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Volk und Wirtschaft

Wie zerstritten und polarisiert ist unsere Gesellschaft (wirklich)?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 11.03.2022
Arm und Reich, Querdenker und Richtigdenker, Rechte und Linke, Klimaskeptiker und Klimaaktivisten, Religionen und religiöse Fanatiker, Woke und weniger Empfindsame – die westliche Welt (und nicht nur die) scheint heillos zerstritten und polarisiert. Früher machte es sich die theoretische Beschreibung solcher Polarisierungen relativ einfach – soziale Auseinandersetzungen waren alles Klassenkämpfe, Ausdruck des Grundwiderspruches zwischen Lohnarbeit und Kapital. Und man entschied, wenn es etwas komplexer wurde, dann zwischen Haupt- und Nebenwiderspruch.
Die sozialen Großkollektive, die miteinander in eine Auseinandersetzung geraten sollten, waren Klassen, deren Konstitution man in den Eigentumsverhältnissen und der Sphäre der Produktion verortete. Dieses schismatische Zwei-Klassen-Modell ist über einen langen historischen Zeitraum eine der wirkmächtigsten Polarisierungsdiagnosen in den Sozialwissenschaften gewesen. Polarisierung wurde hier sozialstrukturell verstanden, als durch Eigentums-, Ausbeutungs- und Arbeitsverhältnisse hergestellte Klassenlagen und dazugehörige Interessenantagonismen. Die langfristige Annahme war, dass der Mittelstand zerrieben werden würde, bis sich nur noch die zwei Hauptklassen gegenüberstünden, mit der politischen Folge, dass sich die Auseinandersetzungen zwischen den Klassen intensivieren und zum unerbittlichen Klassenkampf steigern sollten.
Dieses Konfliktmodell wurde schon früh kritisiert. Vor allem die große Mittelschicht – »Weder-Kapitalisten-noch-Proletarier« – passten so recht ins Konzept. So ging der Soziologe Helmut Schelsky von der 
sozialen und politischen Dominanz einer sich in einer mittleren sozialen Lage befindlichen Mittelschicht aus, einem »Nivellement aller sozialen Schichten durch Entdifferenzierung und Auflösung der alten sozialen Klassen«. Nicht nur sei der Begriff der Klassengesellschaft immer weniger geeignet, die Gegenwartsgesellschaft zu erfassen. Ein einheitliches mittleres Sozialniveau und ein mittelständisches Sozialbewusstsein seien die Lebenswirklichkeit aller oder mindestens einer großen Mehrheit geworden, wodurch Klassenspannungen der Vergangenheit angehörten: eine »Entklassung« (Paul Nolte) sei zu beobachten.
Auch das war und ist sicher zu einfach gedacht. Viele aktuelle und überkommene Spaltungslinien lassen sich so nicht erklären. Etwa wie und warum
alte »sozialmoralische Milieus« (M. Rainer Lepsius) ausfransten und die sozialstrukturellen Lagerbildungen an Eindeutigkeit verloren. 

Der Essay von Steffen Mau zeigt nun, das sich in der Politikwissenschaft ein ganz eigener Forschungsstrang – namentlich die Cleavage-Theorie – herausgebildet hat. Mit nur spärlichem Bezug auf die Soziologie. Man analysiert ebenfalls gesellschaftliche Spaltungsstrukturen, dabei aber vor allem Parteienstrukturen und elektorale Verschiebungen. 
Mit Spaltungsstrukturen sind hier nicht notwendigerweise Klassen gemeint, sondern relativ stabile und historisch entstandene gesellschaftliche Bevölkerungsgliederungen, die gegenwärtige Formen und Inhalte von Konflikten und politischen Mobilisierungen, letztlich sogar das gesamte Parteiensystem beeinflussen. 

In den Blick genommen werden so die großen historischen Prozesse wie Nationenbildung oder Industrialisierung. Eingebunden sind Konflikte zwischen Kirche und Staat, zwischen Zentrum und Peripherie oder auch zwischen Kapital und Arbeit. Die wiederum langfristige Strukturen bei Loyalitäten, Identitäten und Solidaritäten bildeten und auch in politische Interessenvertretung mündeten. 

Bei den so verstandenen Spaltungsstrukturen kann man allgemein drei Elemente beobachten und analysieren:

- erstens eine spezifische soziale Struktur (mit einer typischen Bevölkerungsgliederung nach sozioökonomischen, aber auch regionalen, religiösen und sonstigen Faktoren), 
- zweitens ein damit verbundenes kulturelles Bewusstsein – oder eine Kultur im weiteren Sinn – und 
- drittens eine Form der politischen Mobilisierung mit eigenständigen Interessenvertretungen, sozialen Bewegungen und politischen Parteien.

