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Der MINT-Fachkräftemangel ist hausgemacht

Anja C. Wagner
Bildungsquerulantin
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Anja C. WagnerSonntag, 15.08.2021

Da die Wasserstandsmeldungen zu den MINT-Engpässen nicht abreißen und ganz offensichtlich sich niemand an den Kern des Problems heranwagt, versuche ich mich einmal an einer Kontextualisierung.

Das gängige Narrativ

Der Fachkräfteengpass in den MINT-Berufen nähert sich laut einer Bedarfsanalyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) wieder dem Vorkrisenniveau an. Zu diesen Berufen zählen Fachkräfte in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik unterteilt in 36 Berufskategorien. (...) Der größte Engpass zeigt sich in den Energie- und Elektroberufen mit 48.200, in den Bauberufen mit 31.000 und den IT-Berufen mit 29.000 fehlenden Arbeitskräften. (...) Zusätzlich zur absehbaren konjunkturellen Erholung kommen strukturelle Effekte auf den MINT-Arbeitsmarkt zu. (...) Zum anderen deuten die Digitalisierung und neuen Klimaziele daraufhin, dass die Unternehmen in erheblichem Umfang zusätzliches Fachpersonal benötigen. (...) Das IW empfiehlt die Digitalisierung der Bildungseinrichtungen voranzubringen, die MINT-Bildung an Schulen zu stärken sowie mehr Frauen für MINT-Berufe zu gewinnen.

Warum fehlt es an Frauen in den MINT-Berufen?

Die ZEIT brachte es in einer Headline vom 24. Juni 2021 gut auf den Punkt: "Mädchen bevorzugen Deutsch [und Englisch] als Leistungskurs, Jungen Mathe". Während 43,3 % der männlichen Abiturienten Mathematik als Leistungskurs wählten, entschieden sich 2020 fast 45 Prozent der Abiturientinnen für Englisch und 41,7 Prozent für Deutsch als Leistungskurs. Noch gravierender ist der Unterschied bei der Wahl von Physik: "Physik rangierte bei den Jungen mit 10,4 Prozent auf Platz acht, bei den Mädchen mit 1,9 Prozent auf Platz zwölf."

Damit liegt eine Ursache für den fehlenden Frauenanteil in hochqualifizierten IT-Berufen klar auf der Hand bzw. bildet sich dies bereits bei der Wahl des Studiengangs Informatik ab: Nur 25 % aller Studienanfänger:innen waren auch 2019 weiblichen Geschlechts, so Berechnungen der Bitkom. Dieses Verhältnis wird sich bis zum Abschluss des Bachelors noch einmal verschlechtern, da Frauen gerade bei Informatik die höchsten Abbruchquoten haben. Halten sie da durch, ist die Abbruchquote im Masterstudium deutlich geringer.

Studien in den USA offenbaren, dass dies v. a. auf die Didaktik in Mathematik zurückzuführen sind. Frauen, die Informatik als Studienfach wählen, bringen durch ihre erfolgreiche Schulzeit zwar ein gewisses Selbstvertrauen mit. Stoßen sie dann aber auf erste Schwierigkeiten beim Lösen höherer Mathe-Aufgaben, geben sie zu schnell auf, weil sie denken, sie wären offenbar doch kein Mathe-Typ, was sie bislang dachten. Frauen können kein Mathe, heißt es ja bekanntlich. (Dasselbe Problem ließe sich für kulturelle Minderheiten beschreiben, aber das würde hier zu weit führen.)

All dies kann man gut im Buch von Jo Boaler zu Das neue Lernen dezidiert nachlesen – ich hatte hier letzthin bereits über sie geschrieben.

Der MINT-Fachkräftemangel ist also ein strukturelles Problem, das bereits in der Schule angelegt ist und auch nicht unbekannt ist. Seltsamerweise trifft dieses Phänomen aber nicht auf alle Länder zu. Laut Bundeszentrale für politische Bildung:

Für den Bereich der Mathematik ist die internationale Befundlage weniger einheitlich. Hier zeigte sich in PISA 2018 für 13 der 37 OECD-Länder kein Geschlechtsunterschied und für drei Länder (Finnland, Norwegen, Island) eine Überlegenheit der Mädchen. In den übrigen 21 OECD-Ländern erzielten die Jungen signifikant höhere Testergebnisse, so auch in Deutschland. 

