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Zeit und Geschichte

Musikethnologe Nepomuk Riva über rassistische Kinderlieder

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
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Dirk LiesemerMontag, 17.01.2022

Es gibt Beiträge, die findet man gleich gut oder eben ab der ersten Zeile schlecht, aber wirklich spannend sind jene, bei denen man sich nicht sicher ist, weil man vieles erhellend, manches weniger überzeugend findet. Man muss länger drüber nachdenken. Zur letzteren Kategorie gehört dieser anderthalbstündige Vortrag des Musikethnologen Nepomuk Riva.

Riva stellt sechs Kinderlieder vor, die er für problematisch hält. Darunter "Drei Chinesen mit dem Kontrabass", "Der Mann, der sich Kolumbus nannt" und "Alle Kinder lernen lesen". Es handle sich dabei nicht um die Spitze eines Eisberges, vielmehr geht er selbst nur von einer eher kleinen Anzahl rassistischer Kinderlieder aus. Es steht also mitnichten der gesamte deutsche Liederschatz auf dem Prüfstand. Ohnehin wolle er keine Verbote aussprechen, was er auch nicht tut. Ob es auch in anderen Ländern problematische Kinderlieder gibt, ist nicht sein Thema.

Zu seinen Kriterien gehört, dass es nicht um die Wahrnehmung von Kindern gehen soll, sondern ausschließlich um einen aufgeklärten erwachsenen Blick – ein Maßstab, an den er sich selbst nicht immer streng hält, etwa wenn er ausführt, wie Kinderbücher seiner Meinung nach auf die Jüngsten wirken. Seine psychologischen Annahmen finde ich zu einfach. Schon kindliches Weltverständnis ist differenzierter, als er es implizit unterstellt. Einzelne negative Erfahrungen sind sicher beachtenswert, aber nicht mal eben verallgemeinerbar.

In einigen Fällen, wie "Zehn kleine Negerlein" und "Der Mann, der sich Kolumbus nannt", überzeugen mich seine Argumente. Bei "C.a.f.f.e.e" und dem Nonsens-Song "Drei Chinesen mit dem Kontrabass" kann ich seinen Begründungen teilweise folgen und bei "Die Affen rasen durch den Wald" und "Alle Kinder lernen lesen" sind sie mir zu schwach, zumal es im "Affen-Lied" mit keinem Wort um Menschen geht.

Gut ist, dass Riva den Begriff "Rassismus" definiert (Min. 17:00), wobei es unzählige Definitionen gibt. So schreibt der Wissenschaftliche Dienst der Bundesregierung:

Der Begriff „Rassismus“ taucht sowohl in der wissenschaftlichen wie der politischen Debatte in regelmäßigen Abständen auf und unterliegt dabei vielfältigen Interpretationen und Intentionen.

Als rassistisch wertet Riva allerdings schon, wenn man ein Volk mit einem Begriff bezeichnet, den dieses selbst nicht für sich gebraucht. Mir ist das zu rigide, schon weil Fremdbegriffe keineswegs abwertend sein müssen und oft genug auch nicht so empfunden werden. Viele Eigenbezeichnungen kann ein Deutscher ohnehin nicht aussprechen, schon gar nicht, wenn es sich um ein Wort aus einer Tonalsprache handelt. Und wäre eine falsche Aussprache dann schon ein Zeichen für Rassismus? Aus meiner Sicht: Nein, denn ob es sich um Rassismus handelt, hat zuallererst damit zu tun, wie ein Sprecher ein Wort verwendet. Und noch was: Dass es auch Gruppen gibt, die sich selbst nicht einig sind, wie sie bezeichnet werden wollen – dazu mehr weiter unten.

Für typisch akademisch halte ich seine Kritik am Wort "Indianer". Es ist zwar eine Fremdzuschreibung, wie Riva hervorhebt und diese sind grundsätzlich auf dem Rückzug, aber ist sie wirklich so problematisch, so rassistisch? Dazu schreibt die Native American Association of Germany:

Wenn all diejenigen, die das Wort Indianer verwenden, sofort als Rassisten beschimpft werden, führt dies nur dazu, dass sich die Fronten noch weiter verhärten.

Der Verband selbst habe sich nie für eine Streichung aus dem deutschen Sprachgebrauch eingesetzt. Man erachte den Streit um den Begriff als nicht hilfreich. Warum macht sich Riva dann für eine Streichung stark?

