiel, wie eine Staatswirtschaft zum wirtschaftlichen Niedergang führt.

      Die Bundesbahn ist auch heute noch in ihrer Form als AG zu 100% Staatseigentum. Und früher war es wirtschaftlich ein Fass ohne Boden für den Staat. Was verschiedene Ursachen hatte. Deshalb hat man versucht mehr Effizienz in das Unternehmen zu bringen. Was sicher schief gegangen ist. Wie so viele deutsche Staatsaktionen. Aber "Neoliberal" war da nichts.

      Die Bundesrepublik ist schon lange nicht mehr im wirtschaftlichen Aufwind. Trotz oder wegen steigender staatlicher Einflußnahme und Staatsquote? Und wir ignorieren heute wie in der DDR oft ziemlich konsequent unsere wirtschaftlichen Probleme bei Sozialausgaben, Infrastrukturen, globaler Arbeitsteilung und Industrie. Natürlich nicht so flächendeckend wie in der Diktatur ….

    4. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Seit 1994 ist die Bahn eine Aktiengesellschaft und die Angestellten sind keine Beamten mehr.
      https://de.wikipedia.o...
      Dadurch begannen harte Arbeitskämpfe. Der letzte Streik kostete wahrscheinlich rund eine Milliarde.

      Leider kann man nicht diskutieren, wenn man das nicht als Teil der neoliberalen Zerstörungen betrachtet.

      In Europa begann die Katastrophe in Großbritannien. Auf einmal gab es Kommunen, die nicht mehr angefahren wurden, die Züge wurden unpünktlicher. Mit der DDR dagegen hat das nichts zu.

    5. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Achim Engelberg Ich dachte immer Neoliberalismus heißt Privatisierung. Es wurde bei der Bahn die Organisationsstrukturen geändert und eine wirtschaftliche Rechnungsführung eingeführt. Die Privatisierung hat es bei der Bahn nicht gegeben. Die Aktien gehören der Bundesrepublik. Ähnlich der Wismut AG in der DDR/UdSSR ist der Staat Eigentümer. Aber wahrscheinlich war das damals auch neoliberal? Streiken war ja ebenfalls verboten. Zu glauben, eine Gesellschaft kommt mit Beamten, die nicht streiken dürfen und mit Institutionen, deren Kosten, Leistungen und Effizienz egal sind, zu Wohlstand, der muß den Sozialismus nur noch mal wiederholen. Sicher müssen Staaten nicht alle ihre Strukturen nach unternehmerischen Prinzipien führen. Das macht in weiten Bereichen keinen Sinn - Bildung, Verwaltung, Verteidigung. Wobei allerdings auch da Kosten und Nutzen zu beachten wären. Aber gerade bei Bereichen wie Energieversorgung, Verkehr auf Beamtenapparate und Kameralistik zu setzen, dass hat sich nicht bewährt.

      Was nicht heißen soll, der Staat könne prinzipiell nie gut wirtschaften. In der Schweiz klappt das ja wie etwa die Schweizerische Bundesbahnen AG (SBB) zeigt oft recht gut. Und auch dort ist es eine Aktiengesellschaft, nach unternehmerischen Gesichtspunkten geführt. Insgesamt aber ist die Scheizer Staatsquote mit 35 % viel niedriger. Was wiederum zeigt, das möglichst hohe Anteile des BIP beim Staat nicht zwangsläufig Wohlstand generieren. Letztendlich wäre es egal, wem die Wirtschaftseinheiten gehören, wenn sie effizent funktionieren.

      Und noch mal, wenn man für alle Probleme unserer Gesellschaft nur eine einzige, recht simple Erklärung hat, dann erklärt man letztlich gar nichts. Man muß schon sehr viel differenzierter analysieren.

    6. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Die Schwächung der Bahn erfolgte bei den Bahnprivatisierungsversuchen:
      https://de.wikipedia.o...

      Ja, es gibt viele Ursachen, aber der Neoliberalismus ist für unsere Zeit zentral. Natürlich muss nicht nur die neoliberale Phase beendet werden, sondern der Kapitalismus insgesamt, der offensichtlich den Planeten und damit die Menschen zerstört.

      Ohne die Krise des Fordismus in den 1970er Jahren wäre die diktaturaffinen Neoliberalen niemals an die Macht gekommen.

      Nein, Neoliberalismus ist nicht nur Privatisierung, sonst wäre jede Phase der kapitalistischen Produktion neoliberal.

