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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: "Die Erfindung der Dekolonisierung"

Achim Engelberg
Dr. phil.
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Achim EngelbergMontag, 06.02.2023

"Dekolonisierung" ist ein Schlagwort der Epoche.

Berlin oder Hamburg sollen dekolonisiert werden wie der "Westen" und der russische Krieg in der Ukraine wird als Kolonialkrieg gelesen.

Die Rückgabe der Benin-Bronzen durch die deutsche Bundesregierung, so kann man lesen, sei ein Akt der Dekolonisierung, aber auch die Befreiung der ukrainischen Stadt Cherson am Strom Dnipro.

Wann und wo entstand der Begriff "Dekolonisierung" und wozu kann er heute verwendet werden?

Im französischen Kontext wurde Dekolonisierung als eine Art unvermeidliche Entwicklung dargestellt,

so der in Washington lehrende Historiker Todd Shepard im Interview,

die angeblich mit der Französischen Revolution begonnen hatte. Dabei war Dekolonisierung der Versuch, etwas, das für die Franzosen (genauso wie für die Niederländer, die Briten und die Belgier) eine Niederlage war, in eine gute Sache und etwas Beruhigendes zu verwandeln.

In seinem mehrfach ausgezeichneten Buch "The Invention of Decolonization: The Algerian War and the Remaking of France" (2006) zeigt er, dass französische Intellektuelle das Konzept der Dekolonisierung als Antwort auf den Konflikt in Algerien prägten.

Heute wird es weltwelt benutzt.

Zu Recht?

Der Topos, dass Algerien und Frankreich eine Nation sind, die sogar in der französischen Verfassung von 1958 verankert ist, ähnelt Putins Rhetorik. Ihm zufolge seien Russland und die Ukraine „ein Volk“, wie er in einem Artikel vom Juni 2021 behauptete. 

Es war "ein Volk" die Ukrainer und die Russen, die Algerier und die Franzosen.

Gleichzeitig wurden (in Algerien, A. E.) erhebliche Anstrengungen unternommen, um den Anteil der europäischen Bevölkerung zu erhöhen, mit dem Ziel, dass diese die algerische Bevölkerung „übertreffen“ werde.

Nur wenige bekannte Persönlichkeiten wie Jean Paul Sartre oder Simone de Beauvoir erkannten, dass Algerien nicht für immer Teil Frankreichs bleiben konnte.

Warum?

In Frankreich gestern konnten sich viele wie heute in Russland nicht vorstellen, kein Imperium zu sein.

Da die Kosten des Algerienkriegs stiegen, das Ansehen Frankreichs litt, beschloss die französische Regierung dann doch das Ende des Imperiums:

Der Begriff, auf den die Beteiligten immer wieder zurückgriffen, war der Lauf der Geschichte (courant de l'histoire) – so als gäbe es nichts, was man gegen die Dekolonisierung tun könne. Das Argument lautete, dass alle dekolonisiert würden, deshalb müsse man sich auch selbst diesem Prozess fügen. Man hatte keine logische Erklärung, warum Frankreich seinen Anspruch auf Algerien aufgab. Die Figur der Dekolonisierung ließ es zu, den Verlust als Sieg darzustellen.

So vermied Frankreich das Eingeständnis der Niederlage. So entstand das Paradigma "Dekolonisierung" nicht als Kampfbegriff der Unterdrückten in den Kolonien, sondern als "weißer" Begriff.

Todd Shepard pointiert, was ursprünglich den Begriff der Dekolonisierung so anziehend machte:

Produktives Vergessen bedeutet aktives Auslöschen. Es erlaubt den Menschen weiterzuleben, aber es hinterlässt auch viele Leerstellen.

Soweit ist es in Russland heute noch nicht, denn das imperiale Denken auf russischer Seite verhindert,

die ukrainischen Positionen ernst zu nehmen und nicht als zutiefst bedrohlich aufzufassen. Ein deutlicher Rückschlag wäre also für Russland notwendig.

Ich bin sehr skeptisch gegenüber vielen meiner Freunde aus bestimmten Teilen der Linken oder aus Algerien. Ihre vernünftige Kritik an den Vereinigten Staaten führt nicht selten dazu, dass sie die Ukraine für einen Marionettenstaat halten, der einen Stellvertreterkrieg im Namen der USA führt. Ich denke, das ist schlichtweg unzutreffend.

Gleichzeitig ist Russland nicht das erste Land, das gegen das Völkerrecht verstößt. So wie die Franzosen nicht die ersten waren, die massive Gewalt gegen Zivilisten eingesetzt haben.

Todd Shepard fusst in seinem Werk auf dem großen französischen Philosophen Étienne Balibar, der sich um das Verständnis des Kolonialismus verdient gemacht hat. Ihm ging es bis heute um ambivalente Identitäten zwischen Rasse, Klasse und Nation. Deshalb kritisierte er die „falsche Einfachheit der Zwei“ (false simplicity of two bzw. fausse simplicité du deux): die künstliche Trennung von Kolonie und Metropole.

So gibt es bis heute besondere Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich.

Es gibt viele andere Aspekte der Dekolonisation, die Todd Shepard in seinem Werk behandelt und im Interview streift, aber ich blende beim Stichwort Étienne Balibar über zu den Blättern für deutsche und internationale Politik.

Dort erläutert gerade dieser Étienne Balibar seine Position zum Krieg in der Ukraine mit der Beantwortung von drei Fragen, nämlich:

Welche Definitionen können wir für den gegenwärtigen Krieg finden?

