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Zeit und Geschichte

Die Rückkehr des Staates in neuer Gestalt?

Achim Engelberg
Dr. phil.
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Achim EngelbergMontag, 14.06.2021

Wer hat die Stimmen nicht noch im Ohr, die behaupteten, dass nach Corona alles anders werden würde. Diese Schreie nach Veränderung waren paradoxerweise verbunden mit der Langsamkeit einfacher Einsichten:

Und ein Jahr dauerte es, bis die Erkenntnis, dass in den Vierteln der Armen, der Migranten, der Unterbeschulten die Infektionsraten zigfach höher sind – und die Sterberaten es schon immer waren. „Deutschland ist mütend“, so kalauert in unbürokratischer, aber verzweifelter Heiterkeit der Normenkontrollrat in seinem fünften Monitorbericht über den Stand der Digitalisierung und der Verwaltung in der drittstärksten Industrienation der Welt.

Dennoch stehen wir vor einem Epochenumbruch, der noch nicht gestaltet ist. Wieder einmal umkreist Mathias Greffrath diesen mit Realitäts- und Möglichkeitssinn.

Zurück in die Geschichte geht er – ins 16. Jahrhundert mit dem ersten Globalisierungsschub.

Ein Jahrhundert, in dem die Wissenschaft neue Welten erschloss, der Raum der Erfahrung sich über das Firmament hinaus dehnte, neue Techniken Wohlstand brachten und Fortschritt versprachen, Europa von Migranten überzogen wurde, Bauern in die Städte zogen, Kriege von neuartigen Waffen entschieden wurden, Großmächte die Welt unter sich aufteilten und starke Zentralgewalten mit neuen Steuern die Provinzen in Aufstände trieben.

Gedrängt, komprimiert, anschaulich erzählt der Autor in Schlaglichtern die Geschichte des Staates.

Nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand der moderne Sozialstaat als europäischer Normalfall.

Hier würde ich dem famosen Mathias Greffrath widersprechen: Es galt nicht für Osteuropa und auch im Westen gab es immer wieder Diktaturen – in Portugal, in Spanien, in Griechenland.

Freilich, der Sozialstaat, wie er sich in einer kurzen Phase und in einigen Ländern entwickelte, der

garantierte die überkommenen Eigentumsverhältnisse, aber milderte deren Folgen durch Umverteilung und Sozialpolitik und, wenn es geht, Vollbeschäftigung. Es ist dieser Sozialstaat, dieser Staat der Daseinsvorsorge, von dem Pierre Bourdieu sagte, er sei eine europäische Errungenschaft, so kostbar und so unwahrscheinlich wie Kant, Beethoven oder Mozart.

Seit den 1970er Jahren wurden die Grenzen des Wachstums immer deutlicher. Erhellend, was der Staatsrechtler Ernst Forsthoff (1902-74) damals schon formulierte:

"Daß die Industriegesellschaft sich (…) Schranken selbst auferlegen werde, ist mit den Funktionsgesetzen der Industriegesellschaft“ – also mit dem Wachstumszwang – "unvereinbar und utopisch.“ … "(Das) Verhängnis könnte nur durch eine organisierte Instanz abgewendet werden, die stark genug ist, der industriellen Expansion notwendige Schranken zu setzen (…) welche die Erfordernisse eines geordneten menschlichen Zusammenlebens gebieten.“

Kann eine solche bald geschaffen werden? Ist die "Politikverdrossenheit" heute auch darin begründet, dass diese Instanz noch nicht geschaffen worden ist? Der Staatsrechtler Christoph Möllers bemerkte, dass Politiker müssen

die Freiheit haben, der Gemeinschaft, die sie repräsentieren, entgegenzutreten, um ihr zu widersprechen, sie zu belehren, sie ‚normativ zu fordern‘ oder im Rahmen ihres Mandats gegen ihren vermeintlichen oder wirklichen Willen zu entscheiden. Die Verachtung gegenüber Politik ist vielleicht auch durch einen Mangel an solchem politischen Freiheitsbewußtsein verursacht, aus der Servilität gegenüber dem vermeintlichen Volkswillen, der diesem noch nicht einmal gefällt.

