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Europa

Wie Demokratien sterben

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlMittwoch, 03.05.2023
Demokratien können untergehen wie jedes andere politische System auch. Dass wir Demokratie für die beste Form der Politik halten, ändert daran nichts. Und die Statistik zeigt, die Zahl der Demokratien geht tatsächlich seit einigen Jahren wieder zurück. Bis Ende des 18. Jh. gab es weltweit noch keine Demokratien. Im 19. Jh. breiteten sich mit Kapitalismus und Wohlstand zunehmend Wahldemokratien aus. Im 20. Jh. kamen die liberalen Demokratien hinzu.
Den Daten zufolge ist die Welt heute etwa gleichmäßig in Autokratien und Demokratien aufgeteilt. Die meisten Nicht-Demokratien sind Wahl-Autokratien. Und mehr als ein Drittel aller Demokratien haben die zusätzlichen Individual- und Minderheitenrechte, die liberale Demokratien auszeichnen.
Gerade Letztere scheinen aber seit einiger Zeit besonders bedroht. In EUROZINE analysiert John Keane verschiedene Wege, auf denen Demokratien sterben können. Er hat völlig recht, wenn er sagt, dass es nicht der plötzliche Tod sei, der die größte Gefahr darstellt, auch wenn man sehr viele Beispiele für schnelle Zusammenbrüche finden kann.
Die Wahrheit ist, dass die Demokratie auf verschiedene Weise und in unterschiedlichem Tempo zerstört werden kann. Die langsamste von ihnen – die Umweltzerstörung – ist eine Folge des anthropozentrischen Ideals, das der Demokratie selbst zugrunde liegt.

Nun haben bisher Umweltzerstörungen schon viele Kulturen und politische Systeme zu Fall gebracht. Ich glaube auch nicht, dass der gegenwärtige Schwund demokratischer Staaten mit dem Klimawandel und der Umweltzerstörung direkt gekoppelt ist. Eigentlich müssten Demokratien, wenn sie das bessere Modell sind, hier ihre Stärke beweisen.

Es ist, wie Keane schreibt, eine lange bekannte Tatsache, 

dass der Tod demokratischer Institutionen durch allmähliche Einschnitte häufiger vorkommt, als von Katastrophisten angenommen wird. Dramen auf höchster Ebene, die sich sehr lebhaft und furios entfalten, spiegeln nur einen der Rhythmen der Demokratien wider. Es stellt sich heraus, dass der Tod der Demokratie sehr langsam erfolgen kann, durch langwierige, stetige Anhäufung von politischen Missständen auf hoher Ebene verbunden mit scharfen, riskanten Manövern.

Womit wir bei den „gradualistischen“ Interpretationen des Demokratiesterbens wären. Demokratien sind eigentlich Systeme, die sich immer am Rand der Stabilität bewegen. Die Unberechenbarkeit und Kreativität der politischen Akteure und die Komplexität der Gesellschaften führen zur Unvorhersehbarkeit der Ereignisse. Stabilität oder Untergang der Demokratie ist nie eine ausgemachte Sache. 

Der Zufall kann die Demokratie retten: Ein Demagoge stirbt plötzlich, ein Erdbeben ereignet sich, eine Bank bricht zusammen, es gibt eine Kriegsniederlage; die Dinge können immer in mehr als eine Richtung gehen. Um Marx zu paraphrasieren: Demokratiemord geschieht, weil er von politischen Akteuren unter politischen Umständen gewählt wird, die sie nicht selbst gewählt haben. Von entscheidender Bedeutung, so das gradualistische Argument, sind die erbitterten Kämpfe zwischen politischen Kräften, die für die Aufrechterhaltung und/oder Reform eines demokratischen politischen Systems eintreten, und Saboteuren, denen sein Schicksal gleichgültig ist oder die sich aktiv nach seinem Sturz sehnen. 

Ein Szenario läuft etwa so: Demokratisch gewählte Regierungen werden durch ungelöste Probleme geschwächt und zunehmend unpopulärer. Rücktrittsforderungen werden laut. Regierungsfeindliche Kräfte arbeiten heimlich an Putschplänen. Die illoyale Opposition wächst. 