    7. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Achim Engelberg Die Bahnen waren schon vor der "Privatisierung" schwach. Die ja letztendlich meist keine wirklichen Privatisierungen waren. Diese Strukturreformen waren ja der Versuch, die ewig defizitären Strukturen entweder loszuwerden (was nicht gelang) oder effizienter zu machen. Was auch oft nicht sehr erfolgreich war. Egal ob im diktaturaffinen Sozialismus oder im Kapitalismus. Das Tatcher diktaturaffin war, das ist mir auch neu.

      Und mich würde interessieren, wodurch der Kapitalismus ersetzt werden soll?

    8. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Geb mal, um nur ein Beispiel zu nennen, Thatcher + Pinochet ein.

      Wodurch der Kapitalismus ersetzt wird, weiß ich nicht. In der Zeit der Renaissance wussten die Menschen auch nicht, dass sie die Grundlagen für den Kapitalismus legen. Die Klügsten wussten aber, dass die Welt nach den Katastrophen 14. Jahrhundert sich ändern muss.

      Die Alternative zu einem nicht überwundenen Kapitalismus benennt Hobsbawm im letzten Wort seines ZEITALTER DER EXTREME:

      Finsternis.

    9. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Achim Engelberg Na ja, das kommt immer wieder. Weil Chile unter Pinochet die massiven Verstaatlichung der Ära Allende rückgängig gemacht hat ist nun "der Neoliberalismus" grundsätzlich diktaturaffin? Und Tatcher war weder eine Diktatorin noch wollte sie einen schwachen und kleinen Staat. Was sie nicht wollte, ewig defizitäre Staatsbetriebe zu subventionieren. Allerdings hat es GB auch danach nicht geschafft seine Industrie wieder stark zu machen. Das ist richtig.

      Habsbawm war ein großer Historiker. Nur seine Prognosen waren nicht sehr treffsicher. Und natürlich muß und wird sich die Welt ändern. Aber wenn ich die Allianz der nicht-kapitalistischen Diktaturen, ihrem nicht wirklich erreichten Kapitalismus, so sehe, von Nordkorea über Iran bis Rußland - dann hoffe ich doch das Europas Demokratien mit ihren kapitalistischen Wirtschaft die überwinden. Auch zusammen mit den USA hoffe ich. Aber möglichst ohne Trump. China ist ja auch so ein Mischwesen - teils privatkapitalistisch, teils im "Eigentum" der roten Erbeliten. Ich glaube auch hier treffen die Begriffe wie Kapitalismus nur noch schlecht die Realität.

    10. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Achim Engelberg Soviel zur tollen staatlichen DB vor der Umstrukturierung:

      "Obwohl die Bahn in den drei westlichen Besatzungszonen (Trizone) bzw. der Bundesrepublik Deutschland bis weit in die 1960er Jahre hinein das wichtigste Verkehrsmittel war, gelang es ihr nicht, schwarze Zahlen zu schreiben. Das Staatsunternehmen musste sich von Anfang an der beginnenden Massenmotorisierung stellen und andererseits die Kosten für den Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Bahnanlagen tragen. Die Folge dieses Wettbewerbsdruckes war die Stilllegung zahlreicher unrentabler Nebenstrecken vor allem in den 1960er und 1970er Jahren. Im gleichen Zeitraum wurden so gut wie keine Streckenneubauten in Betrieb genommen. Allein Ende der 60er Jahre wurden mehrere tausend Kilometer Schienen stillgelegt und abgebaut. Der Anteil der Eisenbahn im Personenverkehr schrumpfte rapide von 37 % im Jahr 1950 auf 17 % im Jahr 1960. Bis 1990 hatte sich der Marktanteil der Eisenbahn im Personenverkehr auf 6 % verringert. Ähnlich erging es dem Güterverkehr auf der Schiene. Der Anteil von 56 % im Jahr 1950 schmolz bis 1960 auf 37 % zusammen. Im Jahr 1990 waren es nur noch 21 %.[34] Andererseits gelang im Vergleich zu anderen europäischen Ländern (hier ist besonders Großbritannien zu nennen) der Erhalt eines erheblichen Teils auch marginaler Nebenstrecken. Des Weiteren schritt die Elektrifizierung voran, während anderswo (DDR, Dänemark, UK, Irland) vornehmlich auf Diesel gesetzt wurde.

      Im Jahre 1977 erreichte das elektrifizierte Streckennetz eine Länge von 10.000 Kilometer. Im selben Jahr wurden die letzten Dampflokomotiven ausgemustert und vollständig durch Elektro- und Diesellokomotiven ersetzt. Im Güterverkehr wurde der Versand von Stückgütern vollständig eingestellt, nachdem der Wettbewerb gegen das Lkw-Speditionsgewerbe nicht mehr durchzuhalten war. Im gleichen Zeitraum ging der Transport von Massengütern wie Kohle oder Eisenerz ebenfalls zurück. Infolge dieser Entwicklung wurden eine große Anzahl von Rangierbahnhöfen stillgelegt.

