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Literatur

Bücherbox – frische Bücher: E. oder die Insel

Bücherbox – frische Bücher: E. oder die Insel

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnSonntag, 04.07.2021

Wie alles hinter uns zerfällt. Wie es zerfällt und verschwindet. Nur der Nebel ist anders. Er setzt das Land wieder zusammen, während er langsam vergeht.

Nicht mehr lange, und die ganze Welt wird aus dem Nebel treten und klar und deutlich vor mir stehen. Dann erfahre ich vielleicht auch, was mit euch passiert ist.

Man kann sich etwas wieder erbauen, aus den Schriftstücken herausziehen, erzählt mir der freundliche ältere Herr, den ich für ein Buchprojekt interviewe. Ich schreibe über eine kleine Stadt an der Oder, die einst einen Bischofssitz und eine umkämpfte Burg besaß. Die mehrfach niederbrannte, abgetragen und zuletzt am Ende des Zweiten Weltkrieges zerstört wurde. Allein ein kleines Stück rund um die Kirche lag im Schatten des Burgberges und damit der Artillerie, erklärt mir der Ortschronist.

Und jetzt, jetzt sitze ich auf der Insel, und drüben ist das Fenster dunkel und leer.

In Berliner Archiven fand er eine wichtige Urkunde, eine Abbruchanweisung. Zu Zeiten des Alten Fritz war die Burg der kleinen Stadt ruinös geworden. Ein Blitzschlag hatte einen Turm gespalten, er drohte, auf die Häuser im Tal zu stürzen. Die Bürger der Stadt hatten angemahnt und gefragt, ob die alten Türme und Mauern nicht abgerissen werden könnten. Friedrich der Zweite, der gerade das Oderbruch kolonisieren wollte, brauchte für die vielen neuen Häuser eine Ziegelei.

Vor mir liegt ein Stein. Ich habe ihn gerade im Gebüsch entdeckt. Er ist faustgroß und von rötlicher Farbe, fast wie die eines Ziegelsteins. Seine Oberfläche ist mit einer leicht gelblichen Flechte bewachsen, aus der an einigen Stellen dünne Pflanzenfäden herauswuchern. Von oben sieht der Stein aus wie eine Insel.

Für eine Ziegelei brauchte der König einen Brennofen und dazu schöne feste Backsteine. Es kam die Idee auf, die Burg der kleinen Stadt abzureißen – laut königlicher Abbruchanweisung sollten zwei Maurermeister in drei Etappen arbeiten, der Preis wurde ausgelobt und bestimmt, und dass niemandem etwas passieren dürfe. Auch die Steine sollten heil runterkommen, nicht dass sie sie einfach runterschmeißen und die unten zerschellen – der Ortschronist lächelt verschmitzt.

Es war letztes Jahr im Juni, daran erinnere ich mich, weil wir geplant hatten, hoch in die Stadt auf den Jahrmarkt zu gehen. Aber dann ist alles anders gekommen. Marie wollte noch schnell die Betten abziehen, bevor wir losgehen, und ich habe währenddessen die Kinder ausgehfertig gemacht. Ich saß auf der Treppe und hatte Paul auf dem Schoß, um ihm die Schuhe zu binden, als Marie plötzlich nach uns gerufen hat. Ich wusste nicht, was los ist, aber Carl und Irmchen sind sofort zu ihr gerannt, und auch Paul ist aufgesprungen und mit seinen halboffenen Schuhen zu seiner Mama geflitzt. Und ich hinter ihm her. Als ich ins Schlafzimmer kam, stand Marie am Fenster und hat rüber aufs andere Ufer gezeigt - und da war über Nacht ein purpurfarbener Wald gewachsen.

Die Ziegelei konnte nicht mehr nachgewiesen werden. Aber anhand der gefundenen Abbruchanweisung erstellten Ortschronist und Heimatverein ein Modell der Burg. Nach der Menge der zu erwartenden Steine waren Größe und Durchmesser der Türme bekannt und sie bauten nach den Angaben der Burgmauern von den Unverzagt-Grabungen das Modell. Auf dem Burgberg hatten zwei lange Grabungsperioden unter dem Archäologen und Prähistoriker Wilhelm Unverzagt stattgefunden – ganze fünf Jahre während des Zweiten Weltkrieges und noch einmal von 1960 bis 1971.

Ich erinnere mich, dass die purpurnen Pflanzen bis über unsere Köpfe reichten und dass zwischen ihren Blüten kleine Kapseln hingen, die aufsprangen, sobald man sie berührte. Es war, als würden wir einen geheimnisvollen Dschungel durchqueren, und die Kinder vorneweg.

Professor Unverzagt, der eine Forschungsstelle auf dem Burgberg eingerichtet hatte, habe es immer verstanden, die politischen Möglichkeiten zu nutzen, sei aber stets wissenschaftlich seriös vorgegangen, sagt mein Interviewpartner. Auch dazu gibt es Schriftstücke, die erhalten sind. Einmal während des Krieges musste Unverzagt beim Gauleiter antreten und Bericht erstatten, ob er germanische Sachen oben auf dem Burgberg gefunden habe. Überall, aber nicht da oben. Dagegen slawische Funde. Darauf brüllte der Gauleiter ihn an: „Unverzagt, merken Sie sich das, mein Gau war nie slawisch! Und wird nie slawisch! Wegtreten!“ Und hat ihn rausgeschmissen.

