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Europa

Europas Geschichte aus der Sicht eines liberalen Internationalisten

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSamstag, 22.04.2023

Es gibt ein neues Buch von Timothy Garton Ash, der sich selbst als liberalen Internationalisten sieht.

In seinem neuen Buch «Europa» ringt er um Positionen in der gegenwärtigen Krise und spannt dazu einen historischen Bogen von 1945 bis heute. Es ist ein persönlicher Rückblick auf die europäische Integration, angereichert mit alten Tagebucheinträgen, die den Historiker als emotionalen Teilnehmer der Geschichte zeigen.

Timothy Garton Ash ist sicher ein Mensch, den man als leidenschaftlichen Europäer bezeichnen kann. Wie er im Prolog zum Buch schreibt:

Es war das Jahr der Wunder, 1989. Freiheit und Europa — die beiden politischen Anliegen, die mir am meisten am Herzen liegen — marschierten Arm in Arm zu den Klängen von Beethovens 9. Symphonie voran und kündigten eine friedliche Revolution an, die ein neues Kapitel der europäischen und der Weltgeschichte aufschlagen würde. Kein Teil des Kontinents war mir mehr fremd. Ich lebte das Paradoxon, das den Wesenskern eines zeitgenössischen Europäers ausmacht: Ich war im Ausland zu Hause.
Ein Gefühl, dass wahrscheinlich viele von uns kennen – die Hoffnung auf einen freien und vereinten Kontinent als Vorbild für die Welt. Ich werde es nie vergessen, die erste Bahnfahrt von Ostberlin über Köln nach Enschede/Twente zum Treffen im EU-Projekt "Small and medium enterprise developement". Die langen Gespräche bis tief in die Nacht. Darüber, wie wir jeweils so geworden sind und was nun möglich war. Wir sahen eine neue europäische Ordnung heraufziehen – mit offenen Grenzen, der Einhaltung von Menschenrechten und friedlichen Konfliktlösungen. Das Ganze natürlich im Wohlstand und als Vorbild für den Rest der Welt (der sich sicher anschließen würde. Das Ende der Geschichte eben). All das scheint gerade irgendwie im Strudel der Realgeschichte zu verschwinden.

Bei T. G. Ash wird mir nun wieder die ganze Widersprüchlichkeit des vergangenen europäischen Jahrhunderts bewusst. Über seinen Vater, der immerhin am D-Day mit der ersten Welle am Strand der Normandie landete und sich dann mit den Befreiern quer durch Nordeuropa kämpfte, um 1945 das Kriegsende irgendwo in der norddeutschen Tiefebene zu erleben, schreibt er:
Für meinen Vater war Europa definitiv fremd, und die Europäische Union war einer jener »schurkischen Pläne«, die zu durchkreuzen unsere Nationalhymne den patriotischen Briten aufruft. Einmal schenkte ich ihm zu Weihnachten einen großen Schokoladen-Euro, den er prompt mit theatralischem Zähneknirschen verschlang. Er, der lebenslange, aktive Konservative, ist im Alter zu meinem Entsetzen kurzzeitig zur UKIP, der UK Independence Party, übergelaufen. Wäre er 2016 noch am Leben gewesen, hätte er zweifelsohne für den Brexit gestimmt.

Also, warum geht der ganze Mist scheinbar wieder von vorne los, vom ich und wir gegen die anderen? Sehen wir hier den Verlauf einer Dekadenzgeschichte, die um das Jahr 2000 die europäische Hybris in sich trägt – wie es die NZZ im Artikel formuliert? Als Folge der Selbstüberschätzung der europäischen Eliten und Bürger? Von der kapitalistischen Schocktherapie in Osteuropa, der Globalisierung der Finanzmärkte über die Einführung der Währungsunion und Diktate internationaler Beamter über gewählte Regierungen in der Krise der Eurozone bis hin zur Flüchtlingskrise, dem Brexit und dem Ukrainekrieg – Wunschdenken und Realitätsverlust?
Europa behandelte viele dieser Probleme, als wären sie technische Aufgaben einer abgeschlossenen Weltgeschichte. Bald schien man sich als Berater Indiens und Chinas verantwortlich zu fühlen und trug den weltweiten Krieg gegen den Terror mit. «Wir liberalen Internationalisten», schreibt Garton Ash, «haben der anderen Hälfte der Welt zu Recht viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber dabei haben wir die andere Hälfte unserer eigenen Gesellschaften aus dem Blick verloren.» Auch die Tatsache, dass Russland unter Putin sich noch an der Zeit vor 1989 orientierte, behandelten viele in Westeuropa als vernachlässigbar.

Garton Ashs Buch enthält kein geschlossenes Lösungsszenario. Wahrscheinlich kann es diese gar nicht geben. Wir sollten von solchen Großplanungen nichts erwarten. Aber er zeigt offensichtlich die Komplexität von Wirklichkeit, die nicht zu dem verbreiteten Schwarz-Weiß-, Freund-Feind- oder Rechts-Links-Denken unserer Zeit passt. Nehmen wir das Beispiel Polen, wo sich zu Beginn der 1980er-Jahre eine unerwartet mächtige historische Kuriosität ereignete. 

