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Volk und Wirtschaft

Der erschöpfte Staat – Eine andere Geschichte des Neoliberalismus?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSonntag, 29.01.2023
Neoliberalismus wird oft als moralisch "böser", profitgetriebener Angriff auf gute und erfolgreiche sozialliberale Politik gesehen. Selten wird aber die Frage gestellt, wie es überhaupt zu so einer großen Nachfrage nach neoliberalen Reformangeboten kommen konnte? "Soziopolis" bringt nun eine Rezension zu einer Monografie von Ariane Leendertz über 'urban policy' in den Vereinigten Staaten heraus, die sich dieser Frage widmet. 

Die Monografie nimmt als Ausgangspunkt die erste »National Urban Policy« in der Geschichte der Vereinigten Staaten, die die Regierung des Demokraten Jimmy Carter am 27. März 1978 verkündete. Strategie war es, die vielen Förderlinien zahlreicher Ministerien unter einem Dach zu versammeln und auf übergeordnete Zielsetzungen zu konzentrieren. Dabei wollte Carter mehr als einfache Antworten auf komplexe Probleme anwenden. Seine Regierung, so Leendertz in der Einleitung der Monografie (S. 9 – unbedingt lesenswert),
setze vielmehr an den tieferliegenden Ursachen der Probleme an, die sich in städtischen Räumen gegenseitig verstärkten: von Arbeitslosigkeit und Rassendiskriminierung über Zersiedlung und wirtschaftlichen Verfall bis zu finanzieller Not. Obwohl der Präsident zugab, dass frühere politische Programme oft wenig effektiv gewesen seien, betonte er, die Bundesregierung müsse dazu beitragen, die Lebensbedingungen der Menschen in den Städten zu verbessern und Niedergang aufzuhalten: »The deterioration of urban life in the United States is one of the most complex and deeply rooted problems we face. The Federal government has the clear duty to lead the effort to reverse that deterioration.«

Carters Programm folgte der im Progressivismus verwurzelten US-amerikanischen Tradition sozialliberaler Politik. Deren Umsetzung sich aber in der Praxis der 1970er-Jahre zunehmend als schwierig erwies: 

Die vielfach konstatierte »Komplexität« der Problemlagen schien sich gezielten Interventionen immer weiter zu entziehen. Mehr noch: Wie der zunehmend einflussreiche neoliberale Flügel um Ronald Reagan in der Republikanischen Partei argumentierte, machten die staatlichen Lösungsversuche alles nur noch schlimmer. Reagan und seine Unterstützer hatten völlig andere Vorstellungen über die Rolle des Staates und lehnten jegliche Verantwortung des Bundes gegenüber sozialen und ökonomischen Krisenerscheinungen im städtischen Raum ab. 

Bekanntlich wollte Reagan den Einfluss der Bundesregierung stark verringern und Wirtschaft sowie Gesellschaft vom regulierenden Interventionsstaat befreien. Gewöhnlich wird die Geschichte dieses Politikwechsels mit dem klassischen Narrativ der neoliberalen Wende erzählt. Also ... 

als eine Geschichte des Aufstiegs der neuen konservativen Rechten, ihrer militanten Kritik am Wohlfahrtsstaat und der Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftstheorien und Ideologie im Anschluss an Friedrich August Hayek und Milton Friedman in der Republikanischen Partei der Vereinigten Staaten. 

Das ist, wenn man genau hinschaut, jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die zweite Seite ist die Erschöpfung problemlösender Politik, die ihre Versprechen nicht einhalten konnte.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begann die Erosion einer Konzeption politisch-administrativen Handelns, die hier als "solutionism" bezeichnet werden soll. Den Kern der Regierungsphilosophie des "solutionism" bildete die Überzeugung, dass der Staat mithilfe der ihm zur Verfügung stehenden intellektuellen und materiellen Ressourcen zur Lösung sozialer Probleme und zu steuernden Eingriffen in strukturelle Entwicklungen fähig sein könne – und solle. Diese Überzeugung, die in den USA in den 1930er Jahren mit dem New Deal politisch wirksam wurde und in der Ära der Great Society ihren Höhepunkt erreichte, wurde ab Mitte der 1960er Jahre zunehmend infrage gestellt.
Offensichtlich entziehen sich soziale Probleme oft der direkten staatlichen Steuerung. Die Ergebnisse der staatlichen Maßnahmen gaben immer wieder Anlass zur Frustration. Der Abstand vom Konzept zur politischen und gesellschaftlichen Praxis war groß, so die Rezension. Dazu trug vieles bei, 
auch die schiere Menge an beteiligten Behörden und Interessengruppen, zu undeutlich (waren) die Kausalitäten und zu gravierend die durch Deindustrialisierung und Depopulation verschärften Problemlagen. Wachsende Zweifel an der Möglichkeit, gesellschaftliche Komplexität durch Regierungshandeln bewältigen zu können, mündeten alsbald in Krisendiagnosen und einer regelrechten „Erschöpfung der Policy-Forschung“. Nun lag die staatskritische Schlussfolgerung nahe, die Ansprüche und Erwartungen müssten eben zurückgenommen, die Aufgaben und Ausgaben reduziert werden. 
Das unterstütze natürlich die Politikstrategien von Margaret Thatcher bis Ronald Reagan. Die Reagan-Regierung legitimierte damit den Rückbau der "urban policy".

Interessant finde ich auch die Aussage, dass damals neoliberale Maßnahmen zwar an Bedeutung gewannen, aber man nicht jede Kooperation mit dem Privatsektor einfach „per se als neoliberal klassifizieren“ kann. Der Rezensent Moritz Föllmer nennt das
eine angenehm nüchterne Einschätzung, die auch auf die meisten westeuropäischen Länder zutreffen dürfte. Zudem überschnitten sich dort neoliberale Botschaften in ähnlicher Weise wie in den Vereinigten Staaten der 1990er-Jahre mit „rechten“ wie „linken“ Haltungen: dem moralischem Konservatismus Margaret Thatchers, dem feministischen Autonomiediskurs und dem Drang ethnischer Minderheiten, ihr empowerment in die eigene Hand zu nehmen.
Wir sollten also genauer hinschauen beim Analysieren, beim Klassifizieren und bei der Komplexität unserer Narrative. Die Diskussionen über die Art der "Regierbarkeit" sehr komplexer, pluralistischer demokratischer Gesellschaften ist sicher noch nicht abgeschlossen.
Der erschöpfte Staat – Eine andere Geschichte des Neoliberalismus?

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