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Europa

Direkte Demokratie als Störfall?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlMittwoch, 12.04.2023
Wie gut funktioniert unsere Demokratie? Viele sind skeptisch, auch gegenüber dem politischen Personal. Der Vorwurf, ein Feind der Demokratie zu sein, scheint öfter vorgebracht zu werden. Querdenker werden als Gefährder beschimpft. Die Wahlbeteiligung ist niedrig. 

Beim bunten Haufen der "Salonkolumnisten" (wie sie sich selber nennen), habe ich zwei interessante Artikel zum Thema gefunden, die ich empfehlen möchte. Es handelt sich um Analysen und Betrachtungen rund um den gescheiterten Berliner Volksentscheid zur Klimaneutralität der Stadt bis 2030. Genauer gesagt, um die Frage, wie zeitgemäß, wie zweckmäßig oder wie gefährlich sind Volksentscheide als direkte Demokratie für die europäischen Staaten. Marcel Rohrlack fragt etwa anlässlich der geringen Beteiligung in Berlin:
Ist das nur Demokratieübersättigung, dass die Berliner*innen ihr fundamentalstes Bürgerrecht nicht wahrgenommen haben? Wahrscheinlich nicht. Vielmehr stand die mangelnde Anschlussfähigkeit der Initiative dem Begehren selbst im Weg.

Einerseits sieht er direkte Demokratie als einen Störfall. 

Sie ist in unserer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie systematisch falsch, ein Delfin unter den Fischen. 

Andererseits kann sie ihm zu folge konstruktiv mitwirken – wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Oder wie es in Artikel 20 des Grundgesetzes steht:

"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt."

