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Europa

Ungarn und Polen – Demokratien mit Adjektiven oder Demokraturen?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 04.02.2022
Sind Polen oder Ungarn demokratisch, sind sie illiberale, semikonsolidierte oder defek­te Demokratie – also Demokratien mit Adjektiven? Paweł Karolewski und Claus Leggewie finden diese Unklarheit bei der Charakterisierung beunruhigend. Auch Medien, Politik und Politikwissenschaft haben Probleme mit der Einord­nung etwa der Gesellschaften in Mittelosteu­ropa. Man mag keine Unschärfen und der Ansatz
 ei­ner »Demokratie mit Adjektiven« verleitet freilich dazu, demokratische Entwicklung auf einer Skala zu betrachten, ohne den Bruch oder Übergang zwischen Demokra­tie und Nichtdemokratie eindeutig iden­tifizieren zu müssen. Dadurch entsteht der Eindruck, die Variationen von Demo­kratie seien viel zahlreicher als wir es bei »typischen« (klassischen) Demokratien ge-wohnt sind. Dies führt zu problemati­schen Schlüssen. Erstens ist man schnell bei der Behauptung, fast jede Demokra­tie sei irgendwie defizitär. Zweitens geht der Glaube an das fast unbegrenzte Spek­trum des Demokratischen mit der Ein­stellung einher, dass die Kritik an Entdemokratisierung übertrieben sei.
Kann, muss man den Übergang von Demokratie und Nichtdemokratie immer eindeutig benennen? Ist nicht in der Realität jede Demokratie partiell defizitär oder zumindest nichtideal? Wie zahlreich dürften denn Variationen sein? Wer hat sie wo gezählt? Und ein unbegrenztes Spektrum folgt daraus ja auch nicht einfach. Müsste man das alles nicht erst mal diskutieren, analysieren? Ehe man dazu übergeht, einen Zwischentyp wie die Demokratur zu definieren? Geht das ohne Grauzonen?

Bevor man das Hohelied des Ideals beim Beurteilen oder gar Verurteilen von Demokratien singt, sollte man auch berücksichtigen, wie jung die meisten Demokratien auf der Welt sind, wie Our World in Data zeigt. Für junge Menschen, die in den wenigen älteren Demokratien leben, dort groß wurden, sind Autoritarismus oder Diktatur etwas längst Überwundenes, jenseits ihrer Erfahrung. Das Recht, seine Meinung zu äußern, auf der Straße zu protestieren, Parteien zu gründen oder freie Medien zu nutzen, ihre Regierungen zu kritisieren, erscheinen als selbstverständlich.
Aber diese Erfahrungen sind nicht repräsentativ. Etwa die Hälfte aller Länder sind keine Demokratien; und fast alle demokratischen Länder sind jünger als ein Leben. Das bedeutet, dass für die meisten Menschen das Leben unter Autoritarismus entweder ihre aktuelle Erfahrung ist oder sie sich an eine Zeit erinnern können, in der es so war.
"Our World in Data" unterscheidet z. B. zwischen zwei Arten von Demokratien: Wahldemokratien und liberale Demokratien.
In Wahldemokratien haben die Bürger das Recht, an sinnvollen, freien und fairen Mehrparteienwahlen teilzunehmen. Liberale Demokratien gehen noch weiter: Die Bürger haben individuelle und Minderheitenrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, und das Handeln der Exekutive wird vom Gesetzgeber und den Gerichten eingeschränkt.
Karolewski und Leggewie schlagen einen anderen Analyseweg vor. Sei greifen auf den Begriff des Doppelstaates zurück um die Entwicklung in den Visegrád-Staaten als Herausbildung von »Demokraturen« zu bezeichnen. In diesen
vermen­gen sich demokratische mit autokrati­schen Elementen von Herrschaft. Wie das Beispiel Ungarns zeigt, beanspruchen De­mokraturen demokratische Legitimation durch Wahlen für sich und können effek­tive Massenunterstützung organisieren. Sie veranstalten tatsächlich zyklische freie Wahlen, die allerdings unfair sind, da eine Partei die Massenmedien kontrolliert und Wahlgesetze zu eigenen Gunsten umwan­delt oder umzuwandeln sucht. Demokraturen sind durchaus imstande, die Unter­stützung von Massen in der Zeit zwischen den Wahlen zu mobilisieren ….
Das Konzept des Doppelstaates wurde in den 30er-Jahren von dem deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel entwickelt, um damit das 3. Reich zu analysieren: 
Das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus bestehe nach Fraenkel aus zwei Bereichen: Der Normenstaat sei gekennzeichnet durch die Existenz tradierter und neuer Rechtsvorschriften, die grundsätzlich auf Berechenbarkeit angelegt und in dieser Funktion der Aufrechterhaltung der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung dienlich seien. In dieser Sphäre hätten Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte nach wie vor Gültigkeit; das Privateigentum sei geschützt – allerdings nicht das der Juden – und das Vertragsrecht weiterhin wesentlich. Im Unterschied dazu orientiere sich der Maßnahmenstaat nicht an Rechten, sondern ausschließlich an Überlegungen der situativ-politischen Zweckmäßigkeit. Entscheidungen würden „nach Lage der Sache“ getroffen. In diesem Sektor „fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen“.
Es geht nicht darum heutige "Demokraturen" mit Nazideutschland zu vergleichen, das wäre völlig überzogen. Aber die  Dualität von Maßnahmen- und Normenstaat ist eine interessante Beobachtung. Inwiefern ist in "Demokraturen" und auch in Demokratien der Maßnahmestaat mit dem Normenstaat im Einklang? 
Die Unterscheidung von Fraenkel kann insofern zum Verständnis heutiger Demo­kraturen beitragen, da in ihnen eine Dua­lität der Rechtsordnung zu erkennen ist. Hier werden das Verfassungsrecht (bezie­hungsweise das Recht mit Verfassungsfol­gen) und das Polizeirecht nach der Logik des Maßnahmenstaats verwendet, wäh­rend andere Bereiche des Rechts von der Entdemokratisierung wenig oder gar nicht tangiert werden. Verfassungsorgane wer­den durch Parteien oder oligarchische Ak­teure vereinnahmt und an Partikularinte­ressen ausgerichtet. Dabei geht es nicht nur darum, neue Gesetze zu verabschie­den, die den Maßnahmenstaat ermögli­chen sollen; Gesetze dienen vor allem der Aushöhlung von Staatsinstitutionen, wie vor allem Verfassungsgerichten, um diese personell zu unterwandern und weltan­schaulich zu imprägnieren.
Wenn ich z. B. das Instrument der strategischen Klage- oder Prozessführung betrachte, das in Deutschland gern von NGO oder anderen politischen Gruppen angewandt wird, vermute ich auch eine gewisse Dualität des Rechtsstaates und eine Strapazierung der Gewaltenteilung. Interessierte weltanschauliche Netzwerke, Teile der Zivilgesellschaft, versuchen über Gerichte Maßnahmen durchzusetzen, die über demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht möglich wären. Auch hier kein direkter Vergleich mit den sogenannten "Demokraturen", aber ein Graubereich. Der entgleisende Maßnahmenstaat in der Demokratur hat hingegen das primäre Ziel der Veränderung der
Funktionsweise staatlicher Institutio­nen, um ihnen die Unabhängigkeit zu neh­men. Verfassungen bieten keinen Schutz, wenn diese mit Supermehrheiten verän­dert werden können (wie in Ungarn) oder die Funktionsweise der Verfassungsorga­ne mit einfachen Gesetzen (wie in Polen) deformiert wird. So kann die Arbeitswei­se eines Verfassungsgerichts durch eine Neuzusammensetzung mittels arbiträ­rer Erhöhung der Richterzahl oder durch das Entfernen politisch nicht genehmer Richterinnen im Sinne der Herrschafts­eliten nachhaltig verändert werden, auch ohne dass der Buchstabe der Verfassung angetastet wird. Das Recht, dem syste­misch die Funktion der Beschränkung von Herrschaft zukommt, dient nun zu deren Durchsetzung, ohne dass bei Übergriffen noch der Rechtsweg offensteht.

