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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Wie hängen Zwangsarbeit und Diktatur zusammen?

Achim Engelberg
Dr. phil.
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Achim EngelbergFreitag, 31.03.2023

Die Entwicklungen Chinas und der Sowjetunion/Russlands sind verschieden und ähnlich sogleich. Die unvollständige, ja, zuweilen verbotene Nichtauseinandersetzung mit der blutigen Geschichte im extremen 20. Jahrhundert geht einher mit neuen Verfolgungen und Gräueln.

Kurz vor dem Großangriff auf die Ukraine ist in Russland mit Memorial die wichtigste Organisation zur Auseinandersetzung mit dem Stalinismus verboten worden.

Die Verklärung von Mao Zedong in China geht einher mit alten Repressionen in neuen Formen.

Es ist eine augenöffnende zweiteilige Doku, die man bis zum 29. Juni 2025 (!) in der arte Mediathek sehen kann.

Dass von Mao Zedong gleich nach der Staatsgründung 1949 errichtete Laogai-Lagersystem (Abkürzung für "Reform durch Arbeit") in China hat viele Ähnlichkeiten mit dem Gulag, den Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion.

Im Dokumentarfilm sieht man seltenes Filmmaterial und es kommen heute im Exil lebende Opfer des chinesischen Lagersystems zu Wort.

In den schlimmen Phasen der Geschichte kam es zu zahlreichen Hinrichtungen, viele schickte man zur Umerziehung ins Laogai.

In Hunderten von Lagern machte sich die Partei die kostenlose Arbeitskraft der Gefangenen zunutze, um die Wirtschaft des Landes aufzubauen.

Wer nicht ins Laogai abtransportiert werden wollte, musste Selbstkritik üben und zur Denunziation von Angehörigen oder Nachbarn bereit sein. Selbst in der eigenen Familie war man nicht immer sicher: Das Damoklesschwert der Deportation schwebte über jedem Haushalt. Die Familien der Häftlinge wurden gesellschaftlich geächtet.

Mao Zedong starb am 9. September 1976; sein Terrorsystem wurde aber nur modifiziert, nicht abgeschafft. Davon berichtet der zweite Teil dieses in jeder Hinsicht aufregenden Films.

Unter Deng Xiaopings Herrschaft verwandelte sich jedes Lager in ein Unternehmen: Jeder Lagerleiter war ein Arbeitgeber, der das System rentabel machen musste.

Das Laogai wurde zu einem Schlüsselinstrument der chinesischen Wirtschaft.

Der Profit aus den Lagern ermöglichte die Fortsetzung des brutalen Systems der Unterdrückung. Die Regierung ermutigte multinationale Konzerne zu Investitionen in China. Ergebnis: Die Lager warfen Gewinn ab und konnten ihre Produkte auf dem internationalen Markt anbieten.

Wie in der Sowjetunion kam es in den 1980er-Jahren in China zu Lockerungen und Öffnungen. Filme, Bücher und Artikel über die grausame Vergangenheit erschienen.

Die Sowjetunion implodierte.

Die chinesischen Führungen griffen hart ein, wenn sie den Machtanspruch der Kommunistischen Partei bedroht sahen. Der Gipfel war die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking am 4. Juni 1989.

In den folgenden Jahrzehnten gab es immer wieder Hoffnungen, die enttäuscht wurden. Besonders stark waren sie bei der Machtübergabe an den bis heute herrschenden Xi Jinpings im Jahr 2012.

Immerhin gehörte er und seine Familie zu den Opfern der sogenannten Kulturrevolution.

Doch der neue Anführer duldete keinerlei Kritik, auch nicht im Internet. Er schickte andere Gruppen ins Laogai: ethnische oder religiöse Minderheiten, Vertreter der Zivilgesellschaft. Das System wurde um Gefängnisse für illegal beschäftige Arbeiternehmer und politische Dissidenten ergänzt.

Für die Überwachung der 1,4 Milliarden Chinesen kommen jetzt modernste Technologien zum Einsatz. Die Deportation droht nun jedem, zu jeder Zeit und an jedem Ort.

Das Laogai bildet den Kern von Xi Jinpings Macht und erklärt den beherrschenden Einfluss, den Xi und die Kommunistische Partei über ihr Land ausüben.

                                                                  *

Vergleichbares beschreibt Tania Branigan in ihrem langen Beitrag im Guardian. Sie sieht besonders den großen Terror der sogenannten Kulturrevolution der 1960er-Jahre als prägend für das gewaltige und gewalttätige Land. Für die Autorin ist diese ein Schlüssel zur schmerzlichen Erkenntnis des heutigen Chinas:

Maos sprunghaftes Wesen, seine wechselnden Taktiken und absichtlich kryptischen Äußerungen, die politischen Intrigen an der Parteispitze, die widerstreitenden Interessen und Motive auf allen Ebenen der Bewegung, einschließlich kleinlicher Missgunst und banaler Ambitionen, die vielen Phasen, die sie durchlief, ihr schieres Ausmaß - all das macht es schwer, sie zu entschlüsseln. Selbst Chinas ideologische Brüder taten sich schwer, dieses Chaos zu verstehen: Nordkoreanische Kader verspotteten sie als 'großen Irrsinn, der weder mit Kultur noch mit Revolution zu tun hat'.