Es gibt wilde Gerüchte, Befürchtungen über ein militärisches Eingreifen von außen, Gerüchte über Verschwörungen, Straßenproteste, die gewalttätig werden. Angesichts der zunehmenden zivilen Unruhen werden Polizei, Geheimdienste und Armee unruhig. Die gewählte Regierung reagiert, indem sie sich selbst Notstandsbefugnisse einräumt, das Parlament auflöst, das Oberkommando des Militärs umbesetzt und eine Mediensperre verhängt. Die Lage spitzt sich zu. ….. Während die Regierung wankt, geht die Armee …. auf die Straße, um die Unruhen zu unterdrücken, und übernimmt die Kontrolle. Das Zeitlupendrama hält an. Die Demokratie wird in dem Grab beerdigt, das sie sich langsam selbst geschaufelt hat.

Eine andere Variante des Sterbens von Demokratien oder Demozid, wie es Keane nennt, geht von demokratisch gewählten populistischen Regierungen aus,  die Institutionen der konstitutionellen Demokratie strategisch manipulieren und arglistig zerstören. Der Artikel verweist auf aktuelle Fälle wie in Ungarn, Kasachstan, Serbien, Singapur und der Türkei, wo „Demokratie mit Hilfe von Stimmzetteln ebenso effektiv zerstört werden …. wie mit Kugeln“. Es dauert etwa zehn Jahre, bis solche populistischen, demagogischen Politspiele die Elemente der Demokratie wie freie und faire Wahlen, parlamentarische Integrität, unabhängige Gerichte, freie Medien und andere Institutionen überwinden.

Unbeteiligte Zuschauer finden die Dynamik zunächst rätselhaft, weil die Zombifizierung der verantwortlichen Regierung im Namen der Demokratie erfolgt. Das Ergebnis ist jedoch zutiefst antidemokratisch: ein typischer "gekaperter" und korrumpierter "Mafia-Staat" des 21. Jahrhunderts, 

Die populistischen Tricks sind durchaus vielfältig. Nicht fehlen darf aber die „Große Erlösung“. Man verspricht "dem Volk" sofortige Verbesserungen im täglichen Leben (und überhaupt). Sei es bei der Arbeitslosigkeit, der Rente, der Inflation, beim mangelhaften Verkehrssystem oder der schlechten Gesundheitsversorgung.

Die Potlatch-Politik blüht. Es kommt zu großzügigen materiellen Geschenken - wie im Monat vor den ungarischen Wahlen 2022, als Viktor Orbáns Regierung Berichten zufolge rund 3 % des BIP für Zahlungen an bestimmte Wähler ausgab, darunter hohe Prämien für 70 000 Angehörige von Armee und Polizei, Steuerrückerstattungen für fast zwei Millionen Arbeitnehmer und eine zusätzliche Monatsrente für 2,5 Millionen Rentner.

Ein Schelm, wer hier an Sondervermögen denkt, die eigentlich Schulden sind …

Der Artikel verweist dann auf die demokratische Bedeutung der Zivilgesellschaft, die seiner Meinung nach zu oft ignoriert oder als nachträglicher Einfall behandelt wird. 

Betrachtet man die Demokratie als eine ganzheitliche Lebensform, so kann sie auf den "oberen Ebenen" der Regierung nur dann dauerhaft funktionieren, wenn die Bürger "unten" ihre Normen der Gleichheit, Freiheit, Solidarität und des Respekts vor sozialen Unterschieden in vollem Umfang leben. Die heutige Demokratie ist eine Monitordemokratie – regelmäßige Wahlen und eine Fülle von Kontrollorganen, die diejenigen, die die Macht ausüben, öffentlich hinterfragen, kontrollieren und einschränken. Normativ gesehen ist die Demokratie aber auch eine besondere Form der sozialen Interaktion und Selbstverwirklichung, in der sich Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten begegnen, sich auf Augenhöhe begegnen, zusammenarbeiten und Kompromisse schließen und sich im Allgemeinen als würdige Gleiche betrachten.“

Ein Schwall von allgemeinen Koffer-Begriffen, die wenig aussagen, in die jeder hineinlegen kann, was er will und die einen etwas ratlos zurücklassen. Er verbindet das mit eine ganzen Reihe idealisierender Annahmen und auch mit Schuldzuweisungen an den Kapitalismus und die Warenproduktion.