      Aufgrund der wirtschaftlichen Schwerfälligkeit des bürokratisch gelenkten Staatskonzernes und der Konkurrenz durch andere Verkehrsmittel wuchs der Schuldenberg der Bahn von 10 Milliarden Mark (1963) auf 30 Milliarden Mark (1978).[30] Im Zuge des Optimierungsprogramms DB 90 sollte die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens verbessert werden. 1985 war die Deutsche Bundesbahn noch der drittgrößte Arbeitgeber in der Bundesrepublik und beschäftigte 322.383 Mitarbeiter. 1958 waren es noch 530.000 Mitarbeiter, denen die Eisenbahn einen jährlichen Lohnbetrag von 2,8 Mrd. Mark bezahlen musste. Die Belegschaft schrumpfte von ursprünglich 539.000 Arbeitern im Jahr 1949 auf weniger als die Hälfte, nämlich 255.000, im Jahr 1989 zusammen. Das Schienennetz hatte 1989 eine Ausdehnung von 27.000 Kilometern. Der Schuldenberg der DB erhöhte sich zunehmend durch die lange Zeit vernachlässigte Modernisierung des Schienennetzes und der Eisenbahn-Infrastruktur wie Bahnhöfen und Gleisanlagen. 1958 hatte die DB ein tägliches Einkommen von 17 Mio. Mark, dass auf 19 Mio. erhöht werden sollte. Bis 1950 kassierte die BRD von der DB kolossale Gewinne. Der Buchwert der DB betrug 1958 mindestens 11 Mrd. Mark, doch auch die ab 1950 entstandenen Schulden der DB hatten schon Milliardenhöhe."

      https://de.wikipedia.o...

    11. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Ich kenne niemanden auf Piqd, der so lange Kommentare schreibt und offensichtlich falsch interpretiert.

      Aufgrund der Krise kamen Neoliberale an die Macht schrieb ich - das Gegenteil von den tollen alten Zeiten.

      Selbst die FAZ bedauert mittlerweile den Abbau von ein Sechstel des Schienennetzes aufgrund der Privatisierung, das jetzt wieder auf- und ausgebaut werden muss.

      Hier ein Überblicksstück aus den Blättern:
      https://www.blaetter.d...

      Schon früh konnte man über das Desaster schreiben.

      Aufs Globale gewendet:

      So viele Prognosen von Hobsbawm kenne ich nicht und bezweifle, dass es viele gibt. Ich kenne einige Passagen im Gesprächsbuch mit Antonio Polito, die sich gut gehalten haben.

      Und natürlich das prächtige Schlusskapitel aus seinem ZEITALTER DER EXTREME, das vor 30 Jahren erschien und wieder öfters zitiert wird.

      Es ist ja auch der vierte Band seines Hauptwerkes.

      Zum Hintergrund: In Rio de Janeiro fand 1992 die bis dahin größte Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung statt. Es war die erste nach 1972, die die von Menschen verursachte Klimakatastrophe im globalen Rahmen diskutierte. Nach dem Ende der Sowjetunion sprach man nicht mehr über Alternativen, sondern vom "grünen Kapitalismus" als Rettung.

      Der 1917 geborene Hobsbawm glaubte zwar nicht mehr, wie er schrieb, an den Kommunismus (er war 1932 in Berlin in eine kommunistische Jugendorganisation eingetreten bevor er als Jude fliehen musste), aber nur eine grundsätzliche Änderung schien ihm gegen die Vielfachkrise (1994 publiziert!) zu helfen.

      Ansonsten, sein letztes Wort: Finsternis.

      Von heute gesehen, ist das offensichtlich realistisch: Der Earth Overshoot Day ist jedes Jahr früher. Im Jahre 1992 war er noch am 12. Oktober. In 2023 schon am 2. August.

    12. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Achim Engelberg Der Abbau der Schienen begann schon lange vor den angeblichen Neoliberalen und der Privatisierung. Du mußt schon lesen was ich schreibe. Sonst hat das ganze keinen Zweck. Aber ich schreibe es gern noch mal:
      "Die Folge dieses Wettbewerbsdruckes (mit dem Autoverkehr) war die Stilllegung zahlreicher unrentabler Nebenstrecken vor allem in den 1960er und 1970er Jahren. Im gleichen Zeitraum wurden so gut wie keine Streckenneubauten in Betrieb genommen. Allein Ende der 60er Jahre wurden mehrere tausend Kilometer Schienen stillgelegt und abgebaut. Der Anteil der Eisenbahn im Personenverkehr schrumpfte rapide von 37 % im Jahr 1950 auf 17 % im Jahr 1960."