Der "Normalweg" der Demokratie ist in der Bundesrepublik sicher das Parlament. Wir haben eine repräsentative, parlamentarische Demokratie, das Volk wählt seine Repräsentanten und legt damit die sachlichen Entscheidungen in die Hände einer überschaubaren Anzahl (hoffentlich) informierter, kluger und engagierter Persönlichkeiten. Aber es existiert die Möglichkeit von Volksabstimmungen, in der stimmberechtigte Staatsbürger über Sachfragen (im Unterschied zu Wahlen, die sich auf Personalentscheidungen beziehen) entscheiden können. Und da kann Folgendes passieren:
Der Berliner Volksentscheid zur Klimaneutralität der Stadt bis 2030 ist zuletzt auf besondere Art und Weise gescheitert – es sind einfach zu wenige hin. Ist das nur Demokratieübersättigung, dass die Berliner*innen ihr fundamentalstes Bürgerrecht nicht wahrgenommen haben? Wahrscheinlich nicht. Vielmehr stand die mangelnde Anschlussfähigkeit der Initiative dem Begehren selbst im Weg.
Martenstein hat es im Zeitmagazin etwas drastischer ausgedrückt:
In Berlin ist kürzlich etwas Sonderbares passiert. Sie haben eine Volksabstimmung über etwas Unmögliches veranstaltet. Berlin sollte bis 2030 klimaneutral werden. 
Und hat vorgeschlagen, eine Abstimmung zur Verlagerung von Berlin nach Mallorca zu initiieren, für die dann vielleicht die 608.000 Jastimmen zustande gekommen wären, die es braucht, um angenommen zu werden und damit Gesetzeskraft zu erlangen. Damit verdeutlicht Martenstein einen wesentlichen Unterschied zwischen dem politischen System aus gewählten Repräsentanten und den Volksabstimmungen. Der politische Betrieb wird durch Verantwortlichkeiten, Regeln und Rückkopplungen begrenzt:
Politik muss legal handeln. Auch kann sie nicht unendlich Geld ausgeben. Und sie kann nicht langfristig kontrafaktisch arbeiten, sonst kommt die Peitsche der Resonanz aus ihrer Umwelt zu tragen. Eine Politik, die in sich zwar operativ, aber in ihrer Wirkung zerstörerisch ist, kriegt irgendwann die Quittung. 
Aber diese Verantwortlichkeit hat der Volksentscheid nicht. Oder anders ausgedrückt: Er kann enthemmt fordern und beschließen, was er will.
In dem zweiten Beitrag der Krautreporter zum Thema sieht Bernd Rheinberg mit diesem Politikstil sogar das demokratische System der Bundesrepublik in Gefahr. 
Die Demokratie hat Gegner und Feinde. Das hatte sie immer, das ist nichts Neues. …. So gibt es zum Beispiel äußere Feinde, die mit Gewalt, gezielter Desinformation und Unterwanderung demokratische Länder zu destabilisieren oder zu erobern suchen. Die größte Gefahr aber kommt von innen, aus den Demokratien selbst, von extremistischen Gruppen, populistischen Parteien, gewählten Führern, die alle Hebel in Bewegung setzen, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schwächen und zu eigenen Gunsten zu verändern. 
Bei Beispielen wie Trumps Agieren, dem „Gerrymandering“, also die Verschiebung der Wahlkreisgrenzen zum eigenen Vorteil oder auch beim Brexit, wird man dem sofort zustimmen. Und wir sind hierzulande überrascht, empört und entsetzt, dass so etwas dort möglich ist. Aber auch in der Bundesrepublik versucht man zunehmend,
die Freiheit der Wahl (durch Paritätsgesetze) und die Legitimierung durch das Mehrheitsprinzip außer Kraft zu setzen. Minderheiten können, nein, sollen herrschen. Besonders deutlich wird das gerade beim Berliner Volksentscheid, mit dem am 26. März das Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz geändert, genauer: verschärft werden soll. Der Berliner Volksentscheid ist so konstruiert, dass es nur jeder vierten Stimme der Wahlberechtigten (25 Prozent) bedarf, um die geplante Änderung des Gesetzes durchzubringen. Voraussetzung: 25 Prozent der Wahlberechtigten müssen auch an der Abstimmung teilnehmen. 
Damit würde im Erfolgsfall ein Gesetz – hier das Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz – das mit einer parlamentarischen Mehrheit beschlossen wurde (die aus einer Landtagswahl mit einer Wahlbeteiligung von über 60 Prozent hervorgegangen ist)  mit einer Minderheit von 25 Prozent der Wählerstimmen gekippt.
Ein Traum für alle kampagnenfähigen Aktivisten, die sich darauf verstehen, eine „qualifizierte Minderheit“ zu mobilisieren.
Es geht also um Macht, um die Macht für von ihrer Meinung überzeugte Minderheiten und ihrer Anführer. Eine Macht ohne Verantwortlichkeit der Aktivisten. Die bleiben nach der Abstimmung schön im Hintergrund und heben oder senken dann die Daumen über den Politikern – je nach Ergebnis. Der Volksentscheid hätte aus den bisherigen „Klimaschutzzielen“ nämlich künftig „Klimaschutzverpflichtungen“ gemacht.
Wir fordern eine rechtliche Haftbarkeit und Verantwortung des Landes Berlin sowohl für potentielles Nicht-Handeln oder Nichterfüllen der festgeschriebenen Verpflichtungen als auch für weitere daraus resultierende Konsequenzen.

Man droht also dem Gemeinwesen und seinen Repräsentanten mit dem Gericht, wenn die inhaltlichen Forderungen der Aktivisten politisch nicht realisiert werden oder werden können. Eine Plausibilitätsprüfung der Ziele ist dabei nicht vorgesehen. Das ist in etwa so vernünftig,

als würden sich der DFB und der Bundestrainer zum Ziel setzen, die Mannschaft ins Endspiel der nächsten Fußballweltmeisterschaft zu bringen, aber einem Viertel der 83 Millionen Bundestrainer ist das zu wenig, und es verpflichtet sie, ungeachtet der gegnerischen Kräfte, Einflüsse und Miseren, den Titel zu gewinnen. Und bei Versagen kommen alle Verantwortlichen vor den Kadi. Da dürfte es schwierig werden, demnächst noch eine Mannschaft zusammenzukriegen. 
Man könnte das doch gleich machen, wie bei den Ballspielen der Maya. Politiker kämpfen dann nicht mehr um optimale Ergebnisse, um ihre Wiederwahl, sondern ums Überleben. Das würden sich natürlich nur Verrückte bzw. zutiefst Gläubige antun. Oder solche, die mit absoluter Macht ausgestattet werden, um alle möglichen Maßnahmen durchzusetzen. Koste es, was es wolle und egal, was dabei an gefährlichen, unerwarteten oder geduldeten Nebenwirkungen herauskommt. Hauptsache der CO2-Ausstoß der eigenen Region ist Null.

