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Klima und Wandel

Die Zahlen, die zählen: Fit-for-55 im Gesetzgebungsprozess der EU

Dominik LennéDonnerstag, 07.07.2022

Im Moment ist die EU-Taxonomie für Energie-Investitionen in aller Munde, wo es um unscharfe, aber dafür aufgeladene Worte geht wie "nachhaltig" und "grün". Die Klimawirkung des Taxonomiebeschlusses ist kaum zu quantifizieren. Es sind aber die Zahlen, die zählen, und die stehen in den Gesetzentwürfen, die die Kommission im Juli 2021 unter dem Titel "Fit for 55" veröffentlicht hat. Der Name spielt auf das dort formulierte Reduktionsziel für die jährliche CO₂-Emission der EU an: 55% weniger als 1990.

Am 8. Juni ist für den größeren Teil der zum FF55-Paket gehörenden Gesetze Einigkeit im Europäischen Parlament (EP) erzielt worden. Das Gesamtpaket scheiterte jedoch an diesem Tag spektakulär wegen dreier Gesetze: über die Reform des Emissionshandelssystems, die Einführung des Grenzausgleichs und den Klimasozialfonds. Am 22. Juni wurde es dann nach einigen weiteren Kompromissen angenommen, die eine erhebliche Verschlechterung gegenüber dem Entwurf des Umweltausschusses darstellen. 

Der gepiqte Text der EP-Presseabteilung gibt einen Abriss der umstritten gewesenen drei Fit-for-55-Gesetze und Links zu den Anderen, über die man sich bereits am 8. Juni geeinigt hatte. 

Um das Ganze in einen Rahmen zu setzen, hier ein kurzer Exkurs über das Gesetzgebungsverfahren der EU. Es sieht vor, dass die 

(1) Kommission die Initiative hat und einen Gesetzestext vorschlägt. Das Parlament macht daraus - wenn es die Initiative nicht gerade unverändert übernimmt - 

(2) einen in seinem Sinne verbesserten Vorschlag. Der wird in der Praxis vom Fachausschuss formuliert und muss dann vom Parlament gebilligt werden. Der für Klimafragen zustädige heißt ENVI. Dann geht der Text zum Rat der EU*, auch kurz Rat oder Ministerrat genannt, in dem die jeweiligen Fachminister, in unserem Fall die Umweltminister, sitzen. Wenn dieser nicht mit dem EP-Vorschlag übereinstimmt, arbeitet er 

(3) einen "gemeinsamen Standpunkt" (typischer EU-Jargon) aus, der ans Parlament zurückgeht. Das kann diesen dann 

(4) ablehnen, annehmen oder nochmals ändern. Die Kommission kann die Änderungen ablehnen, was aber vom Rat überstimmt werden kann. Am Ende landet der Entwurf 

(5) in einem gemeinsamen Vermittlungsausschuss, wo man sich dann zusammenraufen muss. 

Das EP hat nun also Punkt (2) erledigt und in einem schwierigen Prozess eine Position formuliert, die den Kommissionvorschlag teils übernimmt, teils modifiziert.

Auch der Rat hat inzwischen seine Verhandlungs-Ausgangsposition festgelegt, die sich in einigen wesentlichen Punkten von der des EP unterscheidet. Damit ist auch Punkt (3) erledigt.

Die Vorschläge des Rats sind weniger ambitioniert als die des Parlaments, die ihrerseits weniger ambitioniert sind als die der grünen Fraktion. Eine empfehlenswerte, (wenn auch blossmäßig etwas unübersichtliche) Analyse dazu hat der grüne Europaabgeordnete Michael Bloss hier geliefert.

Im Folgenden eine nicht vollständige Liste von Themen, um die es geht:

  • Reform des Emissionsobergrenzensystems (Emissions Trading System, EU-ETS). Das EP will, dass die ETS-Emissionen schneller sinken, so dass sie 2030 nur noch 33% der Emission von 2005 betragen, während Kommission und Rat 39% erlauben möchten. Während die Kommission einen jährlichen Reduktionsbetrag von 4,2% des Basiswerts** vorsieht, möchte das EP einen schrittweise von 4,4 bis 4,6% zunehmenden Reduktionsfaktor. 
  • Der Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM). Er soll den Kostennachteil der EU-Industrie gegenüber Ländern ohne vergleichbare Emissionskosten ausgleichen, indem er Zertifikatkaufzwang für importierte Güter einführt.*** Bisher wurde die Industrie durch Gratiszertifikate von diesem Kostennachteil befreit. Als Resultat war ihre Emissionsverminderung gleich Null - was einen gewissen Handlungsbedarf erzeugt, um es milde auszudrücken. Der Kommissionsvorschlag sieht einen linearen Abbau dieser Gratiszertifikate von 2026 bis 2035 vor, das EP will das Ende bereits 2032. Der Rat möchte den Endzeitpunkt der Kommission übernehmen, aber den Abbau anfangs langsamer durchführen, um der Industrie noch mehr Zeit zur Dekarbonisierung zu geben.
  • Die Einführung eines zweiten Emissionsobergrenzensystems (EU-ETS2). Auch die Emissionen des Verkehrssektors sanken nicht. Die des Gebäudesektors sanken zwar, aber zu wenig. Die Anstrengungen der Einzelregierungen, in deren Zuständigkeit diese Sektoren bis jetzt liegen, sind nicht ausreichend. Deshalb - und um größere Einheitlichkeit der Methode herzustellen - wird ein zweites Cap-and-Trade-System eingerichtet, das EU-ETS 2****. Akteure dort sind nicht die Verbraucher, sondern die Händler von Kraft- und Brennstoffen, die die Zertifikate kaufen und entwerten müssen. Kommission und Rat wollen eine gleichzeitige Einführung für Alle, während das EP eine gestufte Einführung vorzieht: von 2026 - 2029 sollen nur gewerbliche Emissionen verteuert werden; erst danach sollen auch Private erfasst sein. Die Lösung des EP ist administrativ komplex. 
  • Der Klimasozialfonds soll die weniger betuchten EU-Bürger|innen von der schlimmsten Wirkung der zu erwartenden Energiepreissteigerung abschirmen. Seine Höhe ist an die Einnahmen aus dem ETS2 gebunden (25%). Er soll nach EP-Willen 2026 zu arbeiten beginnen, obwohl Privatleute erst 2029 direkt vom ETS2 betroffen sein werden. Der Sinn ist wohl, dass sie in dieser Zeit emissionssparende subventionierte Maßnahmen treffen können, aber ich bin mir nicht sicher. Gemäß Kommission sollen die Einzelstaaten das Geld verteilen und dabei noch einmal die gleiche Summe dazulegen. Dies wird vom Rat abgelehnt, der auch eine Begrenzung des Fonds nach oben möchte.
  • Emissionen von Kraftfahrzeugen. Hier geht es auch um das Ende des Verbrenners 2035 (letzthin in allen Medien) - ein m.M.n. unwichtiger Punkt, weil alle Autofirmen bis dahin ohnehin längst umgestellt haben werden. Es geht auch um Flottenemissionen - also eine zum ETS2 redundante Maßnahme, aber Redundanz schadet nicht. 
  • Kohlenstoffbindung durch Landnutzung. In den letzten Jahren entnahmen EU-Wälder um die 250 Mt CO₂ pro Jahr mehr aus der Atmosphäre als durch die Landwirtschaft emittiert wurden. Das sind ca. 7% der aktuellen Gesamtemission. Dieser Wert soll bis 2030 auf 310 Mt/a ansteigen. Das werden ca. 15% der dann niedrigeren Gesamtemissionen sein. Der Kommissionsentwurf sah nur 225 Mt/a vor.
  • Schärfere Anforderungen im Effort Sharing Regulation (ESR) Bereich, d.h. an die einzelnen Mitgliedsstaaten. Der ESR deckt 60% der Emissionen ab, das ETS 40%. Zum ESR-Bereich siehe auch die kurze Übersicht in meinem ETS-Webinar
  • Einbeziehung aller in der EU startenden Flüge ins EU-ETS - ein Bruch mit dem geltenden Verfahren, nach dem nur inner-EU-Flüge im EU-ETS sind. Hier geht das EP sensationell weiter als Kommission und Rat, die die alte, kastrierte Regelung behalten wollen. Diese Forschheit ist nicht ohne: heftige Proteste aus dem Rest der Welt sind zu erwarten. Beim letzten Versuch verboten die USA beispielsweise ihren Fluggesellschaften direkt, eine eventuelle Emissionsabgabe zu bezahlen. Die Einbeziehung ist längst überfällig. Sie geht allerdings nicht auf die Treibhauswirkung der Kondensstreifen ein. Hier sind noch Luft nach oben.

Was den oben skizzierten Ablauf angeht, gehe ich davon aus, dass Punkt (4) obsolet ist, weil das Parlament auf seiner Version beharren wird. Damit beginnen in Kürze die nervenaufreibenden Verhandlungen im Vermittlungsausschuss, die dann in einen Kompromiss münden werden.

Die Konzepte der "großen Drei" (Kommission, Rat, Parlament) unterscheiden sich größtenteils nur in Details: Prozentsätzen, Einführungszeitpunkten u.Ä., weil der Kommissionsvorschlag bereits eine sehr gute Vorlage war. 

Die Fülle dieses trockenen Materials ist ermüdend und befriedigt in keiner Weise das Bedürfnis des Medienkunden nach leicht verständlichen und unterhaltsamen Neuigkeiten. Aber sie zeigt annäherungsweise die Vielschichtigkeit der Problematik und der Ansätze, mit denen die EU sie zu lösen versucht. Es ist diese harte Arbeit an Zahlen und Kompromissen, die am Ende den Erfolg zeitigen wird. 

Hoffe ich.

------------------

* Nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat, dem die Regierungschefs angehören und der allgemeine Ausrichtung und Prioritäten festlegt.

** Der Basiswert ist das Mittel der Emissionen zwischen 2008 und 2012, mit einigen Anpassungen, und liegt nach meinen Berechnungen bei 1950 Mt.

*** Für Exporteure bleibt der Nachteil jedoch bestehen, da eine Rückzahlung der Emissionskosten bei Export nicht vorgesehen ist. Das ist gemäß dieser Studie die "Achillesferse" des CBAM. Bisher waren dort folgende Produkte enthalten: Eisen und Stahl, Raffinerieprodukte, Zement, Dünger, organische Grundchemikalien. Neu hinzu kommen sollen alle organischen Chemikalien, Plastik, Wasserstoff, Ammoniak. Außerdem sollen neben direkten auch die indirekten Emissionen des Produktionsprozesses, d.h. die der Elektrizitätserzeugung, eingeschlossen werden. (Quelle) Man erkennt, dass es sich um standardisierte Massenprodukte handelt. Für Stückprodukte ist eine halbwegs brauchbare Zuordnung von Emissionen zu aufwändig.

****  Warum ein extra System? Weil die Dekarbonisierungskosten für Verkehr und Gebäude wesentlich höher sind als im ETS-Sektor. In einem einzigen großen System würden die billigen Bereiche zuerst vollständig dekarbonisiert und danach erst die teuren. Man möchte aber dass alle Bereiche ungefähr parallel vorangehen, um Kosten durch zu abrupte Veränderungen zu vermeiden. Später einmal, wenn die Emissionspreise ähnlich sind, könnten beide Systeme verschmolzen werden. 


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