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Medien und Gesellschaft

Zur Debatte ums Gendern: Der Kontext ist entscheidend

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
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Dirk LiesemerDonnerstag, 24.06.2021

Eigentlich wollte ich mich hier nicht mehr zum Gendern äußern, und manch einer mag jetzt denken, dass das wohl auch besser gewesen wäre. Aber nun wird das Gendern doch zu einem kleinen Wahlkampfthema, und es bleibt auch sonst ein Plagegeist. Dieser Tage haben einige Nachrichtenagenturen angekündigt, künftig "diskriminierungssensibler" zu berichten, was von Christian Geyer klug kommentiert wurde:

Ob es sich beim herkömmlichen Sprachgebrauch tatsächlich um Diskriminierungen handelt oder um etwas anderes, wird gar nicht erst gefragt. Man übernimmt Voraussetzungen, ohne ihre Triftigkeit zu prüfen. Anderenfalls müsste man ja eine Debatte über Bedeutungen führen, und das möchte man nicht, vermutlich um die Kompaktheit des sprachlichen Selbstverständnisses nicht zu gefährden. Sprachliche Genderdebatten verhindern Sprachbedeutungsdebatten, und die Nachrichtenagenturen verhindern gerade kräftig mit.

Hinweisen will ich auf einen Essay von Ingo Meyer, der als Korrektor im Berliner Verlag arbeitet. Er führt darin aus, warum das Genum ein geschlechtsblindes Sprach-Chamäleon ist. Unter anderem wird Ewa Trutkowski zitiert, die wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer DFG-Forschergruppe ist, deren Existenz ich mir bis eben nicht einmal vorstellen konnte: Forschungsgruppe 'Relativsätze', Teilprojekt 'Die linke Peripherie von Relativsätzen'.

„Die potenzielle Mehrdeutigkeit maskuliner Nomen war und ist kein Problem“, sagt die Linguistin Ewa Trutkowski, „denn der sprachliche und außersprachliche Kontext reduziert die Auswahl unterschiedlicher Interpretationen meistens auf die eine wahrscheinlichste.“ Sämtliche Studien, die gegen das Genum ins Feld geführt werden, operieren ohne solche Kontextualisierungen. Frauen und Diverse sind nicht unsichtbar in der Sprache. Sie sind unsichtbar in manchen Köpfen.

Klar, man kann jetzt bemängeln, warum ich nur Argumente gegen das Gendern vorstelle. Wer sich mit den anderen Argumenten befassen will, möge dem Kollegen Simon Hurtz folgen. Allerdings überzeugen mich die Gegenargumente nicht.

Im Kern geht es um die Frage, ob man unter Ärzten, Beamten und Politikern nur Männer versteht. Nein, natürlich nicht – da sind sich alle einig. Aber muss man das noch deutlicher machen?

Über zwei Strategien wird gestritten: Die einen wollen Wörter ändern, Sonderzeichen einführen und in die Grammatik eingreifen, damit man stets auf ein entsprechendes Schriftbild gestoßen wird.

Die anderen sagen: Hey, befasst euch mal mit der Bedeutung von Begriffen. Bei Worten wie "Ärzte" oder "Politiker" handelt es sich um allgemeine, geschlechtsneutrale Aussagen. Zudem: Grammatikalisches und menschliches Geschlecht sind zwei unterschiedliche Dinge: Die Sonne ist keine Frau, der Mond kein Mann.

Sollten wir also Bücher umschreiben oder an unserem Verständnis von Sprache arbeiten? Ich bin für Letzteres.