Demokratie bedeutet, Nein zu sagen zur unverschämten Arroganz gefühlloser Arbeitgeber, die Arbeitnehmer als bloße Ware misshandeln und ihnen das Recht verweigern, unabhängige Gewerkschaften zu bilden. Die Demokratie steht also im Widerspruch zum ungezügelten Kapitalismus, denn, wie Karl Polányi schon vor langer Zeit feststellte, führt die uneingeschränkte Kommerzialisierung des Menschen und seiner natürlichen Umgebung unweigerlich zur "Zerstörung der Gesellschaft". Sowohl die Selbstverwaltung des Volkes als auch der Kapitalismus selbst erfordern funktionell den Schutz des gesellschaftlichen Lebens vor den Verwüstungen der Warenproduktion, des Warenaustauschs und des Konsums.

Ein gezielter „Rundumschlag“ – denn eigentlich muss Demokratie jede Arroganz neutralisieren, sei es nun die von Arbeitgebern, führenden Gewerkschaftern oder von Politikern. Und auch die Arroganz der Intellektuellen (etwa in der Zivilgesellschaft selbst) ist nicht ohne Gefahr. Und wer soll denn die Selbstverwaltung des Volkes schützen, wenn nicht das Volk selbst. Die Demokratie an sich ist ja kein Akteur, sondern ein nicht idealer Prozess, dessen Erfolg von der „Klugheit“ des Volkes abhängt. Ein Faktor, eine Voraussetzung, die „die Demokratie“ selbst nicht in der Hand hat. Demokratie ist nicht die Ansammlung allen Guten und Schönen – so sehr man es sich auch wünscht. Weitere Voraussetzungen sind funktionierende Institutionen und Wohlstand, d. h. auch eine florierende Wirtschaft. Ich kenne jedenfalls keine arme Demokratie. 

Bleibt die Frage, wie sich Demokratien in schwierigen, gar katastrophalen Situationen bewähren? Keane geht von antidemokratischen Auswirkungen der Verwüstung unseres Planeten aus. 

Überschwemmungen, Brände, Seuchen und extreme Dürren sind schlecht für die Demokratie, weil die Bürger verletzt werden und sterben ….

Nun sind solche Unglücke erst einmal schlecht für die Menschen, Demokratien müssen sich hier bewähren. Demokratien scheinen aber für Keane nur funktionieren zu können, wenn sie (von wem auch immer gehalten, wie auch immer gesteuert) in gesicherten und stabilen Umgebungen „leben“. Demokratien wären also nicht resilient gegenüber internen oder externen Schocks? Dann werden sie nicht überleben. Und so fragt ein kritischer Antwortartikel (auch auf EUROZINE) unter der Überschrift "Blutlose Demokratie? Eine Antwort auf John Keane":

Bietet die Demokratie irgendeine - wenn auch nur partielle - Lösung für ökologische Herausforderungen, die von Natur aus global, nicht nur national, geschweige denn lokal sind? Oder ist die moderne Demokratie als eine manchmal schwerfällige, ja selbstzerstörerische Form der kollektiven Selbstverwaltung selbst eine Ursache für unsere offensichtliche Unfähigkeit, das Schicksal der Erde rechtzeitig anzugehen?

Die Beantwortung solcher Fragen hängt natürlich davon ab, wie wir die Demokratie definieren wollen. Keane definiert Demokratie so, als sei sie die Inkarnation alles Guten und Schönen, die "mit den Tugenden der Mäßigung und der Kenntnis der eigenen Grenzen vereinbar ist". 

Oder, wie Keane es ausdrückt: Demokratie ist Zärtlichkeit mit Kindern, Respekt vor Frauen und das Recht, anders zu sein. Demokratie ist Demut".

Kaenes Analyse, wie Demokratien sterben, ist für mich interessant, bei der Einschätzung seines Demokratiebegriffes würde ich der Antwort von James Miller folgen. 

Unnötig zu sagen, dass groß angelegte moderne Demokratien, die um repräsentative Institutionen herum gebaut sind, dazu neigen, jeden zu frustrieren, der hofft, eine direktere Rolle bei der politischen Entscheidungsfindung zu spielen, was das implizite Versprechen der Demokratie als Idee, Fantasie und tatsächlich existierende Regierungsform ist. Infolgedessen ist das demokratische Projekt in der modernen Welt von Natur aus instabil. Frustriert in der Praxis führt das Versprechen der Volksmacht immer wieder zu neuen Bemühungen, die kollektive Macht eines Volkes neu zu behaupten, manchmal durch Aufruhr und Aufstände. 

Beide Artikel zusammen sind hoch spannend.

Wie Demokratien sterben

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