Direkte Demokratie als Störfall?

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Kommentare 4
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor einem Jahr

    hm. würde jetzt den Tenor der textes nicht zustimmen - Volksentscheide und -begehren werden so in einen Topf geworfen und Kritik an den %-Schwellen wird zur rundumschlag-Kritik an direkter Demokratie...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      Ich hab das eher als Aufforderung zum Realismus und zur fachlichen Fundierung gesehen. Direkte Demokratie ist ja kein Selbstzweck …..

  2. Ferdinand H
    Ferdinand H · vor einem Jahr · bearbeitet vor einem Jahr

    Klimaneutralität bis 2030 ist aber keine unmöglichkeit. Es ist das notwendige um das 1.5 Grad Ziel zu erreichen. Eben jenes Ziel was von der deutschen Regierung mit einer demokratischen Mehrheit unterschrieben wurde.

    Hier über die überbordende Macht der Aktivisten zu sprechen finde ich etwas daneben. Wenn es gleichzeitig das Pariser Klimaabkommen und den aktuellen IPCC Bericht gibt.

    Und noch als Randnotiz, so ganz genau scheinen es die Regierungsvertreter in Berlin nicht mit Bürgerentscheiden zu nehmen. Der Entscheid zur Enteignung der Wohnungskonzerne wurde (meines Wissens nach) noch nicht umgesetzt.

    *Aber danke für den Piqd! Bin nur nicht einverstanden.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr · bearbeitet vor einem Jahr

      Das etwas für notwendig gehalten wird, von Regierungen als Vertrag unterschrieben wird, das besagt doch nichts über die Möglichkeit. Auch Mehrheiten tun das nicht. Das Pariser Klimaabkommen war von Anfang an unrealistisch - aus vielfältigen Gründen. Und die IPCC-Berichte beschreiben globale Prozesse und keine regionalen Möglichkeiten. Global steigen die CO2-Emissionen weiter. Selbst wenn Berlin oder D klimaneutral würde bis 2030, das hätte keine Auswirkungen weltweit. Aber in D wäre es, besonders wie wir vorgehen, eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe. Und das in einer sich weiter erwärmenden Welt. Das wünsche ich meinen Enkeln und Kindern nicht. Also etwas komplexer muß unsere Klimastrategie schon sein …..
      Und die überbordende Macht von Aktivisten hat sich ja in den letzten hundert Jahren Mehrfach sehr drastisch gezeigt. Eigentlich sollten Demokratien das mit ihren Regeln erschweren und nicht ermöglichen/vereinfachen.

      Was den Volksentscheid zur Enteignung betrifft, den würde ich nicht als unmöglich bezeichnen, wenn auch nicht trivial umsetzbar. Dazu siehe hier:
      "Im Grunde handelt es sich lediglich um einen "Volksentscheid über einen Beschluss zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs". Dieser würde dann alle Details regeln. Ein mögliches Gesetz legte die Initiative bereits im Mai 2021 vor. Es ist bis heute nicht exakt feststellbar, wie viele Wohnungen von einer Vergesellschaftung betroffen wären, sollte das Vorhaben der Initiative umgesetzt werden. Zwar nennt die Initiative mit 3.000 Wohnungen einen klaren Schwellenwert, jedoch weiß niemand einschließlich des Senates, wie viele Unternehmen diese Schwelle überschreiten. Grund ist die Tatsache, dass die Grundbücher in Deutschland zwar den formalen Eigentümer ausweisen, nicht aber den tatsächlich wirtschaftlich Berechtigten."

      https://de.wikipedia.o...

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