Was ist "digital literacy" oder "digitale Medienkompetenz", von der in Deutschland immer die Rede ist? Ich verfolge diesen Diskurs schon seit geraumer Zeit und ich bin immer wieder erschrocken, mit welcher Selbstsicherheit und Vehemenz diese Frage anscheinend in manchen Kreisen beantwortet wird. Als ob wir das heute überhaupt wissen können! Wie können Lehrer, die ihre gesamte Jugend analog verbracht haben und oft nur mit Schmerzen und Unwillen sich dem Digitalen ausgesetzt haben – wie können diese Menschen beanspruchen, jungen Leuten beizubringen, wie man mit dem digitalen Technologien umgeht?

Alexander Kluge macht es sich nicht leicht. Der Gemeinplatz, dass das Digitale eine neue Form von Lesekompetenz erfordere, wird von ihm zuerst mal durch die mediale Weltgeschichte geschleift, um die Digitalisierung mit der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks auf eine Stufe zu stellen. So wie mediale Umwälzungen immer ein ganzes Sammelsurium an gesellschaftlichen Neuerungen und psychologischen Modifikationen hervorbrachten, wird auch die Digitalisierung eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen hervorbringen – einen anders lesenden Menschen. Was ist das Gegenstück zur Bibliothek, die die Schriftlichkeit hervorbrachte? Was ist das Gegenstück der Kritik, die von der Buchdruckgesellschaft forciert wurde?

Die wirren, kompakten Verhältnisse unserer Welt müssen wir uns neu aneignen und umsortieren, wie es im Märchen die Tauben mit ihren Töpfen taten. NEU LESEN UND NEU SCHREIBEN heißt: die Realität erst noch herstellen, sie konstruieren. Nicht das Vorgefundene nachkauen. Ohne NEU LESEN keine Architektur des Realen. Wir arbeiten, ohne es schon zu wissen, an einem Neuanfang, einer Stunde null. 

Alexander Kluge gibt wenig konkrete Antworten auf seine Forderungen – er weiß offensichtlich nicht, was digitale Medienkompetenz ist, aber genau das ist der Wert des Textes.