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Zeit und Geschichte

Michael Ignatieff "Weimar scheiterte nicht aus Schicksalhaftigkeit"

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
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Dirk LiesemerDienstag, 29.11.2022

Am 30. Januar 1933 ging die Weimarer Republik ihrem Ende entgegen. An jenem Tag ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den "böhmischen Gefreiten" Adolf Hitler zum Reichskanzler. Es war keine Machtergreifung, wie die Nazis behaupten sollten und wie noch lange Zeit später immer mal wieder zu lesen war, vielmehr war es eine geregelte Machtübertragung, ein staatlicher Akt führte in den Untergang.

Wie soll man sich heute, neun Jahrzehnte später, an die Katastrophe erinnern? Was ist von den Lektionen von Weimar geblieben? Und wie soll man das Thema journalistisch angehen, damit es möglichst viele Leute lesen? Klar, man hätte Heinrich August Winkler um einen Beitrag bitten können oder Christopher Clark oder Herfried Münkler.

Stattdessen hat die Redaktion des "Spiegel" einen Kanadier gefragt, und Michael Ignatieff ist eine gute Wahl, finde ich, er ist nämlich nicht nur Historiker, sondern war einige Jahre lang auch Oppositionsführer der Liberalen Partei seines Landes und bringt daher einen etwas anderen Blick mit. Er schreibt:

Der Zusammenbruch der Weimarer Republik war nicht unvermeidlich. Die Vorstellung, dass die Demokratie dem erlag, was Isaiah Berlin einst als »vast impersonal forces« bezeichnete – dem deutschen Charakter, der deutschen Begegnung mit der Moderne, der Krise des Kapitalismus, sogar der deutschen Männlichkeit – hat der Forschung nicht standgehalten. Das Experiment Weimar scheiterte nicht aus Schicksalhaftigkeit.

Ignatieff mischt in diesem (kostenpflichtigen) Essay historische Analyse und demokratischen Appell und betont, wie wichtig Persönlichkeiten, Zufall, Tugend und mangelnde Zivilcourage sind. Mit anderen, mit meinen Worten: Das Nachdenken über Strukturen ist nicht unwichtig, bleibt aber letztlich abstrakt und führt nicht wirklich zu Ergebnissen.

Für das heutige Europa sieht Ignatieff die größte Gefahr nicht in Putin oder Erdogan, sondern in einem, der seit Jahren sein Unwesen treibt, der die Demokratie ausnutzt und zum Meister für rechte amerikanische Politpilger geworden ist: Viktor Orbán. Dass der Autoritarismus, für den Orbán steht, keine Lösung ist, sei eine der Lehren von Weimar.

Erst als Hitler 1934 begann, viele seiner rechtsgerichteten Kollaborateure zu töten oder einzusperren, verstanden sie, wie blind sie gewesen waren, aber da war es zu spät. Diese Illusion – der Autoritarismus löse die Krise der Demokratie, ohne dass es zu einem offenen Faschismus komme – ist heute lebendig und wohlauf. Weimar hält viele Lektionen für uns bereit. Unsere eigene Blindheit ist die am meisten beunruhigende und relevanteste Lektion.

Das ist keine Gleichsetzung von Orbán und Hitler, sondern eine Warnung vor den blinden Flecken unserer Wahrnehmung. Ein lesenswerter Essay.

Michael Ignatieff "Weimar scheiterte nicht aus Schicksalhaftigkeit"
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Kommentare 2
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

    Danke, der Essay ist interessant.

    Diese Dialektik fand ich besonders aufschlussreich:

    "Hitler ist ohne das allgemeine Wahlrecht und die Weimarer Verfassung, die er hasste, undenkbar. Der Faschismus ist daher eine Schöpfung der Demokratie des 20. Jahrhunderts, und die Faschisten verstanden ihre Möglichkeiten besser als die Verteidiger dieser Demokratie. Sie benutzten das demokratische Mantra, dass die Macht vom Volk ausgeht, um die Unterstützung der Bevölkerung gegen die in Ungnade gefallenen und korrupten Eliten zu mobilisieren, die das Land im Ersten Weltkrieg in die Niederlage geführt hatten. Einmal an der Macht, ließ Hitler bei jedem Schritt in die Diktatur Volksabstimmungen abhalten, um seine Tyrannei mit dem Volkswillen zu begründen. Die Totengräber der Demokratie sprechen oft die Sprache der Demokratie."

    1. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor mehr als ein Jahr

      Ja, den Absatz wollte ich auch erst noch posten ...

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