In der Danziger Lenin-Werft organisierte sich gegen das herrschende kommunistische Regime eine Streikbewegung, aus der bald die Gewerkschaft Solidarnosc hervorging. Über dem Tisch des Streikkomitees entdeckte Garton Ash ein Kruzifix. Vor den Toren der Werft wurde eine Messe gefeiert und über die Lautsprecheranlage übertragen. «Die Madonna streikt», hiess es auf einem Schild. Manche westliche Linke zeigten sich irritiert. Wie war diese Verbindung von Katholizismus, Sozialismus und freiheitlichem Aufbruch zu verstehen? 

Mit Solidarnosc sahen wir eine «beispiellose Mischung» aus Sozialismus, Christentum, Nationalismus und Liberalismus. Überhaupt sollten wir viel genauer die Prozesse und Erfahrungen aus der Geschichte und verstärkt auch aus der in Ost- und Mitteleuropa reflektieren. Wozu sollten sonst die ganzen Irrungen und Wirrungen gut gewesen sein? Das ist ein Wissensschatz, der unter Vorurteilen begraben liegt. Da folge ich Timothy Garton Ash unbedingt.
Europas Geschichte aus der Sicht eines liberalen Internationalisten

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Kommentare 2
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor einem Jahr

    Das scheint ein interessantes Buch zu sein. Gustav Seibt lobt es in der SZ sehr, schränkt aber so ein:

    Und doch streift Garton Ash das Grundproblem der EU nur, ohne es wirklich auszubuchstabieren, vielleicht weil er sich nur wenig für Frankreich und fast gar nicht für Italien interessiert: das gerade in diesen Ländern scharf gefühlte Demokratie-Defizit der kontinentalen Union. In der romanischen Welt wird am historischen Zusammenhang von Demokratie und Nationalstaat bewusster festgehalten als in Deutschland. Aber auch im Osten Europas stößt der europäische Abbau des Nationalen nach seiner Unterdrückung im sowjetischen Imperium auf neue Widerstände. Volksabstimmungen über die EU wurden immer wieder verloren.

    https://www.sueddeutsc...

    Für Berliner oder in Berlin sich Aufhaltende:

    Montag, 15. Mai 2023, 19 Uhr I Allianz Forum, Pariser Platz 6, 10117 Berlin
    Timothy Garton Ash über »Europa. Eine persönliche Geschichte«

    Exklusiv in Berlin: Timothy Garton Ash stellt am 15. Mai 2023 im Allianz Forum sein neues Buch »Europa. Eine persönliche Geschichte« [Hanser Verlag, 2023; aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn] vor.

    Timothy Garton Ash ist leidenschaftlicher Europäer. Schon vor 1989 wollte er sich nicht mit der Teilung des Kontinents abfinden, bis zuletzt kämpfte er gegen den Brexit. Nun schreibt er seine ganz persönliche Geschichte Europas, die 1945 mit der Stationierung seines Vaters als Besatzungssoldat in Deutschland beginnt. Er erzählt von Freunden wie Václav Havel, erinnert sich an den Mauerfall, berichtet vom Jugoslawienkrieg, der Eurokrise und dem Flüchtlingsdrama und liefert eine scharfe, eindringliche Analyse der neuesten europäischen Geschichte. Der Angriff auf die Ukraine zeigt, wie dringend wir einen freien und geeinten Kontinent brauchen – niemand verkörpert diese Idee überzeugender als Timothy Garton Ash.

    Der Eintritt ist frei, wir bitten um Anmeldung über den Erwerb von Freitickets bis zum 1. Mai 2023. Die Veranstaltung findet auf Deutsch und in Kooperation mit der Allianz Foundation statt.

    https://ticketshop-tim...

  2. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor einem Jahr

    Siehe auch hier:

    https://www.welt.de/ku...

    "Timothy Garton Ash scheint dieses Phänomen zu beschreiben, wenn er Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ zitiert und sich wundert, wieso vor ein paar Jahren plötzlich – insbesondere in der englischsprachigen Welt – so viel über das Buch des österreichischen Schriftstellers gesprochen wurde. Hatte es allein damit zu tun, fragt Garton Ash, dass es 2009 in einer neuen englischen Übersetzung wieder aufgelegt wurde? Oder erkannten die Menschen in seinen melancholischen Memoiren prophetische Zeichen für eine Welt, die wieder einmal am Rande der Katastrophe steht?

    Garton Ash zitiert den Schriftsteller Daniel Kehlmann, der sagte, die aktuelle Popularität des Buches sage „viel über unsere Zeit, unsere Ängste, unser Gefühl, dass womöglich gerade etwas unwiederbringlich zu Ende geht“. Garton Ash verbindet diesen Gedanken des Endes mit einem weiteren Ende, dem des Bruchs der bisherigen Nachkriegsidee Europas durch den Krieg in der Ukraine. „Schauen Sie sich diese Gesichter um uns herum an“, zitiert er eine Frau am Bahnhof von Kiew, „sie sind genau dieselben wie auf den Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg.“ Die Nachkriegszeit und die Nachwendezeit enden mit dem neuen Krieg, so Garton Ash. Was kommt, kann ein Historiker nicht vorhersagen, aber einen Eindruck davon, was Europa einmal gewesen ist, vermittelt er brillant."

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