Mathias Greffrath beleuchtet aber nicht nur die Misere von heute, sondern blickt mithilfe des amerikanischen Science-Fiction-Autors Kim Stanley Robinson in ein mögliches Morgen. In "Das Ministerium für die Zukunft" probiert dieser szenisch aus, was geschehen könnte und müsste, damit die Klimaziele von Paris erreicht werden.

Faszinierend ist, dass

alle Elemente dieser Anti-Dystopie existieren bereits: Drohnen, die Bäume säen, wo Menschen nicht hinkommen; Zentralbanker, die Milliardenkredite an Klimaschutz binden, Genossenschaften, in denen nachhaltige Landwirtschaft und solidarische Umgangsformen zusammenkommen.

...

Robinson nimmt das Pariser Abkommen wirklich ernst und fordert dazu auf, es zum Zentrum des Denkens und des Engagements für die Zukunft zu machen.

Die Rückkehr des Staates in neuer Gestalt?

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Kommentare 8
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor fast 3 Jahre · bearbeitet vor fast 3 Jahre

    „Mit der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen wälzt sich der ganze ungeheure Überbau (von Politik und Recht und Denkweisen) langsamer oder rascher um.“

    Leider nie so, wie es sich die Intellektuellen vorgestellt haben und schon gar nicht über 30 Jahre geplant. Ich denke, weniger Hysterie und mehr Vertrauen in den sicher kommenden evolutionären Umwälzungsprozess wäre besser. Da müssen Staaten ihre Rolle spielen. Aber eine Weltgesellschaft, die diesen Prozess steuert - da würde ich nicht drauf wetten in diesen angeblich 10 Jahren, die uns noch bleiben um die Apokalypse abzuwenden.

    Die Industrie ist in unseren Gesellschaften übrigens schon ziemlich eingeschränkt. Keine 30 % kommen lt. Weltbank vom deutschen BIP aus der Industrie (in China 40%, aber auch Deutschland liegt damit noch ziemlich hoch), kein 1% aus der Landwirtschaft. Allerdings ist der Rest 70% an unterschiedlichen Dienstleistungen durchaus auf die industriellen Produkte angewiesen. https://de.statista.co...

    Die Staatsquote liegt übrigens in D bei 51% und im EU-Durchschnitt bei 54% ….

    https://de.statista.co...

    All diese abstrakten Schuldzuschreibungen und Narrative sind unterkomplex und naiv. Keiner der gesellschaftlichen Teilsysteme beschränkt sich von alleine, der Staat genausowenig wie verschiedene politischen, zivilgesellschaftlichen oder industriellen Komplexe.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 3 Jahre

      Mathias Greffrath schreibt von einer Umwälzung, nicht von einer Planung.

      Er verwendet das Wort - im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht - gar nicht.

      Naiv und unterkomplex ist bestimmt dieser Essay nicht; er gehört gerade zu den Beiträgen auf Piqd, die stilistisch und gedanklich nicht nur für Anfänger aufschlussreich sind, sondern auch für Fortgeschrittene.

      Es gibt auch keine "abstrakten Schuldzuweisungen" in diesem Beitrag.

      Naiv und unterkomplex sind Deine "evolutionären" Annahmen. Gerade beim Thema Staat gibt es als Kontrapunkt die Revolution.

      Der moderne Revolutionsbegriff, der noch für Kopernikus ein Fachwort aus der Astronomie war, entstand mit der Herausbildung des modernen Staates im 16./17. Jahrhundert.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 3 Jahre · bearbeitet vor fast 3 Jahre

      @Achim Engelberg Achim, ich gebe ja gern zu, dass ich Utopie und Planwirtschafts geschädigt bin und da etwas allergisch reagiere.