      Ansonsten ja, die Weltuntergangs-Szenarien sind nicht neu. Auch wenn Hunger, Armut und Bildung sich inzwischen weltweit zum Besseren gewendet haben - die große Katastrophe kann ich nicht erkennen. Wohl aber sehr große Herausforderungen. Und nach meinen Erfahrungen ist eine kapitalistische Wirtschaft, gekoppelt mit einer realistischen Demokratie in der Lage, Großes zu leisten, große Herausforderungen zu meistern. Bisher sehe ich (und du wohl auch nicht?) keine halbwegs realistische Alternative dazu. Da nutzt alles Klagen nichts. Soviel Zeit haben wir ja nun wirklich nicht.

      Ich werd mir Hobsbawm gern noch mal ansehen. Sein unorthodoxer Marxismus hat mir durchaus imponiert. Er war ja eigentlich kein Pessimist. In meiner Erinnerung hat er die Sowjetunion lange recht positiv gesehen. Er blieb, wenn auch kritisch, Kommunist.

      Das agieren Stalins nach dem Krieg und in Osteuropa, die Geheimrede Chruschtschow's brachten Hobsbawm nicht dazu, die Partei zu verlassen. Die Sowjetunion stand offensichtlich im Zentrum seiner Zukunftshoffnung. Das war damals nicht ungewöhnlich.

      Den Untergang der sozialistischen Weltordnung konnte er so wirklich nicht prognostizieren. Was einiges über seine Prognosekraft aussagt. Den Kapitalismus hat er in seiner Geschichte gut beschrieben. Den Sozialismus in seiner ganzen Brutalität und Finsternis hat er m.E. nicht verstanden. Und nun soll ich auf seine Prognose vertrauen??

    13. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl sorry aber diese Sichtweise ist schon ein bissl neo(wirtschafts)liberal: Daseinsversorge kann und darf zt gar keine "schwarzen Zahlen" schreiben.

    14. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Cornelia Gliem Das halt ich nun wieder für etwas naiv. Eigentlich wurde immer so allgemein unscharf argumentiert. Es passt nie. Immer ist gerade eine schlimme Zeit, Was ist denn Daseinsfürsorge und was nicht?

    15. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Die defizitären Strukturen entweder loswerden oder effizienter machen – was soll das konkret bedeuten?
      Die Bahn als Ganzes ist immer defizitär wegen der gewaltigen Aufwendungen für Bau und Unterhalt der Strecken. Die Netzentgelte decken den Investitionsbedarf nicht ab. Der Investitionsstau, nicht nur bei Erweiterungen, sondern auch zum Ersatz verschlissener Infrastruktur, hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Probleme im Betrieb sind damit hausgemacht. Inwieweit diese zusätzlich durch ineffiziente Organisation im Staatskonzern bedingt sein könnten – das müsste schon dezidiert nachgewiesen werden.

      Und der Personennahverkehr sowohl von DB als auch Privatbahnen ist sowieso ein Zuschussgeschäft, das 49-Euro-Ticket eine gute Sache. Sollte der Staat die Aufwendungen für Nahverkehr und Schienennetz reduzieren, hieße das, die Lasten durch Umweltschäden künftigen Generationen aufzubürden. Für entsprechende Modellrechnungen (auch gerichtsfeste – Schuldenstreit), dürfte doch bereits eine gute Datengrundlage vorhanden sein. Noch mehr Güter auf die Straße zu bringen ist zu billig, zu effizient.

      Die Schweizer haben ganz selbstverständlich den längsten Eisenbahntunnel der Welt gebaut. Mit dem Anschluss nach Norden hapert es, trotz früherer Zusagen aus Berlin: https://www.swissinfo....
      Wie macht die Schweiz das bloß? „Tschu tschu tschu, die Eisenbahn!“ – das Lied lernen die Kleinen schon im Kindergarten.

