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Zeit und Geschichte

Die linke Melancholie – oder: Was kann der Zerfall Jugoslawiens uns heute sagen?

Achim Engelberg
Dr. phil.
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Achim EngelbergDienstag, 11.08.2020

Die beiden eigenständigen Versuche in Europa, eine nachkapitalistische Gesellschaft aufzubauen, die Sowjetunion und Jugoslawien, sind Geschichte. Ihr Zerfall erfolgte nicht durch friedliche Revolutionen, sondern blutig. Manche der neuen Grenzen zwischen den heute oft verfeindeten Nachbarn sind geschlossen und viele Konflikte sind nur oberflächlich gelöst, neue Auseinandersetzungen sind wahrscheinlich.

Unwahrscheinlich dagegen ist eine Rückkehr dieser Vielvölkerstaaten.

Der in Jugoslawien geborene, in Slowenien promovierte, heute in Deutschland lebende Politikwissenschaftler Gal Kirn ist Autor von zwei auf Englisch erschienenen Büchern »Partisan Ruptures« (2019) und »The Partisan Counter-Archive« (2020). Mit dem Stoff von gestern umkreist er Antworten für heute.

Im Interview zeigt er den autoritären Charakter Jugoslawiens, aber auch progressive Entwicklungen wie die antikolonialen Impulse, er spricht über die weit verbreitete Jugo-Nostalgie wie weiße Flecken in den Debatten über Aufstieg und Fall Jugoslawiens. Seine dialektische wie internationale Sicht beeindruckt.

In den 1990er Jahren hofften und glaubten Mehrheiten in Ost- und Südosteuropa, sie könnten durch eine nachholende Modernisierung sich Westeuropa angleichen.

Doch spätestens mit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 wurde klar, dass die Peripherie weiter peripherisiert wurde und auf EU-Ebene kein politischer Wille existiert, die Krise zu lösen. Mit dem Aufstieg rechter Bewegungen in ganz Europa sind die Leute aufgewacht und fragen sich, wie es dazu kommen konnte. Doch Viktor Orbán ist kein Produkt vermeintlicher ungarischer Eigenarten, sondern ein Resultat der politischen und ökonomischen Widersprüche in der EU. Die Lehre aus der jugoslawischen Geschichte lautet daher, dass die Aufgabe gesellschaftlicher Solidarität und Kooperation zwischen den Republiken sehr schnell zu nationalistischen Losungen und sogar zum Krieg führen kann.

Gerade unsere auf harte Konkurrenz beruhende Wirtschaft und die fortschreitende Entsolidarisierung innerhalb der EU erinnern deshalb zuweilen an Jugoslawien, wo der Zerfall damit begann, dass die reicheren Teilrepubliken Slowenien und Kroatien sich gegen den Lastenausgleich für die armen Regionen wie Bosnien, Mazedonien und Kosovo wandten.

Sein Fazit ist eine Reconquista von links:

Die gesellschaftliche Linke hat in den vergangenen Jahrzehnten so viele Niederlagen hinnehmen müssen, dass eine positive, emanzipative Zukunft kaum mehr möglich erscheint. Diese linke Melancholie kann auch durch eine Intervention in Geschichtsdebatten, die häufig von nationalistischen Interpretationen dominiert sind, aufgebrochen werden.

Die linke Melancholie – oder: Was kann der Zerfall Jugoslawiens uns heute sagen?

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Kommentare 7
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

    Also die EU ist doch keine totalitär regierte "Föderale Republik" wie Jugoslawien. Der Vergleich hinkt auf allen vier Beinen. Wie groß war denn dort die "gesellschaftlicher Solidarität und Kooperation" wirklich, hinter dem mit "sozialistischer" Macht zusammengehaltenen Staatengebilde und dem großserbischen Nationalismus, den anderen Nationalismen? Waren die wechselseitigen Massaker im II. WK und danach je ganz vergessen?
    Und auch Viktor Orbán ist ein Produkt vielfältiger historischer Enwivklungen und nicht entweder nur das "Produkt vermeintlicher ungarischer Eigenarten" oder nur "ein Resultat der politischen und ökonomischen Widersprüche in der EU".
    Und die Geschichte der Linken im 20. Jahrhundert ist nicht so sehr geprägt von tragischen Niederlagen sondern von spektakulären Erfolgen. Große Teile der Welt und der Bevölkerung nannten sich sozialistisch. Grausame Verbrechen eingeschlossen. Und Lernunfähigkeit ....

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      Einige Anmerkungen in Eile:

      Nicht nur für mich das beste Buch über die Traumata Jugoslawiens:
      https://www.fischerver...

      Ich sprach mit vielen: Vom großen Autor Tisma, der schon 2003 starb, bis zuletzt mit Slobodan Snajder, dessen Werk endlich bei einem großen Verlag auf Deutsch erscheint (Hanser). Keiner bezeichnete Jugoslawien als totalitär. Was es schon dadurch nicht sein konnte, dass der jugoslawische Reisepass der meist geklaute war, denn mit ihm konnte man - durch Titos Antikolonialismus - visafrei in mehr Länder reisen als mit irgendeinem anderen.

      Nicht zuletzt deshalb gibt es eine Tito-Nostalgie in vielen Nachfolgestaaten. Beliebte Restaurants und Disko heißen nach Tito.

      Sein Mitkämpfer und späterer Kritiker Djilas schrieb ein wichtiges, auch international beachtetes Buch: Die neue Klasse.