In Teilen ähnelt sie den schrecklichen Völkermorden des 20. Jahrhunderts, obwohl hier die Menschen ihre eigenen Leute töteten - die Grenze zwischen Opfern und Tätern verschob sich von einem Moment zum anderen.

In mancher Hinsicht erinnert sie an die stalinistischen Säuberungen, allerdings mit begeisterter Beteiligung der Massen. Im Gegensatz zu anderen Tragödien unter der Kommunistischen Partei Chinas war die Kulturrevolution allumfassend. Kein Arbeitsplatz blieb unangetastet, kein Haushalt blieb unschuldig. 'Komplizenschaft' ist ein zu kleines Wort - Genosse wandte sich gegen Genosse, Freund gegen Freund, Ehemann gegen Ehefrau und Kind gegen Eltern.

Der persönliche Verrat und die abrupten Kehrtwendungen zerrissen das Gefüge Chinas, die konfuzianischen Ideale des familiären Gehorsams und die neueren kommunistischen Versprechen der Brüderlichkeit. Doch diese Ära, die das moderne China geprägt hat, ist heute weitgehend vergessen. In der Vergangenheit wurde sie zwar breiter diskutiert, aber nie frei.

Die Berichte über die Schrecken dieser Zeit trugen dazu bei, die Abkehr von der sozialistischen Orthodoxie hin zum Markt zu rechtfertigen. Im Laufe der Zeit haben Angst, Schuldgefühle und offizielle Unterdrückung das Thema wieder in den Schatten gedrängt.

Bei allen individuellen und gesellschaftlichen Besonderheiten und Eigenarten bleibt die arge Erkenntnis:

Keine Großdiktatur des 20. wie des bisherigen 21. Jahrhunderts kommt ohne Zwangsarbeit aus. Das verbindet das schwächer gewordene Russland mit dem stärker gewordenen China gestern wie heute.

Doch mittlerweile verdienen westliche Großunternehmen an der Zwangsarbeit mit. Und wir bekommen günstige Waren.

Das unterscheidet das neue Unterdrückungssystem vom alten der Sowjetunion wie dem vom China unter Mao Zedong.

Gestern & Heute: Wie hängen Zwangsarbeit und Diktatur zusammen?

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Kommentare 6
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor einem Jahr

    Erleben wir das 20. Jahrhundert noch mal auf höherer Stufenleiter? Faschismen mit Atombomben ….

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor einem Jahr

      In Variationen wohl schon.

      Heute kann man die Vergleiche mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht mehr ernsthaft wegwischen. Die Gespenster und Dämonen kommen zurück.

      Allerdings fehlt heute der Glaube an große gesellschaftliche Fortschrittsprojekte. Niemand fährt nach Russland oder China oder irgendwo hin, um dort die bessere Zukunft im Entstehen zu erleben.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      @Achim Engelberg Aber das konnte man damals dort auch nicht finden. All die Revolutionen waren letztendlich Auftakt zum Chaos. Wie "The Economist" gerade schreibt:

      "Revolutionaries have the best slogans. The Bolsheviks shouted “Peace! Land! Bread!” Mao Zedong promised a “Great Leap Forward”. Che Guevara claimed to “tremble with indignation at every injustice”. Advocates of gradual change, by contrast, find it hard to compose a good rallying cry. No crowd ever worked itself into a frenzy chanting: “What do we want? Incremental reform! When do we want it? When budgetary conditions allow!”

      But as Greg Berman and Aubrey Fox argue in “Gradual”, incrementalism works. Revolutionaries promise paradise but often bring about bloodshed, bread lines and book-banning. Humanity has grown more prosperous by making a long series of often modest improvements to an unsatisfactory status quo. The Industrial Revolution, despite its name, was not a single, sudden event but thousands of cumulative innovations spread across nearly a century. “Over time, incremental reforms can add up to something truly transformative,” note the authors."

      https://www.economist....

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor einem Jahr

      @Thomas Wahl Ja, aber etliche haben daran geglaubt und fanden ein Publikum. Arthur Koestler zum Beispiel, der mit "Sonnenfinsternis" einen der frühen antistalinistischen Klassiker schrieb, fuhr wenige Jahre zuvor erwartungsvoll in die Sowjetunion hin und sah sich zunächst vieles schön. Er war einer der Starjournalisten der Weimarer Republik.

  2. Hermann J. F. König
    Hermann J. F. König · vor einem Jahr

    Siehe: das Nazi - Regime

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor einem Jahr

      Ja, man kann hier wohl Marx zitieren.

      "Ein Volk, das andere unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren. Die Macht, deren es zur Unterdrückung der andern bedarf, wendet sich schließlich immer gegen es selbst."

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