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Volk und Wirtschaft

Ein Gespräch über den Niedergang des Westens und des Liberalismus

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlMittwoch, 02.02.2022

Zwei Autoren und Kolumnisten, John Gray (Jahrgang  1948) und Ross Douthat (Jahrgang 1979) diskutieren den Zustand der Welt aus westlicher Sicht. Und zwar durch Gray aus atheistischer Anschauung, während Douthats Ansichten christlich fundiert sind. Wobei sie betonen, dass die gegenwärtige Dekadenz kein katastrophaler, Weimar-ähnlicher Niedergang ist, sondern eher der „normale“ Lauf der Geschichte. So meint John Gray

Der Westen nähert sich keiner Endzeit. Er ist einfach im Niedergang, ein Prozess, der in der Geschichte normal ist und alle Zivilisationen betrifft: Es sind Liberale, die apokalyptischem Denken erliegen, wenn sie sich vorstellen, dass ihre Gesellschaften von dieser universellen Wahrheit ausgenommen sind.

Es stimmt sicher, dass liberale Gesellschaften früher toleranter waren als heute. Die Frage ist, woran liegt das und wie sind diese Probleme lösbar? Sicher nicht dadurch, dass man zu der früheren Form zurückkehrt. Dazu hat sich – wie Gray richtig bemerkt – zu viel verändert. Der Wertekonsens des ursprünglichen Liberalismus existiert nicht mehr. Gleichzeitig glaubt Gray aber nicht, 
dass sich die USA oder andere Demokratien in radikal unterschiedliche Regime verwandeln. Die USA werden in keinem realistischen Szenario eine größere Version von Viktor Orbáns Ungarn werden. Die extreme Rechte könnte in diesem Jahrzehnt weitere Fortschritte in Frankreich und, wie ich vermute, in Deutschland erzielen. Aber keine Demokratie in den Industrieländern wird wahrscheinlich zu einer Diktatur werden, es sei denn, es gibt eine deutliche Verschiebung des globalen Machtgleichgewichts.

Die sich aber durchaus andeutet – und das kann gefährlich werden. Gray sieht die  blühende Demokratie in Taiwan und auch die in der Ukraine erkämpfte Demokratie durch den schnellen Rückgang der westlichen Macht, des Verfalls als Vorbild gefährdet. Bisher hatte man geglaubt, nur offene Gesellschaften können technologische Innovation und Wohlstand schaffen. China beweist wahrscheinlich gerade das Gegenteil. Zwar sind Chinas wirtschaftliche Schwierigkeiten immer wieder in den Schlagzeilen:

Das Land hat eine hohe Verschuldung, eine alternde Bevölkerung und eine enorme Umweltzerstörung. Aber es scheint auch technologisch in einem außergewöhnlichen Tempo voranzukommen, insbesondere in Bereichen, die in der Kriegsführung von entscheidender Bedeutung sind - nicht nur bei Hyperschallraketen, sondern auch im Quantencomputing. Wenn dies auch nur noch ein paar Jahre andauert, könnte Chinas militärische Überlegenheit gegenüber dem Westen (wenn eine solche Einheit dann noch existiert) überwältigend werden.

Dies, so Gray, muss keinen dritten Weltkrieg bedeuten, es sei denn, einer beginnt zufällig. Aber die gegenwärtige Lage wird sich verschärfen:  

Der Westen wird sich von der Konfrontation zurückziehen, und China und in geringerem Maße Russland wird ihre Macht und ihren Einfluss ausbauen. Was von der liberalen Zivilisation übrig geblieben ist, wird ausgehöhlt.

Douthat versucht dieser Projektion etwas Optimismus entgegenzusetzen – als relativer Optimist. Er hofft, dass interne Prozesse in den westlichen Gesellschaften die Zerfallsprozesse, also den globalen Rückzug des Liberalismus vor verschiedenen Formen nationalistischer Macht, aufhalten können.

Kann der linke Radikalismus in Regeln für Personalabteilungen von Unternehmen umgewandelt und der Postliberalismus der Rechten in eine stinknormale Art von Fox News-Partei umgewandelt werden? Ich neige dazu zu glauben, dass das möglich ist, denn Dekadenz führt nicht so einfach zum Umsturz; das Internet zähmt Radikalismus so oft, wie er ihn entzündet; und nichts hält die stetige Alterung der westlichen Welt auf. 