Auch die Münsteraner Historikerin und Nordamerika-Expertin Heike Bungert sagt, man dürfe "Indianer" sehr wohl sagen.

Dass der Begriff "indigen" so viel besser sein soll, zumal in einem Kinderlied, glaube ich nicht. Der Begriff ist abstrakt und fachsprachlich, ohne dabei klar definiert zu sein, und er entstammt dem Lateinischen, also einer europäischen Sprache. Und auch wenn das jetzt etwas vom Thema abführt: "Indigenes Volk" lässt sich mit dem schönen Wort "Ureinwohner" übersetzen, jedenfalls wenn diese immer schon an einem Ort lebten, was auf Aborigines und Māori zutrifft. Im Gegensatz zum Wort "Eingeborene" hat es keinen kolonialistischen Beigeschmack.

Und nun zum zweiten Aspekt, der mir missfällt. Nepomuk Riva schreibt in einem kostenpflichtigen F.A.Z.-Beitrag:

Das Repertoire wird beständig von allen Beteiligten auf seinen pädagogischen Nutzen hin überprüft. Lieder wie „Lustig ist das Z.-leben“ oder „Heiß brennt die Äquatorsonne“ sind seit einigen Jahrzehnten zu Recht aus Publikationen verschwunden und werden nicht mehr gesungen, ohne dass dadurch irgendjemand einen kulturellen Verlust zu beklagen hätte.

Ich halte diese Aussage für politisch geglättet. Und die Behauptungen stimmen so auch nicht. Ist es wirklich der Fall, dass das Repertoire "von allen Beteiligten" hin "beständig" überprüft wird? Dazu gleich mehr. Und warum schreibt Riva vom "Z.-Leben"?

Ich weiß, der Begriff "Zigeuner" wird mittlerweile in vielen Medien gemieden. Aus Sicht des Zentralrats der Sinti und Roma ist das Wort eine klischeehafte Fremdbezeichnung. Er ist der einflussreichste Verband, aber nicht der einzige, was das Thema kompliziert macht. Da die Sicht des Zentralrats gut bekannt ist, habe ich nur auf eine entsprechende Seite verlinkt (auf der das Wort übrigens durchgehend ausgeschrieben wird).

Eine konträre Auffassung vertritt – nicht nur – der Kölner Musiker Markus Reinhardt, ein Großneffe des legendären Jazz-Gitarristen Django Reinhardt. Markus Reinhardt ist Vorsitzender des Vereins Maro Drom, dem es laut Eigenbeschreibung um die "Bewahrung von Kultur, Sprache und Geschichte der deutschen Zigeuner" geht. In einem Gespräch, das ich kürzlich mit ihm geführt habe, beklagte er sich massiv darüber, dass selbst er mittlerweile mehr als nur schief angeschaut werde, wenn er – wie seine Vorfahren, von denen einige im KZ gewesen seien – das Wort "Zigeuner" für sich verwende und so angesprochen werden möchte. Sogar staatliche Fördermittel seien ihm deshalb gestrichen worden. Seine Position hat er auf dem YouTube-Kanal "ZigeunerwagenTV" erläutert, nachzulesen im Schweizer Tagesanzeiger:

Ich möchte so genannt werden. Es gibt viel mehr Stämme als nur die Sinti und die Roma – wo bleiben die Kalderasch, die Manouche? Zigeuner ist für mich ein Überbegriff für alle.

Auch der ungarische Investigativjournalist Tibor Rácz schrieb 2015 in der taz:

Für mich ist die Antwort eindeutig: Ich bin Zigeuner. Und ich bin nicht damit einverstanden, dass der Begriff Zigeuner ein mit Klischees und Vorurteilen belastetes Schimpf- und Schmähwort ist.

Es sind keine irrlichternden Einzelmeinungen. So berichtete auch die Schriftstellerin Herta Müller, wie man ihr in Rumänien klar gemacht habe, dass "Zigeuner" der korrekte Begriff sei – und nicht Roma. Entscheidender ist vielleicht, was der Verband "Sinti Allianz Deutschland" im August 2020 mitteilte:

Eine Zensur oder Ächtung des Begriffs Zigeuner, durch wen auch immer, sollte und darf es nicht geben.

