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Zeit und Geschichte

"Gerettet vom Floß der Medusa aufs Achterdeck der Titanic"

Achim Engelberg
Dr. phil.
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Achim EngelbergDonnerstag, 10.06.2021

Nach der Wahl in Sachsen-Anhalt wird wieder über den Osten geredet und gestritten.

Nun publizierte die SZ eine gekürzte Rede von Ingo Schulze zur Verleihung des Kunstpreises der Stadt Dresden, in der er die anhaltenden und rasch nicht zu überwindende innere Spaltung Deutschlands aufzeigt, die wie die staatliche Teilung während des Kalten Kriegs auch für die Trennung Europas steht.

Dabei fußt der viel gelesene und viel übersetzte Schriftsteller, dessen Arbeiten schon mehrfach auf piqd empfohlen worden sind, auch auf historischen Studien:

"In Sachsen, wo die bayerischen und baden-württembergischen 'Transformationspaten aus dem zutiefst konservativ und antikommunistisch geprägten Süden der alten Bundesrepublik einflogen, formte die CDU 1990 ein Denkmuster, das die politische Kultur lange prägen sollte: Duldung und Offenheit nach rechts, Feindbildrhetorik und scharfe Abgrenzung nach links." Diese Einschätzung der Historikerin Simone Lässig beschreibt, was ich am 13. Februar 2010 in Dresden erlebte.

Erstmals konnte der "Trauermarsch" der Rechten mit Björn Höcke, Götz Kubitschek und Ellen Kositza am Jahrestag der Bombardierung Dresdens blockiert werden, aber

wir Gegendemonstranten wurden von der damaligen Stadtregierung und der Polizei kriminalisiert und schikaniert, bis hin zum Abgreifen von Handy-Daten.

Zwei Jahre später hielt Ingo Schulze seine vielbeachtete "Dresdner Rede" mit einem Angriff auf die Wirtschaftspolitik der von Merkel angeführten Bundesregierungen:

Unsere schönen neuen Kleider - gegen die marktkonforme Demokratie, für demokratiekonforme Märkte.

Aber ein verändernder Protest gegen die spaltende Politik entwickelte sich nicht, dafür aber betrat Pegida die Bühne: "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes".

War denn unser Problem plötzlich die Islamisierung geworden? Mehr noch wunderte mich die enorme Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwurde. Ich bin davon überzeugt, dass vieles anders und besser gekommen wäre, wenn den früheren Montagsdemonstrationen, die auf die prekäre Lage im Osten des Landes aufmerksam zu machen versucht hatten, ein Bruchteil jener Beachtung geschenkt worden wäre, die Pegida so überbordend erfuhr.

Wer Dresden oder Rostock besucht, bewegt sich nicht durch Elendsgebiete wie es sie in vielen Staaten Europas gibt. Wer Fotos aus DDR-Zeiten mit einstürzenden Altbauten sieht, könnte fragen: Was will denn Ingo Schulze? Flaniert er etwa nicht durch sanierte Altstädte?

Und trotzdem bleibt die Ungleichheit zwischen Ost und West skandalös. Heute gibt es kein Land in Europa, in dem einer Bevölkerung so wenig an Grund und Boden, an Immobilien und an Betrieben gehört wie den Ostdeutschen im Osten Deutschlands, keine Bevölkerung, die dort, wo sie lebt, so wenige Führungsposten innehat wie die Ostdeutschen, sei es in den Betrieben, in den Medien, den Verwaltungen und Banken, beim Militär und der Polizei oder an den Gerichten und Universitäten.

Entwicklungen zur Angleichung findet er nicht in Statistiken oder Forschung.

Weder wächst für Ostdeutsche der Besitz an Wohneigentum, Grund und Boden oder Unternehmen noch der an Führungspositionen. Der Austausch der Eliten war nachhaltig. Die Aufteilung dessen, was den Ostdeutschen als Startkapital hätte zugutekommen müssen, ist längst verkauft oder abgewickelt. Die Ungleichheit vererbt sich im wahrsten Sinne des Wortes fort.

Empörend nicht nur für Ingo Schulze ist, wenn der Ostbeauftragte der Bundesregierung zunehmende Zweifel an der jetzigen Demokratie mit "diktatursozialisiert" erklärt und "auf die nächste Generation" hofft. Der Autor übersetzt, was das heißt:

Erst wenn diejenigen, die die friedliche Revolution getragen haben, tot sind, wird es was mit der Demokratie im Osten. Dreißig Jahre lang alles richtig gemacht, aber das Übel sitzt zu tief. Mit den alten Nazis ging das wirklich besser.

Immer wieder findet Ingo Schulze im Regionalen Übergreifendes.

1989/90 war eine weltgeschichtliche Zäsur, die ohne den Anteil der Ostdeutschen kaum denkbar wäre. Es waren viele, die im Herbst 1989 erstmalig zum handelnden Subjekt der Geschichte wurden, dann aber einen Abstieg zu Deklassierten im eigenen Land erleben mussten.

Die Überschrift des piqs bezieht sich auf eine Passage, die wieder von einer regionalen Aussage aufs Planetarische zielt.

"Ihr habt euch vom Floß der Medusa aufs Achterdeck der Titanic gerettet", - mit diesen Worten soll der Kunsthistoriker Eberhard Roters den Beitritt kommentiert haben.

"Gerettet vom Floß der Medusa aufs Achterdeck der Titanic"

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Kommentare 2
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor fast 3 Jahre

    ok. Das Argument von wegen Diktatursozialisation ist natürlich Quatsch - zumindest was die Mehrheit der heutigen AFD-Wähler betrifft.
    Aber "irgendwas" scheint im Osten etwas anders zu sein. Ist es wirklich die Enttäuschung nach 1989 und die mangelnde Repräsentation? Zusätzlich mit der entsprechenden Narration vom abgehängten Osten? hm.
    Vielleicht liegt es aber auch am Volksparteien-Personal, welches 1989 in den Osten ging inkl. des damaligen Blockparteien-Empfangs...
    Die CDU etwa konnte so in der ehemaligen DDR lange Zeit recht ungehindert durch Opposition etc. durchregieren und ihren rechten Tendenzen nachgeben.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 3 Jahre

      Das ist meines Erachtens ein Aspekt, den Ingo Schulze nur kurz anspricht. Aber vielleicht ist es in seiner Originalrede anders, denn die SZ brachte nur eine gekürzte Fassung.

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