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Feature über das "scharfe Schwert" des Antisemitismus-Vorwurfs

Susanne Franzmeyer
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Susanne FranzmeyerMittwoch, 18.05.2022

In ihrem Feature "Vorwurf Antisemitismus – vom Umgang mit einem scharfen Schwert" beleuchten Heike Brunkhorst und Roman Herzog die Debatte um die Definition von Antisemitismus und im Speziellen den Umgang mit Antisemitismus-Vorwürfen in der Bundesrepublik. Spätestens der Anschlag in Halle 2019 hat wieder einmal unweigerlich ans Licht gebracht, dass es in Deutschland einen gefährlichen Antisemitismus aus tiefstem braunem Sumpf gibt, gegen den zweifellos mit allen Mitteln vorgegangen werden muss.

In der jüngeren Vergangenheit hatten Antisemitismus-Vorwürfe allerdings auch mehrfach renommierte Kulturschaffende ins Aus befördert. Sie wurden zum Rücktritt gedrängt bzw. von ihnen geplante kulturelle Vorhaben auf Eis gelegt – und das, obwohl die Vorwürfe nicht immer ganz gerechtfertigt schienen.

"Es ist unproduktiv und für eine demokratische Öffentlichkeit abträglich, wenn wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen. Konfrontation und Auseinandersetzung müssen gerade in öffentlich geführten Kultur- und Diskursräumen möglich sein."

Der Judaist Peter Schäfer, der die - bis zum aufkommenden Vorwurf – lange erfolgreich laufende Ausstellung "Welcome to Jerusalem" verantwortete, sah sich nach hitzigen öffentlichen Debatten gezwungen, als Direktor des Jüdischen Museums in Berlin zurückzutreten. Der Grund: Er hatte per Tweet einen Artikel als lesenswert empfohlen, in dem über die kritische Haltung von Hunderten jüdischen Wissenschaftler*innen gegenüber dem vom Parlament verabschiedeten "BSD-Beschluss" berichtet wurde. Die BDS-Bewegung ist eine umstrittene internationale Kampagne, die für "Boykott, Desinvestition und Sanktionen" gegenüber Israel steht, und deren Einstufung als "antisemitisch" über (fast) alle Parteigrenzen hinweg einschlägig anerkannt wurde.

Einem Seminar jüdischer Israelis an der Kunsthochschule Weißensee, das sich kritisch mit der eigenen zionistischen Erziehung auseinandersetzen wollte, wurden wegen Antisemitismus-Vorwürfen die Gelder gestrichen und die Räumlichkeiten verwehrt. Stefanie Carp schließlich, die von 2018 an Intendantin der Ruhr-Triennale war, musste 2020 von ihrem Posten weichen, da sie Achill Mbembe, einen bis dato weltweit geachteten und preisgekrönten Theoretiker des Postkolonialismus, eingeladen hatte, die Eröffnungsrede zu halten. Auch hier lautete der Vorwurf: Antisemitismus. Das ging vielen Kunst- und Kulturschaffenden zu weit.

"Deutsches Theater Berlin, 10.12.2020. Drei Dutzend Intendantinnen und Intendanten der führenden Kultureinrichtungen Deutschlands geben eine öffentliche Erklärung ab:
'Aus diesem Grund haben wir uns zu der Initiative 'GG5.3 Weltoffenheit' zusammengefunden.'
GG5.3 - gemeint ist Artikel 5, Absatz 3 Grundgesetz, der die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sichert. Diese Freiheit sieht die Initiative in Deutschland in Gefahr."

Stefanie Carp konnte die Vorwürfe hinsichtlich Achill Mbembes nicht nachvollziehen. Sie ist sich sicher, dass keiner derjenigen, die diese Vorwürfe erhoben, Achill Mbembes Bücher je gelesen hatte.