Und auf seiner Internetseite heißt es:

Sinti werden bis heute immer wieder mit dem unglücklich gewählten und nur angeblich 'politisch korrekten' Doppelbegriff Sinti und Roma in Verbindung gebracht, der in den 1990er Jahren erfunden wurde. [...] Sinti bezeichnen sich selbst als Sinti, das ist ihre Eigenbezeichnung. Viele von ihnen bezeichnen sich gegenüber der Mehrheitsgesellschaft auch als Zigeuner. Wenn dieses Wort wertneutral eingesetzt wird, haben sie nichts dagegen. Es gibt auch Sinti, die das Wort Zigeuner ablehnen. Auch das muss man respektieren.

Insgesamt gibt es laut Minderheitensekretariat 60.000 deutsche Sinti und 10.000 deutsche Roma. Wie viele von ihnen aktuell in welchem der beiden Verbände organisiert sind oder sich von einem der beiden vertreten fühlen, weiß ich nicht. Laut "Endstation Rechts" ist die Sinti Allianz Deutschland ein "relativ kleiner Dachverband" (Stand 2010). Woher die Informationen stammen, wird nicht verraten. Ob sich die Kräfteverhältnisse mittlerweile verschoben haben, keine Ahnung. So oder so müsste man diskutieren, welche Rolle reine Mitgliederzahlen spielen sollten.

Fest steht: Es wird innerhalb und zwischen den Volksgruppen um Worte und Selbstbezeichnungen gestritten – nicht zuletzt auch über den gerade zitierten Vorwurf, der Doppelbegriff "Sinti und Roma" sei keine politisch korrekte Erfindung. 

Natürlich könnte es sein, dass selbst jene, die wie Markus Reinhardt den Begriff "Zigeuner" befürworten, gleichwohl froh sind, dass das Lied "Lustig ist ..." nicht mehr verbreitet wird. Deshalb habe ich vor der Veröffentlichung dieses piqs vorsichtshalber bei ihm nachgefragt. Er antwortete per Mail:

Die meisten Zigeuner wissen gar nicht, dass das Lied aus der Literatur gestrichen worden ist. Noch gar nicht lange her habe ich es mit anderen Zigeunermusikern im Rahmen eines Konzerts gespielt, ich kenne keinen Zigeuner, der sich wegen dem Lied beleidigt oder sogar diskriminiert fühlt.

Wenn also – siehe das obige Zitat von Nepomuk Riva – angeblich "seit Jahrzehnten" kein kultureller Verlust beklagt wird, warum wird das Lied dann noch immer auf Konzerten gespielt? Und eben nicht von Rechtsrockern, sondern ausgerechnet von Menschen, die – aus Sicht der Wortkritiker – doch froh sein sollten, dass man das Lied entsorgt hat. Dass Musiker wie Markus Reinhardt eben nicht konsultiert worden sind, als das Lied aus dem Repertoire flog, davon darf man ausgehen.

Wer jedenfalls nur noch vom "Z.-Wort" spricht, als wolle er bloß keinen bösen Zauber in die Welt setzen, übt damit Druck auf all jene Menschen aus, die an dieser Bezeichnung festhalten möchten und sie als einen Teil ihrer Identität ansehen. Das alles heißt nicht, dass ich für die offensive oder affirmative Verwendung des Begriffs bin, zumal ich Oberbegriffe grundsätzlich möglichst vermeide, aber das Wort "Zigeuner" zum unaussprechbaren Tabu zu erklären, führt zu einer Bevormundung, die ja angeblich genau nicht gewollt ist. Nicht zuletzt irritiert dabei, dass Nepomuk Riva bei seinen Argumenten generell auf die Erfahrungen von Betroffenen verweist. Offenbar hat er da nicht alle Gruppen im Blick.

Trotz aller Einwände, die möglicherweise ein wenig an Übergewicht gewonnen haben: Der Vortrag lohnt sich, weil Hintergründe ausgeleuchtet werden, die vielen Deutschen nicht bekannt sein dürften. Und wie oben geschrieben: Es gibt zahlreiche Punkte, denen ich zustimme. Außerdem mal ehrlich: Wenn eine Hand voll Lieder ins Archiv wandert, was ohnehin ständig geschieht, dürfte das kaum jemanden jucken. Wenn sie jedoch moralisch verdammt werden, sollten die Begründungen so solide wie eben möglich sein.

Musikethnologe Nepomuk Riva über rassistische Kinderlieder

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