Ich verwachse Stunde für Stunde mehr mit der Insel und die Insel mit mir. Das Blätterdach über mir wird dichter und dichter. Dazwischen aber tropft das verbliebene Licht in mein Lager und bildet Flecken und Inseln auf meiner Haut. In meinem Kopf dagegen ist alles zu einem dicken Brei zusammengeschmolzen. Wie die Teerdecken der Straßen unter dem brennenden Phosphor. Wie die Erdbeeren in dem Topf, in dem Marie Marmelade gekocht hat.

Unverzagt ist in Berlin ein paar Mal ausgebombt worden, erzählt mein Chronist weiter, ein Großteil seiner Unterlagen sei verloren gegangen. Gerettet wurden nur seine Notizkalender. Bei der Belagerung Berlins durch die Russen saß Professor Unverzagt in einem Bunker auf den ausgelagerten Schliemann-Funden, den Kisten mit dem Schatz des Priamos aus Troja. Als die Russen kamen, bestand er auf eine ordentliche Übergabe. Da wollten sie ihn erschießen, dann ist aber ein Offizier gekommen und er brachte es fertig, auf den Kisten sitzend, dass eine richtig ordentliche Übergabe gemacht wurde. Aufgrund dieser Papiere sind Teile des Schatzes nach 1990 nach Berlin zurückgekehrt und heute im Neuen Museum zu sehen. Der Verbleib des von Schliemann gefundenen und dubios erworbenen Gold-Schatzes selbst bleibt umstritten und ist Gegenstand von politischen Debatten.

Ich habe Marie nicht verboten, über meine Arbeit zu reden. Sie wusste im Grunde ja nichts davon. Sie hat mich nie nach den Kindern gefragt. Wie wir sie behandeln und was wir mit ihnen machen. Ich war Arzt, das hat ihr gereicht.

Im ersten Halbjahr 2021 ist ein Roman erschienen, welcher aus Notizen besteht, die zwischen dem 14. April 1945 und dem 26. April 1945 datiert sind. Das schwarze Hardcover-Buch zeigt ein großes E über dem Titel ODER DIE INSEL. Im Buchstaben E ist eine Brücke zu erkennen, ein Fluss, eine Burg – im Vordergrund Gestrüpp. Die Seiten sind weit in die Ränder hinein in kurz gehaltenen Absätzen bedruckt, manche halbseitig leer. Sätze über einen Ist-Zustand wie hingekritzelt, Bleistiftnotizen eines Verzweifelten.

Ein Mann sitzt auf einer Insel mitten in einem Fluss, eine Eisenbahnstunde von Leipzig entfernt. Im Pfarrhaus gegenüber hat er mit Marie und den drei Kindern gelebt, seit sie ausgebombt wurden in Leipzig. Darüber räsoniert der Ich-Erzähler, verharrend in einem Niemandsland zwischen Krieg und Zusammenbruch (ausführliche Inhaltsangabe des Romans hier). Der Autor des Buches (1981 in einem sächsischen Dorf geboren) wählte den Namen Francis Nenik, veröffentlichte bereits mehrere Bücher und Artikel, die sich mit historischen Themen, Überschreibungen und Urkunden beschäftigen, tief in die Geschichte zurückgehen.

E oder die Insel ist ein Roman, der sich behutsam entblättert, der uns einnimmt, eine Perspektive entwickelt und uns mit dem Protagonisten vor die Scherben seines Handelns führt. Für Einsicht ist es zu früh. Die nationalsozialistischen (und wie hier vermittelt, bis dahin weltweiten) Bemühungen um eine Rassenhygiene, eine Eugenik im Sinne der Erbgutverbesserung und Erlösung "unwerten Lebens" werden uns durch die Augen des Eremiten auf seiner Insel vorgeführt. Die Sprache Francis Neniks ist hochkonzentriert und lyrisch – zu Recht erhält der Autor den diesjährigen Anna-Seghers-Preis für dieses Buch – das Beste des deutschsprachigen Raums, was mir 2021 in die Finger geriet!

Ein Mann beschreibt Dokumente, die er in seinem Koffer mit auf die Insel gebracht hat, beobachtet die Ufer, das Pfarrhaus und die Kindersoldaten, welche den Geschützdonner von Ost und West aufhalten sollen. Gibt es Hoffnung in diesem Inferno? Mich hat das Buch in den April 45 zurückkatapultiert, und ich wundere mich wenig, letzte Nacht von Professor Unverzagt geträumt zu haben, der auf einer Kiste Notizbücher inmitten langsam eindringenden Wassers in einem Bunker sitzt, auf dem Kopf das goldene Geschmeide des Priamos. Die Einschläge kommen näher.

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