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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Vereinnahmende Literatur“ – Lügnerin

Mein kleiner Buchladen: „Vereinnahmende Literatur“ – Lügnerin

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDienstag, 30.04.2019

So ein Kalbsauge wie du. Dumme Kuh. Du solltest dir die Brauen zupfen, bevor du unter Menschen gehst. Und diese Pickel! Hat dir denn noch keiner gesagt, dass man sie nicht ausdrücken darf? Auf deinem Gesicht fehlen nur noch ein paar Oliven, dann kann man es als Pizza verkaufen. Aber lassen wir die Visage, woher kommt diese Wampe? Hat dein Chef dir nicht verraten, dass du wie ein Rindvieh aussiehst, wenn du zuviel frisst? Wer hat überhaupt Lust, dich zu ficken, sag mal? Ich nehme eine Kugel Vanille mit Crumbles.

Ende 2017 erschien der dritte Roman der israelischen Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen im Schweizer Verlag Kain & Aber. Mich hatte schon ihr Debüt „Eine Nacht, Markowitz“ (2013) begeistert, ein skurriler Roman über die Gründungszeit Israels. In ihrem zweiten Roman (2015) springt die Autorin in die Gegenwart und haut uns mit einem Unfall ihres Protagonisten aus der Wohlfühlgemeinschaft. Die praktizie­rende Psycho­login und studierte Drehbuchschreiberin Ayelet Gundar-Goshen, 1982 in Tel Aviv geboren, nähert sich ihren Romanfiguren über sorgsam konstruierte Konflikte. Ihre Sprache ist dicht und lebendig, Verrat und Lüge werden wie nebenbei eingewebt in poetische Beschreibungen des Heiligen Landes.

Die "Lügnerin" verstrickt zwei Lebensläufe zu einer atemberaubenden Geschichte, deren Sog ich mich nicht entziehen konnte, 333 Seiten mussten in einer Nacht einverleibt werden. Unsere siebzehnjährige ferienjobbende Eisverkäuferin Nuphar aus der Eingangsszene hadert mit ihrem Schicksal. Zum katastrophalen Erscheinungsbild einer Teenagerin gesellt sich Nuphars jüngere Schwester Maya, deren Anmut das eigene Versagen unterstreicht. Nuphar ist einsam und unglücklich. Ein langer Sommer ohne Verabredungen und Freuden liegt hinter ihr, als der abgehalfterte Sänger Avischai Milner zehn Minuten auf sein Eis warten muss. Es folgt eine kleine Szene mit großer Auswirkung - das Mädchen flieht zur Hoftoilette, grausam verletzt durch Milners Worte und dieser eilt hinterher, sein Geld einzufordern, schnappt sie am Arm. Nuphar schreit.

In ihrem Schrei lag die Kränkung, die der Mann ihr zugefügt hatte. In ihrem Schrei lag die Kränkung, die sie sich selbst zugefügt hatte. In ihrem Schrei lag die Enttäuschung dieses Sommers und all der Sommer davor. Sie schrie und schrie und schrie und hörte nicht, dass die Martinshörner der alamierten Polizeiwagen ihr antworteten und auch die Feuerwehr mit ihren Sirenen einstimmte...

Der Roman entwickelt sich vorstellbar. Der Sänger wird verhaftet, das Mädchen ein Medienstar, tapferes Opfer eines sexuellen Übergriffes. Eine kleine Lüge, ein Kopfnicken an der Schulter einer Polizistin, und die Maschine rollt an. Perfekt inszeniert, spannend geschrieben. Doch plötzlich, nach 203 Seiten, betreten Raymonde und Rivka die Szenerie, braungebrannte und blondtoupierte Bewohnerinnen eines Seniorenheims. Beste Freundinnen. Auf wenigen Seiten eingeführt. Rivka als Schoa-Überlebende erzählt Raymonde aus ihrem Leben. Als Rivka stirbt, behält Raymonde ihren Pass und ihr Handy, zur Erinnerung. Eines Tages ruft eine Schule an und fragt, ob Rivka bereit sei für die Reise nach Polen, morgen. Raymonde überlegt nicht lange und begibt sich mit Rivkas Pass und deren Erinnerungen auf ihre erste Auslandsreise.

"Heute", begann sie mit zitternder Stimme, "hab ich oben im Zimmer meinen Koffer ausgepackt und mir meine Strümpfe angesehen. Ich musste daran denken, wie kalt es damals war und dass wir keine Strümpfe hatten." Ein Mädchen begann zu schluchzen. Raymonde blickte es misstrauisch an. Das erschien ihr verfrüht.

Ayelet Gundar-Goshen führt im letzten Drittel des Romans die 88-jährige und die 17-jährige Lügnerin schalkhaft durch das Labyrinth ihrer Konstrukte bis nach Polen, wo sie einander begegnen. Die Idee einer Holocaustüberlebenden als Schwindlerin befremdete mich anfangs, doch zunehmend amüsierte ich mich, leichtfüßig flunkert sich Raymonde durch die Lager und erzählt Wahres - alles, was sie gehört, gelesen und (in Dokumentationen) gesehen hatte. Eine israelische Autorin darf das. Darf eine israelische Autorin das? Zuletzt habe ich "Der falsche Überlebende" von Javier Cercas über den spannenden Fall Enric Marco gelesen, ich wäre jedoch niemals auf den Gedanken gekommen, dass jemand einen Stoff wie Gundar-Goshens Roman wie Ellen Kositza benutzen könnte.

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