      Damit waren die Funktionäre gemeint, Snajder sagte mir, heute könne man es erneut für Kroation schreiben: Die neue Kaste.

      Die Aufstiegsmöglichkeiten in diesem EU-Land seien geringer. Ähnliches hörte ich in der kroatisches Kulturhauptstadt 2020 Rjieka.

      Der Vergleich Jugoslawien - EU ist nicht neu. Norbert Mappes-Niediek schrieb u. a. darüber ein immer noch lesenswertes Buch: Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann (Berlin 2005).

      Das Besondere an dem mit diesem Piq vorgestellten Gal Kirn ist, dass er nicht zur Erlebnisgeneration gehört, aber familiär durch die Zerfalls- und Aufteilungskriege geprägt ist.

      Er kennt die alten Diskussionen und führt sie fort. Bislang brachte ein solcher Generationswechsel immer Richtungswechsel.

      Natürlich ist das Buch vielschichtiger, aber es gibt im Interview deutliche Fingerzeige für diese neue Deutung, die man vor Ort noch stärker merkt.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

      @Achim Engelberg Ich weiß nicht, ob die Tatsche, dass man Reisen konnte gegen das Totalitäre spricht? Auch einen Pass muß man beantragen. Und "Sein Mitkämpfer und späterer Kritiker Djilas" verbrachte für seine kritischen Schriften viele Jahre in Titos politischem Knast. Dort war er nicht allein. Es gab eine Partei und einen Führer an der Macht. Wie will man das nennen?

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      @Thomas Wahl Eine totalitäre Diktatur mit offenen Grenzen ist schwer vorzustellen.

      Bei Milovan Djilas sieht man ziemlich gut das Schmutzige, Widersprüchliche der Geschichte:

      Bis 1947 war er ein übler Dogmatiker, der Menschen für Nichtigkeiten verhaften ließ, dann wurde er nach einigen Jahren im Knast ein weltberühmter Dissident. Sein Sohn Andrej, mit dem ich bei zwei Bücher zusammenarbeitete, erzählte mir in der alten ZK-Wohnung seines Vaters, die nun seine ist und die die Familie in den Jahren des Exils behalten durfte, wo er seinen Vater zum erstenmal sah: im Knast.

      Gerade ist ein Roman erschienen, beruhend auf einem realen Schicksal. Über eine in Titos Gulag Inhaftierte, die in Israel wieder Kommunistin wurde.

      https://www.deutschlan...

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre

      @Achim Engelberg Wie offen waren denn die Grenzen. Auch unter Hitler konnte man teilweise reisen. Polen und Ungarn konnten während des Eisernen Vorhangs begrenzt in den Westen reisen.
      Ich kenne Djilas Bücher und sein Schicksal. Das macht mich ja so skeptisch.
      Also vielleicht macht das die Diktatur etwas weniger total. Eine ziemlich umfassende Diktatur bleibt es. Oder wie soll man das deuten:
      "Als jüdische Partisanin hatte sie gemeinsam mit ihrem serbischen Ehemann an der Seite Titos gegen die Nazis gekämpft. Beide wurden später als Stalinisten angesehen, ihr Mann, die große Liebe ihres Lebens, brachte sich in Haft um, sie überlebte die Internierung auf der berüchtigten Gefängnisinsel Goli Otok."

    5. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      @Thomas Wahl WAS NINA WUSSTE erschien gestern und ich las das Werk bislang nicht. Interessant ist, dass auch im aktuellen SPIEGEL ein Mehrseiter zum Buch ist.
      In einem älteren SPIEGEL findet man das letzte Interview von Milovan Djilas, das wenige Tage nach seinem Tod im April 1995 erschien.
      https://magazin.spiege...
      Angesichts des Todes waren seine letzten Worte zu Tito:
      "Die Geschichte wird Tito rehabilitieren. Tito bevorzugte kein Volk innerhalb Jugoslawiens, wie das heute in Serbien behauptet wird. Er war für Jugoslawien und glaubte, daß aus Jugoslawien eines Tages eine Nation werden könnte. Allerdings begannen die einzelnen Republiken schon zu seinen Lebzeiten, sich wirtschaftlich und politisch abzusondern."

      Aleksa Djilas, aber auch andere wie Andrej Ivanji (deshalb mein Schreibfehler oben), bestätigten mir das mehrfach. Ich kenne Aleksa seit 2001 und diese Rehabilitierung war im letzten Jahr augenfällig. Und nicht nur in Serbien, sondern auch in Kroatien. In der Kulturhauptstadt 2020 Rjieka gibt es Debatten um die Wiederherstellung von Titos Schiff und Einrichtung eines Museums. Hier ist einiges in Bewegung.

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre

      @Achim Engelberg Danke für das spannende Interview. Ich weiß nicht, ob es stimmt, das Tito kein Volk bevorzugte. Das System, an dessen Spitze er stand, tat es jedenfalls. Es war auch der Wahn, ein Mann an der Spitze könne die Gesellschaft steuern. Er (wie alle kommunistischen Führer) tat alles um an die Macht zu kommen und um seine Macht zu erhalten. Und ohne ihn brach dann alles zusammen. Dafür und für die vielen Opfer ist und bleibt er verantwortlich.

      Ja, in Rußland rehabilitiert man inzwischen auch Stalin. Finde das alles sehr bedenklich ....

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