    16. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Lutz Müller Schau dir die Preise in der Schweiz an. Dann weißt Du, wie die das machen. Auch dort gibt es staatliche Zuschüsse, aber eben auch kostengerechtere Preise. Mit DDR-Mieten und -Fahrpreisen kann man keine Infrastrukturen erhalten. Auch nicht im Westen. Und schon gar nicht kann man auf Dauer Sozialausgaben und Infrastrukturen staatlich hoch finanzieren/subventionieren, wenn sich gleichzeitig die Wirtschaft schwach entwickelt. Das kennen wir doch ….. Ich bin sehr für eine funktionierende Bahn und andere Infrastrukturen. Nur muß man dem Volk dann auch klar sagen, was dies kostet und darf nicht populistische Preise versprechen. Ein 49 € Ticket bei dem Zustand der Bahn ist m.E. ziemlicher Wahnsinn. Der Staat müßte nicht nur die Aufwendungen für die Bahn drastisch erhöhen, er müßte überall mehr investieren - in Bildung, Forschung, Gesundheit, Energie, Wohnen, Strassen, Wasser/Abwasser …... Dazu fehlt allerdings nicht nur das Geld sondern auch die Arbeitskräfte. Ich hab hier gerade ein heftiges de ja vue - Erlebnis. Realitätsverlust und Größenwahn der politischen Klasse scheint mir.

    17. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Grundsätzlich gebe ich Dir Recht, dass staatlicherseits mehr getan werden müsste in D in vielen Bereichen. Auch für den ÖPNV in manchen Städten. Der Neoliberalismus allerdings liefert dafür keine Rezepte.

      Früher bin ich beruflich sehr viel Bahn gefahren, auf einer Dienstreise und bei privaten Besuchen auch in der CH. Hatte nie den Eindruck, dass die SBB, angesichts des allgemein höheren Verdienst- und Preisniveaus, sich mit kostengerechten Preisen auszeichnet. Wozu rätseln – eine Probe aufs Exempel:

      Heute Nachmittag Zürich-Basel ab 18 CHF mit Intercity oder Interregio
      Köln-Essen: ab 23,40 EUR mit RE/RB, ab 29,90 mit ICE/RE

      Und morgen, Sonntagvormittag: Zürich-Basel ab 12,60 CHF
      Köln-Essen: ab 23,40 EUR mit RE, ab 17,90 mit ICE

      Vergleichbare, dicht befahrene Strecken, in CH also sogar wesentlich preisgünstiger als in D. Würde günstige Preise niemals als populistisch bezeichnen – sie sind ein Anreiz, weil Marktmechanismen nicht greifen und nicht populistische Überzeugungsarbeit allein nicht ausreicht. Vielleicht reichen diese Beispiele. Die letzten Berufsjahre war ich viel mit Analyse von Konzernabschlüssen beschäftigt – das will ich jetzt nicht tun, bringt auch diese Diskussion nicht weiter.

    18. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Lutz Müller Kostenwahrheit hat erst mal nichts mit Markt zu tun. Und auch nicht mit Neoliberalismus, schon gar nicht in Staatsbetrieben.

      Wenn ich die Preise sehe, sind das ja relativ kurze Strecken. Mit Bahncard? Ich kenne aus meiner Zeit solche Preise ohne Bahncard oder Sondertarife nicht. Aber etwas pünktlicher war das vor zehn Jahren schon. Wenn ich heute mal den ÖPNV nutze, gibt es jedesmal ein Problem. Da brauch ich auch die billigen Preise nicht. Das ist kein Anreiz.

      Was nutzt denn ein Anreiz zum Bahnfahren, wenn die Infrastruktur es nicht hergibt? Und natürlich ist es populistisch dem Volk billige Tarife zu versprechen, wenn dabei pö a pö das Land verrottet weil die Finanzierung nicht gesichert ist. Aber das Volk merkt es ….

      Was die Schweiz betrifft, dann scheint die SBB das einzig billige zu sein. Wenn ich in Basel die Straßenbahn nutze komme ich ja fast auf ähnliche Preise für drei vier Stationen hin und zurück. Das zieht einem die Schuhe aus. Eintritt in Museen, da ist man auch schnell bei 30 - 50 Euro. Insgesamt sind aber die Infrastrukturen topp. Und das bei einer Staatsquote die viel niedriger ist als unsere (36 / 50 %).

      Eventuell hat die SBB auch geringere Kosten? Weniger Wasserkopf, flachere Hierarchien, schnellere Entscheidungen und kontinuierliche Erneuerung? Keine Ahnung?

      Wahrscheinlich funktioniert der Schweizer Staat einfach besser und effizienter. Ohne das deutsche föderale und Bundes-Wirrwarr. Dazu noch die EU. Davon kann ich ein Lied singen. Von der Schweiz lernen heißt da wohl siegen lernen?

    19. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl sorry aber trotz der Gefahr von nostalgischer Verklärung hat die Bahn doch vor der Privatisierung wesentlich besser funktioniert.

    20. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Cornelia Gliem Ich würde sagen, sie ist ziemlich kontinuierlich schlechter geworden. Auch nach der Umwandlung in eine AG. Privat ist sie übrigens immer noch nicht.

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