Bestandteil der klassischen Cleavage-Theorie war die These der »eingefrorenen Landschaften«. Es gibt demnach relativ festgesetzte Konfliktstrukturen, die sich in jeweils spezifischen historischen Zusammenhängen herausbilden und sich nur mit einer gewissen Trägheit bewegen, weil sich soziale Basisstrukturen nur allmählich verändern. Im Verlauf der Geschichte und deren Analyse entfalteten, ergänzten und verdrängten sich nun die Interpretationen, wie der Essay sehr schön aufführt:

Mit der soziologischen Individualisierungsthese, im angelsächsischen Sprachraum zu »end of class« oder »class is dead« begrifflich zugespitzt, trat dann auch eine Interpretation hinzu, die das Aufbrechen kollektiver Lebensformen aus einem Guss, die »Entstrukturierung der Sozialstruktur« und die »Pluralisierung der Lebensstile« als wesentliche Veränderungen markierte. Die großen Spaltungsstrukturen spielten in diesen Beschreibungen des gesellschaftlichen Geländes kaum noch eine Rolle, die soziale Welt war mehr Wimmelbild als Klassenantagonismus, man befand sich nicht nur »jenseits von Klasse und Stand«, sondern auch jenseits wohlgeordneter sozialstruktureller Zuweisungsprozesse und eindeutiger Konfigurationen des Sozialen.

Dann tauchte Ende der 1990er Jahre der Befund einer neuen Konfliktlinie auf, der wieder auf eine Spaltung in zwei Lager zielte, 

welche mit Etiketten wie »Somewheres« und »Anywheres«, »Kosmopoliten« und »Kommunitaristen«, »Universalisten« und »Partikularisten«, »TAN« (Traditionalistisch-Autoritär-Nationalistisch) und »GAL« (Grün-Alternativ-Liberal) versehen wurden, ... Gesellschaft erscheint nun weder geeint noch unübersichtlich, sondern in zwei sich im Konflikt befindliche Lager sortiert: Sie wird zur schismatischen Kamelgesellschaft.
Aber es ist nicht mehr nur eine "horizontale Positionierungskonkurrenz" zwischen konservativen und kosmopolitischen Gruppen der Bevölkerung. Es ist immer auch ein Kampf der Kulturen im "Raum der Ungleichheiten": 
Aufgrund unterschiedlicher kognitiver Dispositionen, Humankapitalausstattungen, Weltbilder und kultureller Kompetenzen teile sich die Welt letztlich in ein kosmopolitisches Oben und ein kommunitaristisches Unten. Entsprechend werden die Gruppen mit hohem Bildungs- und Sozialkapital – vor allem die akademisierten und urbanen Mittelschichten – dem kosmopolitischen Pol der Konfliktachse zugeordnet und die Gruppen mit geringerer formaler Bildung und niedriger beruflicher Qualifikation dem kommunitaristischen Pol.
Insofern hätten wir es z. B. beim Aufstieg des Rechtspopulismus mit einer kulturellen Gegenbewegung zu tun, die sich gegen den Prozess der Liberalisierung in westlichen Gesellschaften richtet. Oder andersherum bei der beobachteten Linksorientierung von Volksparteien mit einer Abkehr von konservativen Werten. Der Artikel bleibt dabei erfreulich skeptisch, was die genannten Polarisierungsthesen betrifft:
Wir wissen nur unzureichend, wie die tatsächliche Kartierung der Bevölkerungsfraktionen aussieht, wenn man sie nach den genannten Merkmalsbündeln sortiert, und wir sind erst dabei, zu erkunden, wie groß die Kluft zwischen den vermeintlichen Lagern ist und wie stark sich der Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und möglichen »Gesinnungsklassen« darstellt. 
Es zeige sich eher, dass sich für die meisten Politikbereiche seit den 1990er Jahren keine wesentliche Veränderung der Einstellungsstrukturen in Richtung einer Polarisierung finden lassen. Die Migrationsproblematik seit 2015 etwas ausgenommen. Unsere Konzepte, unsere Urteile, unsere Metaphern über die Dynamiken unserer Gesellschaften sind offensichtlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Folgen wir den Wissenschaften – aber nicht als immer mal formulierte Gewissheiten und schon gar nicht in daraus extrahierten Feindbildern. Sondern in ihrer Eigenbewegung, im Einklang mit den sozialen Veränderungen und mit allen Irrungen und Wirrungen.
Wie zerstritten und polarisiert ist unsere Gesellschaft (wirklich)?

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