Für Karolewski und Leggewie hat die Dualstruktur der Demokratur ihre Parallele in der Strukturierung der Zivil­gesellschaft. 

Wie erwähnt, wol­len Demokraturen auf der Grundlage von Wahlen ihre Massenunterstützung demonstrieren. Dem dient der Aufbau einer Quasizivilgesellschaft von oben, die auf der Oberfläche die übliche Form von Vereinen, Verbänden und Stiftungen an­nimmt, mit den Herrschaftseliten jedoch aufs Engste verbündet ist und deren Zie­len dient, wie die sogenannten »Friedens­märsche« in Ungarn. Sie wurden als Antwort auf Anti-Orbán-Proteste der Zi­vilgesellschaft eingeführt, durch regie­rungsnahe Stiftungen finanziert und von ermunternden Reden des Premierminis­ters begleitet. Daneben kämpft eine unab­hängige Zivilgesellschaft gegen die Auto­kratisierung des politischen Systems, die Staatsvereinnahmung und die Einschrän­kung der Bürgerrechte.

Nun müssen und wollen natürlich auch demokratische westliche Regierungen die Unterstützung durch Massen demonstrieren. Und ein großer Teil unserer Zivilgesellschaft ist nicht so unabhängig von staatlicher Finanzierung. Und umgedreht, Regierungen sind verflochten mit ihren NGO, die selbst keine Mehrheiten bilden. Natürlich immer für die gute Sache. Aber hört man nicht auch da Forderungen nach autoritäreren Maßnahmen etwa beim "Durchregieren" zwecks Klimaschutz? Sind nicht auch linke "Demokraturen" möglich? Und heiligen dann die Mittel den Zweck? Also auch mit dem Konzept „Demokratur" scheinen mir nicht alle Unschärfen beseitigt. Nehmen wir die Beobachtung von Karolewski und Leggewie als Warnung:

Der Übergang zur Demokratur ver­läuft schrittweise, nicht als schlagartiger Staatsstreich oder Konterrevolution, eher in Form einer schleichenden, dabei aber nicht verborgenen Errichtung autokrati­scher Strukturen durch demokratisch ge­wählte Akteure über Jahre hinweg. Die Demokratur wird nicht vom Rand des politischen Spektrums her eingeführt, wo man offen und radikal antidemokratische Akteure vermutet, sondern von den poli­tischen Eliten aus der politischen Mitte; Fidesz und PiS entstammen dem liberal­konservativen Mainstream, hatten Regie­rungserfahrung und die Macht nach ver­lorenen Wahlen schon einmal abgegeben. Eher erodiert Demokratie und wird zur Demokratur, als dass sie plötzlich kolla­biert.


Ungarn und Polen – Demokratien mit Adjektiven oder Demokraturen?

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