Zweitens, welche Neubestimmungen der Funktion des Nationalismus und des Werdens der „Nation-Form“ selbst nimmt dieser Krieg vor?

Drittens, wie gliedert er verschiedene politische Räume in einer globalen Struktur von Konflikt und Handlungsmacht?

Da der Kampf in der Ukraine ein Unabhängigkeitskrieg ist, sind für Balibar Vergleiche mit Algerien oder Vietnam erlaubt - jedenfalls bei einem großen räumlichen Rahmen, gewissermaßen planetarisch betrachtet.

Gleichzeitig ist es ein "postkommunistischer" Krieg.

Diese entstanden aus dem Kollaps der ehemaligen „sozialistischen Staaten“ in Europa und dem Scheitern ihrer „Nationalitätenpolitik“, die letztlich bloß feindliche Nationalismen verstärkt hatte (zusätzlich angefacht durch die wilde Politik einer neoliberalen „ursprünglichen Akkumulation“).

Wenn man auf unserem Kontinent bleibt, aber nach dem räumlichen, den zeitlichen Rahmen erweitert bis zurück zum ersten Weltkrieg (hier findet man eine auffällige Ähnlichkeit zu dem in diesem piq empfohlenen Essay von Herfried Münkler), dann ist der Ukrainekrieg

eine neue Episode in der tragischen Geschichte des Europäischen Bürgerkriegs.

Dieser begann mit dem Ersten Weltkrieg, nahm mit der Oktoberrevolution eine neue Gestalt an, setzte sich im besiegten Deutschland mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und seinem Netzwerk faschistischer Verbündeter überall in Europa fort, also mit dem Zweiten Weltkrieg, und schließlich mit dem Kalten Krieg und dem „Eisernen Vorhang“, der sich 1989 öffnete. Es handelt sich um eine tragische Geschichte voll von Regimewechseln, der Zerstörung und Wiedererrichtung von Nationen, von Genoziden und Massakern sowie von totalitärer Herrschaft, deren Spuren noch nicht vollständig getilgt worden sind.

Wenn wir den gegenwärtigen Krieg aus dieser Perspektive betrachten, so sind der „totale Krieg“, der derzeit im Osten der Ukraine geführt wird, und der Exodus von Millionen Menschen zwar immer noch in keiner Weise gerechtfertigt, aber weniger überraschend. Wir sehen die Wiederholung eines bestehenden Musters, das allzuleicht vergessen wurde, weil man davon ausging, die zugrundeliegenden Probleme seien „gelöst“ worden.

Dieser Europäische Bürgerkrieg war im vergangenen Jahrhundert auch zuweilen ein Weltkrieg, der wellenförmig auf alle Erdteile wirkte, aber der alte Kontinent blieb zentral.

Wellen auf alle Erdteile schlägt auch der Krieg in und um die Ukraine, aber Europa ist beim jetzigen Gemetzel in Europa nicht mehr zentral:  

Den heutigen Krieg würde ich hingegen eher einen „globalisierten Krieg“ nennen – oder einen, der im Begriff ist, ein „globalisierter Krieg“ zu werden –, wenn auch „hybriden“ Charakters, da viele Teile der Welt, ihre politischen Strukturen und Bevölkerungen auf asymmetrische Weise in ihn verwickelt sind.

Mit dem unlängst verstorbenen französischen Philosophen Bruno Latour, der eng mit der Umweltbewegung verbunden war, sieht Étienne Balibar vor allem zwei gleichzeitig geführte Kriege, der 

gegen die Freiheit der Ukrainer und der Krieg gegen die Erde als lebendiges System.

Die Gefahr eines nuklearen Krieges ist nicht gebannt und die Umweltkatastrophe geht weiter. Da eine Rückkehr in die sich auflösende Welt(un)ordnung, die seit geraumer Zeit keine Zukunft mehr hatte, nicht möglich ist, lautet das Fazit des alten weisen Mannes Étienne Balibar:

Wir müssen die Kampagne gegen Atomwaffen fortsetzen und, allgemeiner gesprochen, jede Gelegenheit nutzen, die Vorstellung einer anderen Weltordnung zu vertreten – basierend auf der Unabhängigkeit der Völker und kollektiver Sicherheit statt auf Rüstung, Vorherrschaft und Sanktionen.

Das kann man wohl auch so übersetzen, der schillernde Begriff "Dekolonisierung" reicht nicht mehr.

Eine andere Welt ist möglich oder das Nichts ist möglich.

Gestern & Heute: "Die Erfindung der Dekolonisierung"

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Kommentare 5
  1. Dominik Lenné
    Dominik Lenné · vor einem Jahr

    Wow. Der große weite Blick auf die Dinge - die Kriege hier als "europäischen Bürgerkrieg" anzusehen ist schon eine ziemlich neue Perspektive - aber bringt sie auch weiter? Immerhin schön, denn sie sieht Europa als *eine* Gesellschaft - eine Zukunftsvision, die als Tatsache, als gegenwärtiger Blickwinkel angenommen wird. Bereichernd.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor einem Jahr

      Hier etwas zum Begriff "Europäischer Bürgerkrieg", der von rechten wie linken Historikern und Geschichtsdenkern verwendet wird - natürlich unterschiedlich.
      https://www.deutschlan...

  2. Dirk Liesemer
    Dirk Liesemer · vor einem Jahr

    Sehr spannende Quelle, Achim! Wie bist Du denn auf die gestoßen?

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor einem Jahr

      Per Zufall bei einer Recherche.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      @Achim Engelberg Es lebe der Zufall! Zufälle führen auch dazu, dass nicht nur eine andere Welt möglich ist ….. 😏

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