      Stimmt, Greffrath führt das Wort "Planung" nicht als eigenen Vorschlag ein. Aber er feiert das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgericht, der das "Parlament zu einer präziseren Planung der Zukunft" verpflichtete . Und er befürchtet nicht, dass es gerade solche "präzisen Planungsversuche" staatlicher Handlungen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zur Folge haben dürften, die „Intertemporalen Freiheitsrechte“ der Bürger zu beschränken. Auch Juristen können wissen, dass man Zukunft über 20 Jahre nicht planen kann, sie ist immer kontingent. Wenn überhaupt und wenn man der Wissenschaft folgt, dann muß man in Szenarien denken. Was tut man als Staat, wenn z.B. der CO2-Ausstoß global nicht sinkt? Was ziemlich wahrscheinlich ist. Oder was, wenn der Pfad mit solarer Energie allein nicht funktioniert?

      Aber Greffrath setzt ja selbst auch auf die 1- Pfad-Utopie "einer solaren Weltwirtschaft, die Bewahrung oder Wiederherstellung von intakter Natur und Artenvielfalt, ein Wohlstandsausgleich zwischen Nord und Süd, eine Industriepolitik, die es a tempo den armen Ländern ermöglicht, das Kohle-und Atomzeitalter zu überspringen und eine solare Infrastruktur aufzubauen, die Verhinderung der Spaltung fortgeschrittener Gesellschaften in Spezialkräfte und funktionale Analphabeten."

      Bisher ist die "bewusste Gestaltung" von "faszinierenden und begeisternden Ideen" immer ziemlich gescheitert. Nicht nur die vom "Kommunismus als Sowjetmacht plus Elektrifizierung", die ja bekanntlich auch eine bessere Welt erschaffen sollte. Nein, Geschichte ist nie das gewollte Ergebnis einer bewußten Gestaltung (nach einer Utopie) gewesen und kann es auch nicht sein. Sie ist immer die Resultante sehr vieler Gestaltungsversuche.

      Und was allgemeine Schuldzuweisungen betrifft, die nicht vorkommen. Was ist der Vorwurf "pervertiertes Verständnis von Repräsentativer Demokratie und vom Staat." dann?

      Ehrlich gesagt, bin ich auch etwas erschrocken über die Idee das "das Recht", das Richter den "vermeintlichen Volkswillen" (wer kennt schon den wirklichen?) zu korrigieren, da ja die Politiker zur Servilität gegenüber diesem neigen. Ich denke, das Politiker durchaus „die Freiheit haben, der Gemeinschaft, die sie repräsentieren, entgegenzutreten, um ihr zu widersprechen, sie zu belehren, sie ‚normativ zu fordern‘ oder im Rahmen ihres Mandats gegen ihren vermeintlichen oder wirklichen Willen zu entscheiden. " Sie müssen sich dann aber nicht wundern, wenn sie keine Mehrheiten bekommen. Solche moralischen Belehrungen werden gern als Überheblichkeit verstanden. Politiker neigen dann ja manchmal auch der autoritären Selbstermächtigung zu. Wie ich sehe, gilt das auch für einige Juristen ….

      Das mit der Revolution hab ich ehrlich gesagt nicht verstanden. Wer oder was soll das revolutionäre Subjekt sein? Was das Objekt?

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 3 Jahre

      @Thomas Wahl Nur kurz, nicht zuletzt, da dieser Radioessay Teil 1 ist.

      Das Spannungsverhältnis Staat und Revolution ist spätestens seit dem 17. Jahrhundert relevant. Für Zeitungsleser spätesten mit der Glorius Revolution 1688/89.

      Die Frage, wer seitdem das revolutionäre Subjet ist, kann man nicht abstrakt beantworten. Meistens ändert sich das auch während der Revolution (siehe Französische Revolution.)

      Immer, zumindest meistens, zeigt sich der Umbruch mit der "Rückkehr des Staates", der in der Krise seine Kraft anstrengt. Wenn es zu keinem Zusammenbruch kommt ("failed state" wie es heute heißt), erfolgt eine Revolution von oben oder von unten.

