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Europa

Russlands Aggression beendete die ukrainische Ambivalenz

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 17.03.2023

Der ukrainische politische Analyst Mykola Riabtschuk analysiert sehr nachvollziehbar die Wirkung der seit Jahren anhaltenden Aggressionen Russlands auf die Entwicklung der ukrainischen Nation, eingebettet in den Prozess nach der Unabhängigkeit 1991. Der Artikel ist auf Französisch, aber DeepL liefert eine sehr brauchbare Übersetzung.

Riabtschuk stellt zunächst klar, dass Putin die ukrainische Nation nicht geschaffen hat. Das Werden der Nation und der bürgerlichen Identitäten hat eine lange Geschichte. Aber Putin verstärkt mit seinen Kriegen das, was er eigentlich verhindern will. Er zerstört die alten Sympathien und den Glauben, "Brudervölker" zu sein. Er beendet das Schwanken der ukrainischen Bevölkerung zwischen Ost und West, den Traum, das Beste aus beiden Welten gleichzeitig haben zu können. Putin
heilte … einen großen Teil der ukrainischen Gesellschaft von seiner Ambivalenz – von der kindlichen Hoffnung, zu zwei Welten zu gehören, die Idee einer europäischen Zukunft zu heiraten und gleichzeitig die sowjetische Vergangenheit zu verherrlichen, inkompatible geopolitische Werte und Orientierungen zu kombinieren. 

So brach zwar das Ansehen Putins spätestens nach der Krim-Annexion 2014 bei den Ukrainern zusammen, aber die Haltung gegenüber dem großen Bruder und dem russischen Volk blieb neutral, wenn nicht sogar positiv. Die Ukrainer unterschieden noch zwischen dem "bösen Führer" Putin und seinem guten oder betrogenen Volk. Heute liegt das Niveau der positiven Gefühle bei den Ukrainern gegenüber allen Russen nahe bei null.

Bis 2014 hatten mehr als 90 Prozent der Ukrainer eine entweder neutrale oder positive Einstellung gegenüber Russland und den Russen. Weniger als 20 Prozent wünschten sich den Beitritt ihres Landes zur NATO. 2015 war der Anteil auf 50 Prozent gestiegen, 2022 über 80 Prozent (56 Prozent im „pro-russischen“ Osten). Die Unterschiede zwischen Regionen und Gruppen sind noch spürbar, aber eher quantitativ als qualitativ. Sie führen nicht zu tiefen sozialen Rissen, da eine deutliche Mehrheit jeder Gruppe auf der gleichen Seite ist. 

Inzwischen sehen sich fast alle Ukrainer mit einem absoluten Übel konfrontiert, das von außen kommt. 

Riabtschuk verweist auf einen Widerspruch, der mir auch immer wieder mal aufgestoßen ist. Mir fiel es in der Tat auch schwer, zu verstehen, 

warum ein so russifiziertes und sowjetisiertes Volk in der ganzen Ukraine so massiv für die Unabhängigkeit gestimmt hatte (über 90 Prozent im Referendum von 1991). Andererseits war nicht ganz klar, warum ein Volk, das 1991 den Bruch mit Russland und der Sowjetunion so einstimmig unterstützt hatte, so wenig geneigt schien, mit alten kulturellen und politischen Praktiken zu brechen.

Was wieder zeigt, Völker und ihre Geschichte sind keine mechanischen Gebilde, kein schwarz-weiß-Prozess und schon gar keine reine gut-böse-Veranstaltung. Mehrdeutigkeit und Ambivalenz waren nicht nur charakteristisch für die unabhängige Ukraine, aber sie führten eben zu den komplexen und teilweise chaotischen Prozessen in den 1990er und frühen 2000er Jahren. Die Grundfrage oder auch die Bruchlinie war nicht, ob man "ukrainisch" oder "russisch" war. Die ukrainische Natur stellten ja laut den Ergebnissen des Referendums die wenigsten in Frage. Die eigentliche Frage war eher, wie man "ukrainisch" sein wollte:

Entweder auf eine "mitteleuropäische" (oder "baltische") Art und Weise, was einen radikalen Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit und eine Abkehr vom Kommunismus und eine vollständige Dekolonisierung bedeutete. Oder auf eine gemäßigtere "postsowjetische" ("eurasische") Art und Weise, die für Kontinuität und Hybridität stand: Freier Markt, aber mit staatlich regulierten Preisen, Wiedergeburt der nationalen Kulturen und Sprachen, aber mit einer unangefochtenen Dominanz des Russischen, europäische Integration, aber mit der Aufrechterhaltung enger (und sehr korrupter) Verbindungen zu Moskau.

Die Ambivalenz in der Bevölkerung sah man damals ziemlich deutlich an der fast gleichen Unterstützung für einen möglichen Beitritt des Landes zur Europäischen Union oder zur von Russland geführten eurasischen Wirtschaftsunion. Das Paradoxe daran war nicht so sehr, dass jede Option die gleiche Anzahl von Unterstützern gewinnen konnte. Verrückt war, dass in beiden Fällen diese Befürworter zwei Drittel der Befragten ausmachten.

Diese Balance änderte sich ab 2012 (zwei Jahre vor Maidan). Was nicht nur von einer schrittweisen Verwestlichung der ukrainischen Gesellschaft zeugte. Es ist auch, so Riabtchouk, die unsichtbare Wirkung des "gewöhnlichen Nationalismus", wie der britische Wissenschaftler Michael Billig es in einer Theorie beschreibt. Demnach "nationalisiert" jeder Staat seine Bürger schon aufgrund seiner Existenz. 

In diesem Fall besitzen die Menschen ukrainische Pässe, nehmen an den ukrainischen Wahlen teil und verfolgen die Informationen, einschließlich der Wettervorhersagen, in der Ukraine, „in unserem Land“, wie dann allgemein formuliert wird. Man weiß, was die Worte „unser“ und „unsere“ definitionsgemäß bedeuten, wenn man „unsere“ Athleten ermutigt, „unsere“ Feste feiert, „unsere“ Regierung anprangert und stolz (oder beschämt) auf „unsere“ Geschichte ist.

Für Billig ist dieser Prozess "eine ständige Markierung oder Erinnerung an die Nation". Dazu müssen politische Führer keine übertriebenen Nationalisten sein. Es ist die bloße Existenz der Nation als ständiger Hintergrund für politisches Handeln, für die Kultur bis hin zu den Medien.

Russlands Rückkehr zum Autoritarismus hat diese Entwicklung der Ukrainer noch zusätzlich in Richtung Westen verstärkt: 

Die Art und Weise, wie Putin es geschafft hat, die Präsidentschaft 2012 wiederzuerobern, die brutale Unterdrückung der Proteste auf dem Bolotna-Platz in Moskau und die neuen Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der bürgerlichen Freiheiten hatten in der Ukraine völlig negative Auswirkungen. 

Und dann, innerhalb von zwei Jahren hat Moskau die ukrainische Ambivalenz mit der Invasion des Donbass und der Besetzung der Krim schlagartig beendet. Selbst Bürger, die positiv zu Russland standen, mussten erkennen, dass man nicht zwischen diesen zwei Stühlen sitzen kann – europäisch zu sein und gleichzeitig Putins Freund zu bleiben. Was wohl inzwischen auch viele Weißrussen, Moldawier, Georgier oder Kasachen so sehen.

Russlands Aggression beendete die ukrainische Ambivalenz

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