"Ich habe wirklich alle seine Bücher mit Interesse gelesen und es war ein bisschen auch eine Leitlinie des Kuratierens. Dann gab es diesen Brief eines Abgeordneten der FDP, ein offener Brief, in dem ich aufgefordert wurde, Achill Mbembe wieder auszuladen. Und dann wurden drei völlig aus dem Zusammenhang gerissene Sätze aus einem Kapitel seiner Bücher, in dem er eben die Lebensverhältnisse der Palästinenser in den besetzten Gebieten kritisch beschreibt, (...) aber nur als Beispiel für das, was er 'Trennungsprozesse' nennt - Trennungen, die in westlichen Demokratien vorgenommen werden - und dafür ist Israel/Palästina eines der Beispiele. Das ist ja seine These, dass die Demokratie diese Trennung braucht, einen Feind im Außen braucht, eine Art Apartheid braucht, um selber als Demokratie bestehen zu können, an der aber eben nicht alle beteiligt sein dürfen. An diesen Sätzen sollte bewiesen werden, laut Herrn Lorenz Deutsch, dass Achill Mbembe antisemitisches Gedankengut hege."

Das Feature geht dann der Sache auf den Grund, wie es zu diesen Vorwürfen kommen konnte und beleuchtet verschiedene Definitionen von Antisemitismus, die parallel existieren und von Jüdinnen und Juden und von jüdischen Institutionen weltweit anerkannt werden. Eine stammt von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), und ihr Wortlaut wurde von der Bundesregierung als politische Leitlinie für Exekutive, Justiz, Schul- und Erwachsenenbildung bestimmt:

"Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen."

Diese Definition findet allgemeine Anerkennung und wird übrigens von vielen Ländern als Leitlinie betrachtet. Allerdings werden, so die Autoren, die darin aufgeführten Anwendungsbeispiele nicht unkritisch aufgefasst – hier finde sich ein verstärkt Israel-bezogener Antisemitismus als Schwerpunkt. Einen der in den Anwendungsbeispielen genannten Sätze nahm die Bundesrepublik – im Gegensatz zu anderen Ländern - direkt mit in ihre Leitlinien-Definition auf:

"Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein."

Gerade aber dieser Israel-bezogene Antisemitismus habe in der Folge einen Konflikt losgetreten. Die Antisemitismus-Definition der IHRA wurde, so erfährt die Hörerschaft, von einem Gremium erarbeitet, bei dem Kenneth S. Stern, Rechtsexperte für Hate-Speech und Zionist aus den USA, die Federführung innehatte. Ziel war es, so Stern, einen globalen Standard zu schaffen, der grenz- und zeitübergreifend gültig sein sollte. Was das Gremium aber nicht bezweckt habe, war, die Definition als "Waffe für politische Hexenjagden" oder "gegen Einzelpersonen" zu richten. Auch sollten nicht bestimmte "Meinungsäußerungen" damit "unterbunden" werden. Stern machte aber genau diese Beobachtung:

"Schnell sah ich aber, wie die Definition für Hexenjagden missbraucht wurde. Das besorgt mich bis heute. Das Problem ist, dass rechte jüdische Organisationen die Definition als Waffe begreifen und sie institutionalisieren wollen. Setzen Menschen die Definition als Waffe ein, verzerren sie den Sinn, so dass er ihren politischen Absichten entspricht."

Die Kritik an der Politik Israels sollte aber in einer Demokratie möglich sein, so die Botschaft. Die oben benannte Klausel dürfe nicht per se herangezogen werden, um jegliche Kritik zu unterbinden. Dass davon selbst Jüdinnen und Juden betroffen sind, die eine kritische Haltung gegenüber der Politik Israels vertreten, sorgt international für Aufsehen.

"Jede Menge linker Israelis leben in Deutschland. Sie gelten aber nicht als Teil der Jüdischen Stimme. Im Gegenteil: Oftmals werden sie als Antisemiten bezeichnet, wenn sie Einstellungen äußern, die heute weltweit unter Juden legitim sind. Also sehr kritische Positionen zur israelischen Politik, kritisch gegen den Zionismus, dessen Kernanliegen sie infrage stellen. (...) So kommt es dann zu diesen bizarren Situationen, dass nichtjüdische Deutsche Juden in Deutschland vorhalten, sie wüssten nicht, was es bedeutet, Jude zu sein, und ihnen Antisemitismus vorwerfen. Etwas Vergleichbares gibt es nirgendwo sonst auf der Welt."

Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein, der die Diskussion um Achill Mbembe anstieß, ruderte im Fall des Antisemitismus-Vorwurfs der FFF-Aktivistin Luisa Neubauer gegenüber Hans-Georg Maaßen allerdings erst einmal zurück: "Der Antisemitismusvorwurf", den diese während einer Talkshow äußerte, sei "ein scharfes Schwert" und fordere "eindeutige und klare Belege". Diese Belege gab es bereits und sie wurden auch danach bekräftigt - auch Klein wird das später bestätigen - dennoch bleibt ein unangenehmer Nachgeschmack, warum Klein hier offenbar mit zweierlei Ma(a)ß gemessen hat.

Einen Gegenentwurf zur IHRA-Erklärung zur Definition des Antisemitismus bietet übrigens, so hören wir, seit 2021 die "Jerusalemer Erklärung". Darin heißt es sogar – was inbesondere im Hinblick auf die heftige Zurückweisung der BDS-Bewegung hierzulande aufhorchen lässt – "Boykott, Desinvestition und Sanktionen" seien "gängige gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten". Und "im Falle Israels" seien sie "nicht per se antisemitisch". Amos Goldberg, Historiker an der Hebrew University in Jerusalem, hat die Definition mit initiiert. Hunderte Antisemitismusforscher haben sie weltweit unterzeichnet.

"Gemäß praktischer Anwendung bedeutet Kritik an der Politik Israels Antisemitismus. Es sei denn, du kannst das Gegenteil beweisen (...) Prinzipiell ist die Kritik nicht antisemitisch, sondern politisch. (...) Wird eine antisemitische Bildsprache verwendet oder Israel über belegbare Beweise hinaus dämonisiert, ist die Grenze zum Antisemitismus überschritten. Und da liegt der Unterschied. Die 'Jerusalemer Erklärung' geht von der Unschuldsvermutung aus und die IHRA-Definition davon, dass die kritische Debatte antisemitisch ist."

Kenneth Stern sieht im Focus der Debatte auf die Definition die Gefahr, den Blick auf das Große und Ganze zu verlieren. Die Debatte halte ab vom eigentlichen Kampf gegen den Antisemitismus:

"Menschen werden als Antisemiten beschimpft, und der Begriff wurde dermaßen verwässert, dass zu begreifen, was Antisemitismus ist, immer schwieriger wird. Aus Deutschland höre ich von Rechtsextremismus in der Bundeswehr. Das sollte Antisemitismusforscher mehr beschäftigen als ein Tweet über Israel, den sie nicht gut finden."

Feature über das "scharfe Schwert" des Antisemitismus-Vorwurfs

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Kommentare 2
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor fast 2 Jahre · bearbeitet vor fast 2 Jahre

    Der Artikel bringt es ganz gut auf den Punkt. Man könnte noch erwähnen dass wir in Deutschland vielleicht . ..überempfindlich sind, weil Antisemitismus ja tatsächlich oft in Verkleidung da herkommt. Zudem haben wir hier ein strengeres Gesetz gegen Antisemitismus und zb Nazi-Symbole als zb in den USA, die für unsere Begriffe sehr vieles 'durchgehen' lassen was bei uns schon längst strafbar und als Volksverhetzung gilt.

    und ehrlich gesagt kenne ich viele Diskussionen die so anfangen: ich will ja nur kritisch was gegen Israel sagen und nicht ....
    und ähm natürlich können an sich auch 'Juden' antisemitisch reden und sind nicht automatisch im Besitz der Deutungshoheit. Allerdings die nicht-jüdischen Deutschen ala recht (nicht).

    Aber ja: schon "witzig", wer dann oft die Antisemitismus-Keule rausholt und ansonsten gern antirassistisch und diskriminierend sich äußert...

  2. Jürgen Klute
    Jürgen Klute · vor fast 2 Jahre

    Danke für den Hinweis. Das ist ein äußerst wichtiger Beitrag. Ich hoffe, dass er zur Aufklärung und zu einem sachgerechteren Umgang mit dem Thema beiträgt.

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