Darüber hinaus schließen Schülerinnen in Deutschland häufiger mit besseren Abitur-Noten ab – nur eben nicht in Mathe und Physik. 

Fassen wir zusammen:

Wer landet schlussendlich in hoch qualifizierten IT-Berufen? Es sind vorzugsweise weiße, deutsche (Bio-)Männer, die im Übrigen kein gesteigertes Interesse an einer Frauenförderung in diesem Sektor zeigen, wie ich in einer Evaluation las, die ich aber nicht öffentlich machen kann.

Und dieses Ergebnis ist hausgemacht seitens eines Bildungssystems, das bekanntlich sehr frühzeitig Kinder in Förderschulen und Gymnasien unterteilt. Wir wissen, diese Zuteilungen sind stark soziokulturell geprägt. Zudem kommt das oben beschriebene Problem.

Aber jede:r kann Mathe (und anderes) lernen, das zeigen Jo Boaler und andere regelmäßig auf. Stattdessen haben wir uns entschieden, bereits frühzeitig einen großen Talentepool auszufiltern zugunsten der vorzugsweise männlichen Nachfolger der bestehenden Mittel- und Oberschicht.

Der MINT-Fachkräftemangel ist hausgemacht

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Kommentare 5
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre

    Ich glaube nicht, das "wir" uns entschieden haben auszufiltern. In meiner Familie waren es die Töchter, die sich entschieden etwas anderes, einfacheres zu studieren. Gegen Rat und Tat der Familie.
    Dieses immer gleiche Narrativ, die Ergebnisse gesellschaftlicher Entwicklung als bewußt entschiedenen Prozeß zu erklären, als gewolltes Resultat des Wirkens "egoistischer Mächte" ist m.E. naiv. Es sind Millionen Einzelentscheidungen, die sich gegenseitig verstärken, abschwächen, auslöschen etc.. Natürlich spielen sozio-kulturelle Faktoren, historische Entwicklungspfade eine Rolle. Aber sehr viel komplexer und schwerer zu beeinflussen. Evolution braucht Zeit und den Willen der Individuen.

    1. Anja C. Wagner
      Anja C. Wagner · vor mehr als 2 Jahre

      Natürlich ist diese Entwicklung kein bewusster Entscheidungsprozess einzelner Individuen oder gar verschwörungstheoretischer Kooperativen. Steht da ja auch nicht. Das "wir" repräsentiert kein handelndes Subjekt, sondern uns als träge Gesellschaft.

      Denn selbstverständlich könnte man politisch gegensteuern mit konkreten Maßnahmen wie selbstverständliches Kita-Angebot, gleiche Bezahlung, Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten usw. usf. All dies würde kurz- bis mittelfristig junge Frauen mehr ermuntern, diese Wege auch einzuschlagen. Wir brauchen mehr Role Models - wie auch immer diese zu schaffen sind.

      Als Gegenbeispiel für einen langsamen evolutionären Prozess können wir den damaligen Ostblock uns anschauen. Dort schlugen Frauen relativ selbstverständlich Ingenieurskarrieren ein. Jüngstes Beispiel ist Katalin Karikó, die als Erfinderin des mRNA-Stoffes aktuell als Nobelpreis-Kandidatin gehandelt wird und heute für Biontech arbeitet: https://www.derstandar...

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

      @Anja C. Wagner Das „wir“ sehe ich nicht in der trägen Gesellschaft. Das würde ja bedeuten, dass wir alle genau diese Art von Gleichverteilung wollen, aber zu träge sind, das in irgendeiner Art zu realisieren. Aber es sind nur einige Aktivsten, die dieses Gerechtigkeitsideal möglichst schnell wollen. Das „Wir“ ist also eigentlich sehr gespalten. Wer hier „Wir“ sagt, meint eher, das seine Meinung, sein gewolltes Sollen, für alle gut sein wird und eigentlich von allen gewollt wird. Sozusagen als gesellschaftlicher Selbstzweck?

