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Literatur

Peter Stamm: Weit über das Land

Peter Stamm: Weit über das Land

Ulla Lenze
Schriftstellerin
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Ulla LenzeSamstag, 30.07.2016

Als Kinder haben wir uns eines Abends, statt nach Hause zu gehen, versteckt. (Ach so, in den Siebzigern war es völlig normal, Kinder stundenlang  unbeaufsichtigt draußen spielen zu lassen.) Es war eine Art Experiment: Wie sehr liebten unsere Eltern uns? Wären sie ab jetzt netter? Und was überhaupt würde passieren?

Helle Aufregung, Polizeistreife, das passierte.

Das funktionierte nur einmal. Wir hatten ja eingestanden, dass wir nicht wirklich hatten weglaufen wollen – lediglich prüfen, in wieweit wir uns verweigern konnten, ja, wie viel Macht wir hatten.

In Peter Stamms Roman „Weit über das Land“ (S. Fischer Verlag, 2016), in dem ein Mann ohne Erklärung seine Familie verlässt, ist das Weglaufen kein Liebestest und auch keine bloß schreckliche Gemeinheit wie etwa das Ghosting (das plötzliche Verschwinden eines Dating-Partners). In „Weit über das Land“ erreicht das Weggehen eine Dimension, die den realistisch erzählten Roman über das Wörtlichnehmen des Erzählten zugleich hinaushebt, weil es um viel grundsätzlicheres geht: Die Aufkündigung aller zwischenmenschlichen Verbindlichkeit schlechthin. Es geht womöglich um die Reiche, in denen fortan beide Figuren, Mann und Frau, sich bewegen: Natur und Zivilisation - und ihre Unvereinbarkeit. Aber beginnen wir am Anfang:

Ein Ehepaar sitzt am letzten Ferientag bei einem Glas Wein vor seinem Haus und teilt sich die Zeitung. Es ist Abend. Aus dem Kinderzimmer dringt das Gejammer des jüngsten Kindes; Astrid geht ins Haus, um zu trösten.
Thomas steht nach einer Weile auf, geht zum Gartenzaun, und dann geht er immer weiter. Er geht in dieser ersten Nacht bis zu einer verlassenen Wohnwagenburg, bricht in einen Campingwagen ein, und am nächsten Morgen geht er weiter. Das wird protokollarisch nüchtern und ganz äußerlich erzählt, ohne dass wir Einblick bekämen in seine Motive oder Ziele.
Astrid, um Zeit zu gewinnen, erfindet am nächsten Morgen zunächst Ausreden für die Kinder, und auf der Arbeitsstelle meldet sie ihn krank. Sie beginnt nach Thomas zu suchen. Einmal kommt sie ihm recht nah, dank einer Geldkartenzahlung. Doch während ihrer Suche passiert etwas mit ihr: „Sie fürchtete sich vor dem Moment, wo er ihr gegenüberstehen und seine Beweggründe nennen und sich erklären würde. Es war, als sei ihre Beziehung durch seine Flucht in jenem Moment eingefroren.“
Sie findet ihn zwar nicht, aber nachdem sie mit der Verkäuferin spricht, hat sie Gewissheit: Er lebt. Und er will nicht gefunden werden. Er hat sich am Morgen eine Wanderausrüstung gekauft.

Peter Stamm lässt uns im Wechsel beide Figurenperspektiven erleben. Während wir Einblick in Astrids Innenleben haben, scheint Thomas keins zu besitzen. Er scheint aufzugehen in seiner neuen Aufgabe: Sich seinen Weg durch das Schweizer Hinterland zu suchen, durch Wälder, Täler und über Berge, und dabei nicht entdeckt zu werden: „Es gab nur diesen Tag, diesen Weg, auf dem er sich langsam den Berg hinaufbewegte.“

Durch seine Augen sehen wir Bushaltestellen, Wohnviertel, Lampen, Lüftungsanlagen, Rollläden, Fußballplätze, Autos. Es ist ein penibles Protokollieren seiner Umgebung, als habe sie tatsächlich etwas mit ihm zu tun. Das hat sie nicht. Man kann einen Übersprung darin sehen, oder eben auch die Logik, dass der Kokon des verbindlichen Familienlebens nur durch das radikale Gegenteil abgelöst werden kann. Stets sind es nur die unmittelbar ihn betreffenden Dinge, die ihn beschäftigen: sein Brotvorrat, ein Fluss, in dem er seine Kleidung waschen, eine Wiese, auf der er sie zum Trocknen ausbreiten kann.
Und gelegentlich wird er dann belohnt mit einem Alleinheitserleben, dank Himmel, Wiese, Kuhglocken: Passagen, in denen die Empörung, die sich beim Lesen aufbaut, kurz einem Verständnis, vielleicht sogar einer Sehnsucht nach ähnlich radikalem Ausbüchsen weicht. Bis man wieder bei Astrid ist, die verzweifelt ist, verunsichert. Thomas denkt nicht einmal an sie (und wenn, dann so, als wäre da gar kein Problem).

Die stereotype Rollenverteilung – der gewissenlose Mann, die verzweifelte Frau – könnte stören, ist aber unwesentlich. Dank der Konstellation – Ausbruch und Einbruch – werden tabuisierte, geheimgehaltene Gefühle katalysiert, die während der noch intakten Beziehung keinen Ort hatten. Sehr bald etwa wäscht Astrid Thomas’ Kleidung, als wolle sie ihn restlos aus dem Haus entfernen. Und einmal taucht dieser bemerkenswerte Gedanke bei ihr auf: „Vielleicht war ihre Liebe weniger stark als seine. Vielleicht waren ihre Zweifel an ihm in Wirklichkeit Zweifel an ihrer Liebe.“

Der Roman leuchtet psychologische Ambivalenzen aus und sorgt in dieser eigentlich simplen Ausgangskonstellation (Mann verlässt Familie) immer wieder für Überraschungen. Vielleicht auch lässt gerade die dramaturgische Schlichtheit Raum für jenes genaue Ausloten der inneren Vorgänge. Mit seinem wortlosen, erklärungsverweigernden Fortgehen verletzt Thomas alle Regeln des Zusammenlebens und gibt sich stattdessen der Natur anheim, die bekanntlich ebenso rücksichtslos verfährt - Kälte, Sonne, Regenfälle usw. Extreme, die womöglich bloß einer Vermittlung bedürften. Einmal folgt Thomas einem schwarzen Schmetterling und bemerkt, dass er sich an die Welt der Märchen erinnert fühlt, wo die Tiere anfangen, den Menschen zu führen. Vielleicht wäre die Erlösung hier zu suchen. 

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