Worauf Gray meint, das wichtigste Defizit des Westens sei nicht der Verlust seiner angeblichen Grundprinzipien. Jahrhunderte des Historismus und Relativismus, der Aufklärung können nicht einfach zurückgedreht werden. Auch Religion wird nicht als Gegengewicht fungieren. Obwohl Papst Franziskus zum Beispiel die hyperliberale, utopische Vision einer grenzenlosen Welt zu teilen scheint.
Das wahre Problem ist ein Mangel an realistischem Denken über die sich abschwächende Position des Westens. Liegt das daran, dass unsere Staats- und Regierungschefs ihre eigenen rhetorischen Erklärungen ernst nehmen? Oder ist es so, dass westliche Kulturen jetzt zu fragmentiert und introvertiert sind, um sich einen klaren Blick auf ihren Platz in der Welt zu bilden?

Ja, vielleicht ist es so, dass die Menschheit und besonders ihre politischen Führer nicht zu viel Realität ertragen können. In der Realität wächst die politische und wirtschaftliche Macht Indiens und Chinas und das demografische Gewicht Afrikas, die bereit sind, die Welt neu zu gestalten. Noch aber gibt es keine Art von nicht-westlichem Kulturimperialismus oder Einfluss, der etwa dem der USA mit Hollywood und Coca-Cola (der das amerikanische Jahrhundert definierte) nahekommt. Diese Soft Power scheint halbwegs intakt. Weltweit sieht Douthat,
dass die dominierenden Künste und Ideen unserer Zeit immer noch recycelte westliche sind, die globalen Prominenten und Sporthelden immer noch größtenteils amerikanisch sind, und tatsächlich hat sich dieses Muster nur intensiviert, da die amerikanische politische Kultur mit der Promi-Kultur verschmilzt: Niemand ist im Moment so berühmt wie Donald Trump.

Worauf Gray antwortet, dass die westliche Macht sowohl in geopolitischer als auch in kultureller Hinsicht schnell schrumpft. Das dies jedoch nicht heißt, dass sich ein neuer globaler Hegemon abzeichnet. 

China wird den Raum, den Amerika in der Welt eingenommen hat, nicht füllen, teilweise weil es nicht von so etwas wie dem universalistischen Wertesystem angetrieben wird, das der westliche Liberalismus vom Christentum geerbt hat. Russland zielt nicht darauf ab, ein globales politisches Projekt zu fördern, wie es in Sowjetzeiten der Fall war, sondern will sich als Großmacht wieder behaupten. Der Islam ist ein universalistischer Glaube, aber zu innerlich gespalten, um eine systematische Herausforderung für das zu stellen, was von der westlichen Zivilisation übrig geblieben ist. Es wird auf absehbare Zeit keinen Nachfolger der US-Hegemonie geben.

Aber natürlich könne China durch seinen wirtschaftlichen Einfluss auf Hollywood, Silicon Valley und westliche Universitäten seinen kulturellen und politischen Einfluss weiter ausbauen. Auch Indien wird seine Kultur exportieren, teilweise durch den Erfolg seiner Diaspora. Selbst Russland, das aufgrund von Putins Autoritarismus eher kulturell abgeschrieben ist, könnte den wachsenden politischen Einfluss auf sein „nahes Ausland“ kulturell umsetzen. 

Keine dieser Entwicklungen wird auf das hinauslaufen, was Sie als „konkurrierende Weltkultur“ bezeichnen, die die einst vorherrschende Zivilisation des Westens verdrängen könnte. Die drei oder vier Jahrhunderte, in denen die Menschheit im Schatten des Westens lebte, sind sicherlich vorbei. Die entstehende Realität ist eine Welt, die nach dem Vorbild von Hard und Soft Power dezentriert und fragmentiert ist.

Also es bleibt spannend – solange es eben keinen großen Krieg gibt.

Ein Gespräch über den Niedergang des Westens und des Liberalismus

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