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Jetzt wissenschaftlich belegt: Großstädte stressen

Oskar Piegsa
Redakteur DIE ZEIT
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Oskar PiegsaDonnerstag, 27.10.2022

Menschen, die in Großstädten wohnen, sind blasiert. Diese These des Soziologen Georg Simmel ist bald 120 Jahre alt, wird aber immer noch gern zitiert (etwa hier im Feuilleton der ZEIT). 

Wörtlich schrieb Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben:

Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit. Sie ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize, aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen Intellektualität hervorzugehen schien. 

Laut Georg Simmel ist die Blasiertheit ein Selbstschutz, eine Eigenschaft, die »eigentlich schon jedes Kind der Großstadt im Vergleich mit Kindern ruhigerer und abwechslungsloserer Milieus zeigt«.

Übersetzt in unsere heutige Sprache kann man die These so zusammenfassen: Großstädter schotten sich ab gegen die Reize, die auf sie einprasseln. Diese Haltung schreibt sich in ihre Körper, in ihr Denken und in ihr Wahrnehmen ein. Sie sind einfach cooler als andere Menschen. Hier gibt es Simmels Aufsatz im Volltext.

Klingt ganz gut, oder? Ist aber Blödsinn. Oder: Schön gedacht, aber empirisch leider inzwischen widerlegt. 

Über das Geistesleben der Großstädter wissen wir heute:

»Die Amygdala, eine zentrale Hirnregion, die an der Stressverarbeitung beteiligt ist, ist bei Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, nachweislich weniger aktiv als bei Stadtbewohnern.«

Großstädter sind also gestresster als andere Menschen. So steht es in der neuen Ausgabe der Zeitschrift der Max-Planck-Gesellschaft. 

Unklar war bisher die Frage nach der Kausalität: Ziehen entspannte Menschen in die Großstadt und sind dort plötzlich gestresst? Oder zieht die Großstadt die ohnehin schon gestressten Leute an? Eine Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin hat versucht, das zu klären, indem sie 63 Testpersonen vor und nach einem einstündigen Spaziergang untersuchte.

Ergebnis: Jene, die eine Stunde lang im Wald spazierten, hatten danach eine weniger aktive Amygdala als andere, die eine Stunde lang in einer Berliner Einkaufsstraße unterwegs waren. Etwas ausführlicher und mit Links zu den entsprechenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen gibt es das im gepiqden Text.

Wie viele Erkenntnisse wirkt auch diese im Nachhinein banal: Aber selbstverständlich ist ein Waldspaziergang entspannender als das Geschubse und Gerempel, der Lärm und der visuelle Spam in einer Shopping-Straße!

Jetzt haben wir es schwarz auf weiß. Und damit auch die Gewissheit, dass einer der klassischen Texte der Kultur- und Stadtsoziologie leider nicht mehr in Gänze haltbar ist. Mag sein, dass es in der Großstadt viele Menschen gibt, die nach außen blasiert und supercool wirken. Aber in ihnen drin rumort es – und ein Waldspaziergang täte ihnen sicher ganz gut.

Jetzt wissenschaftlich belegt: Großstädte stressen

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Kommentare 17
  1. Theresa Bäuerlein
    Theresa Bäuerlein · vor mehr als ein Jahr

    Das ist interessant, und ich möchte dazu noch ergänzen, dass drei Tage in der Natur noch viel besser wirken als ein einzelner Spaziergang. Diese Zahl ist nicht zufällig, das ist der sogenannte 3-Day-Effekt, hier nachzulesen, falls es interessiert :) https://www.nationalge...

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

    Naja, das ist oberflächlich, so allgemein auch falsch. Man kann nicht die armen Viertel, die zuweilen Slums sind, mit den Reichenviertel gleichsetzen.

    Da gerade der große Stadthistoriker Mike Davis gestorben ist, ein Repiq mit etlichen Nachrufen, der ein genaueres Bild von Großstadt gibt:
    https://www.piqd.de/su...

    1. Oskar Piegsa
      Oskar Piegsa · vor mehr als ein Jahr

      Ich verstehe Ihren Einwand nicht. Sagt doch keine*r, dass es keinen Unterschied zwischen dem Leben in Slums oder Villenvierteln, in Armut oder Reichtum gäbe.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      @Oskar Piegsa Im Piq und im Beitrag wird ein wenig differenziertes Bild von Stadt benutzt, was schon bei der Überschrift beginnt: "Großstädte stressen".

  3. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

    Meine Empfehlung: Waldbaden zum Stressabbau auf www.quarks.de/gesundhe...

    Und hier als Juwel zum real-time Relaxing ein Trailer (2 min): www.ardmediathek.de/vi...

    Wer mehr über den Wald wissen möchte: www.ardmediathek.de/vi... (45 min). Die ganze Sendung fand ich nicht nur entspannend, sondern auch erkenntnisreich, erinnere mich noch an die Kommunikation zwischen den Bäumen via Wood Wide Web.

    Die MPG-Studie untersucht am Ende ja nur die Wirkungen auf den Menschen. Hier ist bestimmt noch ein weites Feld, die konkreten Kommunikationsmechanismen Wald-Mensch zu ergründen...

  4. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Und wie ist es nach einer Stunde Biergarten? 😏

    1. Oskar Piegsa
      Oskar Piegsa · vor mehr als ein Jahr

      Als Norddeutscher schaue ich neidvoll nach München und würde sagen: Ein Besuch im Biergarten hilft gegen fast alles.

