Die digitale Revolution wurde immer auch von Erzählungen begleitet, Skeptiker würden gar sagen: von einer (oder mehreren?) Ideologie. Dazu zählt die Theorie des Long Tail: Das Internet mache alle Nischenprodukte für alle Menschen verfügbar, deshalb könne man auch mit den abseitigsten Produkten Erfolg haben. Der Bestseller und der Blockbuster, sie müssten also eigentlich längst tot sein. Ex-Wired-Chefredakteur Chris Anderson hat die These in den Nullerjahren verbreitet, sie war eines der großen Digitalisierungsversprechen. Viele Menschen, die sich mit dem Netz beschäftigen, gehen davon aus, dass sie stimmt. Ted Gioia nicht.

Der Musiker und Musik-Autor Gioia schreibt einen lesenswerten Newsletter über das Musik-Business und Kultur. In dieser Ausgabe nimmt er die Long-Tail-Theorie auseinander. Zu seinem eigenen Ärger gewinnt der Mainstream immer noch. Siehe die Blockbuster-Fortsetzungsschwemme im Kino. Auch Netflix und Spotify konnten Andersons Versprechen Gioia zufolge nicht einlösen. Statt langem Schwanz heißt es: The Winner takes it all.

Gioia ist ein Fan der Nische und der unkommerziellen Kultur, er wünscht sich sogar, dass die Theorie vom Long Tail zutrifft. Allein ihm fehlt der Glaube. Interessant sind seine Erfahrungen in der Kulturindustrie, nach denen es ein Bruchteil der Produkte und eine kleine Zahl von Heavy-Usern und -Kunden sind, die Unternehmen am Leben halten. Die Idealisten am Rand haben es schwer wie eh und je. Trotz seiner Niedergeschlagenheit reicht Gioias Kraft immerhin noch, um den Text mit einem Aufruf für mehr Nischenkultur zu beschließen. Der Long Tail mag kommerziell keinen Sinn geben, aber erhaltenswert ist er allemal!

Weiterführend zur Kultur im Digitalzeitalter empfehle ich diesen piq über das Buch "Status and Culture".