      Ich habe übrigens in der DDR ein Ingenieurstudium gemacht. Da waren auch nicht mehr Frauen im Semester. Und in den höheren Führungsebenen waren sie eher noch dünner gesät. Letztendlich war es die Knappheit an Arbeitskräften, die mit dazu zwang die Frauen stärker in den Prozess einzubeziehen. Von einem Einkommen ließ sich auch meist schlecht leben. Der Großteil der Frauen arbeitete, was sicher positive Folgen hatte. Und mit Beispielen läßt sich eh alles Beweisen.

      Nur heute führt die höhere Bezahlung in den MINT-Berufen auch nicht dazu, das Frauen dahin drängen. Nach meinen Erfahrungen treffen Frauen und Männer sehr bewußt ihre Entscheidungen und es wird lange dauern, bis sich die Beweggründe ändern. Und es ist m.E. nicht so sehr das Geld. Sonst würden sich Frauen eben nicht so stark auf Pflegeberufe orientieren. Ob man die Verteilung in und zwischen den Berufen und Ebenen mit höherer Bezahlung und Quoten wirklich beschleunigt zur Parität bringen muß, sollte und kann, wage ich zu bezweifeln. Rahmenbedingungen wie Kitas und andere Entlastungen für die Familien ja. Dann können die Menschen selber entscheiden, was sie wollen. Wir werden sehen. Ich denke, diese Gesellschaft ist in der Tat etwas träge. Vielleicht ist das manchmal sogar gut.

    3. Anja C. Wagner
      Anja C. Wagner · vor mehr als 2 Jahre

      @Thomas Wahl Mangels Zeit nur schnell ein Zitat aus einer Studie zum geringen Frauenanteil in bundesdeutschen MINT-Fächern:

      „Naturgegeben“ sei der niedrige Frauenanteil in der Informatik jedenfalls nicht, betont das Autorenteam um Isabel Roessler, Projektmanagerin am CHE. Vielmehr sei er „offensichtlich kulturell und strukturell bedingt“ – und damit „potenziell veränderbar“. In der DDR lag der Frauenanteil in der Informationsverarbeitung zwischen 50 und 60 Prozent; ähnlich war und ist es nicht nur im sozialistisch geprägten Osteuropa, sondern auch in anderen europäischen Staaten. Während in Irland, Bulgarien, Griechenland und der Türkei bis heute gut 40 bis 33 Prozent der Informatikstudierenden weiblich sind, haben sich die Verhältnisse in Ostdeutschland allerdings teilweise radikal verändert.“ usw.

      https://www.tagesspieg...

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre

      @Anja C. Wagner Nein, natürlich ist in der Gesellschaft - bis auf das Gebären - nichts „naturgegeben“. Es entsteht evolutionär und kann bedingt auch beeinflußt werden. Das Beispiel der DDR hinkt aber beträchtlich. Es gab dort (wie im ganzen Ostblock) keine freie Studienwahl. Nur etwa 10% der Jahrgänge studierte überhaupt. Und die Studienwahl wurde gelenkt nach politischen und wirtschaftlichen „Notwendigkeiten“. Als in den 80er Jahren die Informatik und Mikroelektronik stark ausgebaut wurde, schob man die Abiturienten dort hin - egal ob männlich oder weiblich - ob man das Fach liebte oder nicht. Man müßte auch schauen, die hoch die Abbruchraten waren. In den MINT-Fächern war die Exmatrikulationsrate recht hoch.

      Nach der Wende konnte man freier Wählen und es stellte sich das individuell gewünschte Profil wieder ein. Wäre auch interessant, was die DDR-Informatikstudentinnen hinterher gearbeitet haben. Ich kenne einige, die nicht im studierten Beruf blieben. Aber das sind nur Beispiele.

      Was die Beispiele Bulgarien oder Griechenland betrifft ist das interessant. Dort gehen ja sehr große Teile der Jugend ins Ausland. Informatikjobs im Inland sind knapp aber bieten gute Chancen im Ausland. Sicher ein Grund dort so zu wählen - meine ich.

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