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Europa

Putins Geschichtserzählungen – eine Gefahr für den Frieden

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSonntag, 14.11.2021

Präsident Wladimir Putin agiert nun schon einige Zeit als "Chefhistoriker". So wie einst Stalin seine Ideen (wenn es denn seine eigenen waren)  "Über dialektischen und historischen Materialismus" in einer Geschichte der kommunistischen Partei der Sowjetunion als Dogma in die Gehirne vieler Generationen pflanzte, so versucht es nun wohl auch Putin mit der Geschichte Russlands. Nicht nur Autokraten kennen die Bedeutung von Geschichtsbildern und Erinnerungen für die Identitäten von Völkern. Letztendlich ist die Auseinandersetzung um historische Narrative immer ein politischer Kampf und auch immer ein politisches Instrument. 

Bisher hat Putin zwei Texte zur Geschichte verfasst. Sein jüngster Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ erschien im Juli 2021. Dem ging ein Text im Juni 2020 voraus;

der aus Anlass des 75. Jahrestages des Sieges über Nazideutschland erschien. Im Zentrum stand die Recht­fertigung des Hitler-Stalin-Pakts und seines geheimen Zusatzprotokolls vom August und September 1939, in denen sich die beiden Mächte verbündeten und das östliche Europa unter sich aufteilten. Sie marschierten daraufhin in Polen-Litauen ein. Dem Vorwurf, die Sowjetunion habe damit wesentlich zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beigetragen, widerspricht Putin vehement. Im Gegenteil, dafür seien im Wesentlichen Großbritannien und Frankreich, besonders aber Polen verantwortlich gewesen.

Egal, ob er die Abhandlungen selbst geschrieben hat oder nicht, die beanspruchte Autorschaft gibt den Texten eine besondere Bedeutung. Und die Stoßrichtung scheint klar: Es geht um die großrussische und sowjetische Rechtfertigung der Geschichte Russlands und der Ukraine. Und sicher auch um autokratische Richtlinien zur Interpretation der Geschichte, was wiederum bei vielen Wissenschaftlern im ehemaligen Ostblock ungute Erinnerungen hervorruft. Solche Sätze wie der folgende kennt man aus der Propaganda:

Selbstlosigkeit, Patriotismus, Liebe zur Heimat, zur Familie, zum Vaterland: Diese Werte sind auch heute für die russische Gesellschaft fundamental. Grundsätzlich darauf beruht unsere Souveränität.

Und nun geht es um die Einheit von Russen und Ukrainern, wobei Putin davon überzeugt ist, dass „Russen und Ukrainer ein Volk, ein geeintes Ganzes sind“ und  die Trennung der Ukraine von Russ­land, die Teilung des „geistigen Raums“, als „großes Unglück für alle, als Tragödie“ zu betrachten sei. Angesichts der Konflikte zwischen der Ukraine und Russland muss man das wohl von einem Staatsoberhaupt als Drohung auffassen. Schon im September 2013 erklärte er vor dem internationalen Valdaj-Forum:

„Wir haben gemeinsame Traditionen, eine gemeinsame Mentalität, eine ge­mein­same Geschichte und Kultur. Wir haben sehr ähnliche Sprachen. In dieser Hinsicht, ich wiederhole es, sind wir ein Volk. Natürlich haben das ukrainische Volk, die ukrainische Kultur und die ukrainische Sprache wundervolle Eigenschaften, die die Identität der ukrainischen Nation ausmachen. Und wir respektieren sie nicht nur, sondern, was mich betrifft, ich liebe sie. Die Ukraine ist ein Teil unserer großen russischen oder russisch-ukrainischen Welt.

In seinem Aufsatz im Jahr 2021 gibt Putin nun eine zusammenhängende Dar­stellung der russisch-ukrainischen Geschichte.

Er hat sich radikalisiert und postuliert nun die Einheit der beiden Völker ohne Einschränkungen. Er schreibt nicht mehr von der „russisch-ukrainischen Welt“, sondern nur von der „russischen Welt“, und lediglich mit Vorbehalten von einer eigenständigen ukrainischen Nation. Auch seine Liebe für das ukrainische Volk und seine Kultur ist erkaltet. Mit dem Titel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ und der These, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien, provoziert er die offizielle Ukraine und die national orientierte Öffent­lichkeit, die sich von Russland immer deutlicher abgrenzen. 

Aber er sucht politisch geschickt auch Verbündete in den Teilen der ukrainischen Öffentlichkeit, die noch immer an der Verbundenheit mit Russland, mit der russischen Sprache und Kultur hängen. Er spaltet so das ukrainische Volk.

Putins jüngster Aufsatz besteht aus zwei etwa gleich langen Teilen. Der erste Teil ist nach Einschätzung des Autors der Zeitschrift Osteuropa offensichtlich von einem oder mehreren Fachhistorikern verfasst worden. Es ist eine Abhandlung zur Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen. 