  5. Martin Peschken
    Martin Peschken · vor mehr als ein Jahr

    ....und schon die Überschrift "Wie beeinflusst die Natur das Gehirn?" Da könnte ich schon ausflippen. Die Natur! Bitte, was soll das denn sein? Das Feld mit dem anmutig geschwungenen, sauber angelegten Weg wie auf dem Artikelbild? Oder das Gehirn, das beeinflusste? so vorgestrig

    1. Theresa Bäuerlein
      Theresa Bäuerlein · vor mehr als ein Jahr

      Verstehe den Punkt, wie würdest du es formulieren?

    2. Martin Peschken
      Martin Peschken · vor mehr als ein Jahr

      @Theresa Bäuerlein Erstmal möchte ich mich für meinen Ton entschuldigen, weiß gar nicht warum mich das so aufgeregt hat. Ich würde hier einfach gar nicht von Natur reden, sondern von Landschaft - aber halt: dann müsste man präziser sagen, was für eine Art Landschaft (es gibt ja auch die Stadtlandschaft), und da bleibt der Artikel eben vage. Ist die Studie auch so vage? Für eine naturwissenschaftliche Institution Max-Planck-Gesellschaft in einer Zeit, da "Anthropozän" schon zum relativ verbreiteten Wortschatz gehört, ist so ein naiver Gebrauch von "Natur" meiner Meinung nach falsch betriebener "outreach".

    3. Oskar Piegsa
      Oskar Piegsa · vor mehr als ein Jahr

      @Martin Peschken Fairerweise sind das natürlich (ups, vielleicht besser: selbstverständlich) unterschiedliche Akteure: Die Forschenden einerseits und die Leute andererseits, die die Wissenschaftskommunikation in Richtung eines Laienpublikums betreiben. Ich würde denken, dass das Foto nicht viel mehr aussagt, als dass sie beim MPI die Kommunikationsbudgets noch aufstocken könnten, damit die Online-Redakteur*innen nicht auf so nichtssagende aber billig zu habende Stockphotos angewiesen sind.

  6. Martin Peschken
    Martin Peschken · vor mehr als ein Jahr

    Das ist alles so furchtbar kurz gegriffen: Mit Blasiertheit meinte Simmel doch dieses "Ich hab schon Pferde kotzen sehen", statt naives (egal ob man das jetzt positiv oder negativ findet) Exaltiertsein über jede Neuigkeit oder Andersartigkeit. Also eine Umgangsweise mit Stress, der ja - wie Simmel selbst sagt - in der Stadt deutlich höher ist. Wie die ländlich aufgewachsene Amygdala im Frankfurter Bahnhofsviertel anschwillt, das möcht ich nicht wissen. - Aber das mal beiseite: am wenigsten Stress hat man im Grab. Und da muss man sich auch weniger mit den Problemen auseinander setzen, die die Welt so umtreiben, in der Nähe und der Ferne. Herzlichen Glückwunsch! - Oder: wenn ich auf dem Land Zank mit einem einzigen Nachbarn habe, kann das auch sehr stressig werden. - Und: ich liebe es, ab und an auf dem Land zu sein. Bemerke aber auch, dass ich im Innern kleiner werde insofern, als dass ich die Andersartigkeit von anderen-die-auch-da-sind weniger gut ertragen kann. Insofern kann man wieder einmal sagen, dass "wissenschaftliche" Erkenntnisse, wenn sie übersetzt werden in andere Zusammenhänge, auch Kontext brauchen und nicht so kurzschlüssig zum Großstadt-Bashing verwendet werden sollten.

    1. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      ja so gings mir auch...
      Ich bin zB Landei und kann berichten, dass meine Amygdala (was auch immer das ist) hart anschwillt in der Stadt. Klar viel Gewohnheit dabei, aber es ist ja letztlich auch schlicht völlig banal, dass die Summe der Reize (Gesichter, Bilder, Bewegungen, Geräusche, Konfrontationen, Handlungsbedarf) einen Unterschied macht in Sachen Stress. Setzt sich ja keiner samstags in die Einkaufsstrasse zum Meditieren.

    2. Oskar Piegsa
      Oskar Piegsa · vor mehr als ein Jahr

      No offense, aber dass Sie hier von "Großstadt-Bashing" getriggert werden, deutet vielleicht doch auf eine Amygdala am Limit?

    3. Martin Peschken
      Martin Peschken · vor mehr als ein Jahr

      @Oskar Piegsa Gut, gut, vielleicht hab ich ein bißchen hochtourig geschrieben. Aber das Großstadt-Bashing (ob ich es nun so nenne oder Schelte gegen die "Hure Babylon" oder wie auch immer) ist doch eine ideologische Debatte, die ihre Spuren hinterlassenhat - auch darin, wie wir heute "objektive" wissenschaftliche Daten deuten.

    4. Oskar Piegsa
      Oskar Piegsa · vor mehr als ein Jahr

      @Martin Peschken Ich finde Ihre Antwort fair und hilfreich, auch wenn ich Ihre Eindrücke zu einem angeblichen Stadtbashing nicht teile — ich sehe nicht, wo das stattfinden sollte. Aber egal, das ist ja hier vielleicht gar nicht der Punkt.

      Ich würde es andersherum sehen: Nicht, dass sich aus dem Experiment der MPI-Forschenden Argumente gegen die Stadt per se ableiten lassen, sondern vielmehr, dass es gefühlte Wahrheiten empirisch untermauert, die für die Stadt- und Raumplanung bedeutsam sind.

      Wir erleben ja gerade in mehreren deutschen Großstädten eine Nachverdichtung, bei der auch Grünanlagen, Sportstätten und dergleichen zur Verhandlungsmasse werden.

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