Ein bisschen Kulturanalyse zum Sonntag: Die Filmemacherin Marlowe Granados beschäftigt sich auf The Baffler mit dem Erfolg von Tiktok und versucht zu ergründen, warum Teenager die App so lieben.

Interessant ist ihre historische Beobachtung, dass die ständig neuen choreografierten Hype-Tänze, die mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die Tanzkultur prägten, auf Tiktok wiederkehren, nachdem sie die Generation der Millenials übersprungen haben. Granados erkläre auch die durch Corona noch verstärkte Enge und gleichzeitige Heimeligkeit, die die Videos prägt:

"Instagram sticks largely to cities or touristic vistas. Alternatively, TikTok shows us corners of the world not popularly depicted—the taupe walls of Middle America, the insides of mid-size vehicles, and the indistinguishable landscape of the common North American backyard"

Das festgefrorene "Instagram-Gesicht", das viele Frauen auf der Foto-Plattform präsentieren (notfalls mithilfe von OPs), hat auf Tiktok keine Chance - es geht um Persönlichkeit und Bewegung, nicht um digital nachbearbeitete Gemälde. (Zum "Instagram-Face" noch ein Gedanke: Vielleicht besteht - metaphorisch gedacht - die Singularität ja nicht in einer KI, der sich die Welt unterwirft, sondern darin, dass alle Frauengesichter zu einem "single, cyborgian face" verschmelzen.)

Was die "Creator" entwickeln, sind Fähigkeiten, die man für Facebook oder Instagram (und natürlich Twitter) nicht brauchte bzw. gar nicht anwenden konnte:

Now quarantined in their bedrooms, its teens nurture a multidisciplinary skillset that leans on enigmatic charisma, quippy humor, and a knack for editing. They conjure narratives from nothing and package them within a minute’s timeframe.

Nicht nur weil die erfolgreichsten Tiktokerinnen Hauptrollen in Filmen (Addison Rae Easterling im "Eine wie keine"-Remake) bekommen, ist die Kulturrevolution in vollem Gange:

The way TikTok rapidly produces hit songs, fashion trends, and teen icons feels somewhat like MTV in the 1990s and 2000s. The difference is that TikTok’s content is largely created by the same generation that consumes it. Its creators, by showing videos to an audience that most likely does not know them in real life, are encouraged to make their celebrity out of what can be found in their bedrooms—themselves.

Wer sich für Tiktok und seine jungen Nutzer selbst interessiert, nicht für die zähen Debatten über Datenschutz, Zensur, die Eigentümerstruktur des Unternehmens und die Rolle Chinas oder Trump, kann in diesem Artikel noch etwas über eines der wichtigsten Phänomene unserer Zeit lernen.