Sie ist zwar einseitig und enthält problematische Einschätzungen. Doch dieser historiographische Teil hat mit Einschränkungen einen wissenschaftlichen Charakter. Allerdings fehlen Quellennachweise ganz. 

Der zweite politische Teil trägt aber – so Andreas Kappeler – die persönliche Handschrift Putins. 

Er wiederholt bekannte Thesen, spitzt sie zu und schreckt vor Drohungen an die Adresse der Ukraine und des Westens nicht zurück. Seine Argumentation ist hier sprunghaft, zum Teil widersprüchlich und emotional.

Es ist der Mythos von der alten Rus’ des 10. bis 13. Jahrhunderts, als die Vorfahren der Russen, Ukrainer und Belarussen durch eine gemeinsame Sprache und Religion geeint waren. Durch den Mongolensturm gerieten die meisten westlichen Teile der Rus’ unter polnisch-litauische Herrschaft. Die östlichen Teile vereinten sich im Großfürstentum Moskau und dann im Russländischen Imperium. Und die Ukrainer (und Belarussen) versuchten die Jahrhunderte danach, sich von der polnischen Fremdherrschaft zu befreien um sich mit ihren russischen Brüdern „wiederzuvereinigen“. Putin

spannt den zeitlichen Bogen kühn über sechs Jahrhunderte von der alten Rus’ zur Sowjetunion. Mit dem Dogma des ewigen Strebens der Ukrainer nach „Wiedervereinigung“ mit dem russischen Volk erübrigt sich jede weitere Begründung und Legitimierung der Expansion Russlands.

Alles nicht völlig falsch, aber auch nicht ganz richtig. Die beste Lüge ist bekanntlich die Halbwahrheit. Putin behauptet etwa mehrfach, dass die Vorfahren der heutigen Ukrainer und Russen durch die Orthodoxie und die russische Sprache eng verbunden waren und sich immer problemlos verstanden hätten. Aber, 

ob die Ostslawen des Mittelalters eine gemeinsame Umgangssprache hatten, ist unbekannt, ihre Schriftsprache war das auf dem Altbulgarischen basierende Kirchenslawisch. Im 17. Jahrhundert benötigte man in Moskau für die Verständigung mit Ukrainern Übersetzer und man unterzog sie einer zweiten Taufe, da man befürchtete, dass ihr Glauben vom Katholizismus verdorben worden sei. Die ukrainische Schriftsprache dieser Zeit bezeichnet Putin despektierlich als „Dialekt“ (govor). Die beschworene konfessionelle Einheit wurde unterbrochen durch mehrfache Versuche einer nicht Moskau, sondern direkt Konstantinopel unterstehenden Kiever Metropolie, die in der Mitte des 15. Jahrhunderts Erfolg hatten. Erst im Jahr 1686 wurde sie unter russischem Druck dem Moskauer Patriarchen unterstellt.

Putin erwähnt dann den Stalinismus, den Terror und die Politik der Russifizierung nicht. Ebenso verschweigt er die von der Sowjetführung herbeigeführte Hungersnot, den Holodomor, in der Millionen Ukrainer starben.

Glaubt Putin, was er schreibt? Manches spricht dafür, gerade auch die emotionale Färbung des Aufsatzes. Putin ist persönlich betroffen von der zunehmenden Russlandfeindlichkeit in der Ukraine. Er ist groß geworden mit den Parolen der Völkerfreundschaft und der Vorstellung, dass Russland und die Russen das Sagen haben, dass der ältere Bruder von seiner jüngeren Schwester geachtet und geliebt wird, und der sie seinerseits liebt, solange sie nicht aufbegehrt. Sein Aufsatz belegt, dass er – und mit ihm viele andere Russen – noch immer nicht akzeptiert hat, dass die Ukrainer eine eigene Nation mit ihrer eigenen Geschichte und Kultur sind und einen von Russland unabhängigen Staat haben. Er macht klar, dass Russland sich mit einem Ausscheiden der Ukraine aus der von Russland reklamierten und dominierten Interessensphäre nicht abfinden wird. 

Interessant auch, was die NZZ über das politische Naturell des KGB-Mannes Wladimir Putin sagt.

Putins Geschichtserzählungen – eine Gefahr für den Frieden

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Kommentare 2
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 2 Jahre

    Das Schlimme daran ist, dass ja eine gemeinsame Kultur und Welt ok wäre, ja - dass so etwas wie eine funktionierende GUS für den Osten ein Segen wäre. Aber mit diesem Russland? nein. Schade. und eine Bedrohung nicht nur für die Ukraine.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

      Nur, wenn diese gemeinsame Kultur gewaltsam hergestellt wurde oder werden soll, dann ist das keine wirkliche Gemeinsamkeit. Das Zarenreich war im Grunde eine Kolonialherrschaft und die UdSSR auch. Und eine solche Kolonialgeschichte macht eine Aussöhnung in einer "guten" GUS erst mal fast unmöglich.

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