      Nicht nur für den kommunistischen Revolutionär Lenin war das Verhältnis "Staat und Revolution", so der Titel seiner wieder aufgelegten berühmten Schrift, entscheidend.

      Otto von Bismarck warnte Jahrzehnte zuvor den Zaren, es sei besser eine Revolution zu machen als zu erleiden. Revolutionen hielt der Junker für legitim, denn er betrachte die Staaten als "eingealterte Revolutionen".

      Meistens zeigt sich die neue Epoche in einem neuen Zeitregime, das oft mit technischen Innovationen verbunden ist. Zum Beispiel können diese Zeilen sofort in Neuseeland oder anders gelesen werden. Und die Klimakatastrophe zwingt die Politik auf langfristige Planungen, die nie so realisiert werden. Aber das Zeitfenster ändert sich.

      Alle Politiker, die heute große Biographien erhalten, setzten durch, was die Mehrheit nicht wollte bzw. noch nicht sah.

      Als Bismarck erkannte, ein Nationalstaat ist erforderlich, war das äußerst unpopulär (ab 1856). Am Ende des 19. Jahrhundert baute man dem "Reichsgründer" Denkmäler.

      Als Willy Brandt erkannte, die Strategie "Wandel durch Annäherung" (Bahr) ist nur über eine Anerkennung der DDR zu erreichen, war das äußerst unpopulär.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 3 Jahre

      @Achim Engelberg Ich verstehe nur nicht, was das mit unserem Thema zu tun hat. Viele Revolutionen waren ja eher Rückschritte oder Katastrophen. Die Oktoberrevolution hat den demokratischen Weg bis heute in Rußland blockiert. Die Französische Revolution führte zur Jakobinerherrschaft und zum Krieg. Und dann gab es wieder einen Kaiser.

      War der Nationalstaat bei den Deutschen wirklich unbeliebt im frühen 19. Jh.? Die Nationalbewegung entstand doch mit der Napoleonischen Besetzung. Und scheiterte 1848 erst mal mit der Revolution von 1848/49, in der die Forderung nach einem einheitlichen deutschen Staat eine zentrale Rolle spielte.

      Und wie sollen wir über eine Revolution zu einer solaren Weltgesellschaft voller Gerechtigkeit kommen - wieder die Weltrevolution? Das hat doch nie funktioniert. Die neueren technischen Infrastrukturen sind dezentral und privatwirtschaftlich entstanden. Von der Dampfkraft über die Eisenbahn bis zu den Elektrizitätsnetzen und den Telegraphen, Telefonen und Radios. Und schnell waren diese Wellen der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung auch nicht. So ein Kondratiev-Zyklus dauert/e schon seine 50 Jahre. Jener „wirtschaftsfördernde Weltstaat“ wird das weder beschleunigen noch steuern können. Es gibt ihn schlicht nicht und ich sehe keine Potente Kraft, die ihn will. Er wäre wahrscheinlich auch noch weiter von den realen Prozessen entfernt wie heute Brüssel und noch zerstrittener als die EU.

      Und ein revolutionäres Subjekt sehe ich global schon gar nicht.

    5. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 3 Jahre

      @Thomas Wahl Nee, det funktioniert so nicht. Ich versuchte, das zentrale Spannungsverhältnis "Staat - Revolution" deutlich zu machen.

      Und hier kommen wieder die Schablonen. Warum beschäftigt man sich bis heute mit der großen Revolution der Franzosen? Der Kaiser brachte eben aber auch die bürgerlichen Gesetze... Der Weg in Richtung Sklavenbefreiung war geebnet, selbst wenn der Kaiser sie zurücknahm. Seitdem bleibt es auf der Tagesordnung - mal hier, mal dort.

      Warten wir auf den zweiten Teil von Greffrath...

  2. Olaf Asbach
    Olaf Asbach · vor fast 3 Jahre

    "Rückkehr des Staates" - wann genau war er weg?

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 3 Jahre

      Wie das gemeint ist, das wird im empfohlenen Essay von Mathias Greffrath erläutert, oder?

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