Wer es ausführlicher will, möge einen Blick in das Buch "Von Menschen und Mensch*innen" werfen. Es ist kürzlich im Springer-Wissenschaftsverlag erschienen und wurde von Fabian Payr verfasst. Im Feuilleton der FAZ heißt es:

Payr demonstriert, wie sehr das generische Maskulinum in der Grammatik des Deutschen verankert ist und welche Verwerfungen konsequentes Gendern nach sich ziehen würde. Das gilt nicht nur für Pronomen wie „wer“, „niemand“ oder „man“, die umgeprägt werden müssten. Es betrifft auch die Struktur vieler Wörter, die das generische Maskulinum in ihrem Inneren tragen. Man kann nur hoffen, dass Formen wie Bürger*innen*meister*inwahl das Gruselkabinett abschreckender Beispiele nie verlassen werden.

Gelobt wird:

In einem nüchternen und zugleich gut lesbaren Stil, der ohne schrille Zuspitzungen à la „Genderwahn“ auskommt, beschreibt Payr die Funktionsweise des grammatischen Geschlechts und kritisiert die Mixtur aus ideologischen Motiven und wackeligen linguistischen Begründungen, mit denen das Gendern gerechtfertigt und durchgesetzt wird.

Zurück zum gepiqten Text, der zuletzt auch auf die Macht des Sprachwandels verweist:

Sprache reflektiert individuelle Vorstellungen. Ein Beispiel für erfolgreichen Vorstellungswandel ist der Begriff „Wähler“. Hier stellte man sich vor 100 Jahren ausschließlich erwachsene Männer vor. Als auch Frauen wählen durften, änderte sich auch die Vorstellungswelt hinter dem Begriff. Was hätte hier eine Wortumformung von Wählerverzeichnis in Wählendenverzeichnis genutzt?

In eben diesem Wandel liegt der Hebel. Denn es geht - siehe oben – um Kontext und Bewusstsein. Und beides ist nie statisch.

Zur Debatte ums Gendern: Der Kontext ist entscheidend

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Kommentare 13
  1. Martin Krohs
    Martin Krohs · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

    Die Debatte in der Berliner Zeitung ist ja schon eine Zeit her (ich fand sie auch sehr gut) aber ich poste hier nochmal meinen eigenen Beitrag, der kürzlich bei Tell-Review erschienen ist. Nicht, weil ich meine Texte pushen will, sondern weil er durch eine genaue Terminologie deutlich macht, wo die beiden Parteien einander missverstehen und er insgesamt sozusagen eine Zwischenposition einnimmt. Hoffe das ist ok für euch, liebe Piqer!

    https://tell-review.de...

  2. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 2 Jahre

    ah das Ganze "war und ist also kein Problem", schön das zu hören. Dann können wir ja aufhören darüber nachzudenken. ..
    "Was hätte hier eine Wortumformung von Wählerverzeichnis in Wählendenverzeichnis genutzt?" Ganz einfach: juristisch hätte dies automatisch bewirkt dass Frauen wählen dürfen.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre

      Warum? Wenn juristisch nur Männer "Wählende" waren?

    2. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

      @Thomas Wahl gemeint war ja dass dort "Wähler und Wählerinnen" stünde; aber ok: bei "Wählende" oder "alle Menschen dürfen wählen" wäre es zumindest offen gewesen für die Forderung nach Wahlrecht.
      Da hatten ja so einige GesetzestextE tatsächlich Potential - die amerikanische Unabhängigkeitserklärung die eben von allen Menschen spricht: und so trotz des "eigentlich gemeinten" und jahrelang wie selbstverständlich angewendeten: 'nur Männer', 'nur weiße (wohlhabende) Männer'... so trotzdem universeller war. und die Basis war für weitere Ansprüche.

      Im gaaaaanz kleinen vergleichbar wenn art. 1 GG von der Würde aller Menschen spricht und die GrundrechteArtikel - und eben wie selbstverständlich nur die Erwachsenen meint.
      Auch daher die durchaus begründete Diskussion um Kinderwahlrechte etc.
      Potential...

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre

      @Cornelia Gliem Ich glaube, das Formulieren von Texten, die Rechte verteilen und das Ändern von Wörtern darin, die genauer sagen sollen, was sowieso gemeint ist, bewirkt gar nichts. Unsere ganzen Diskussionen hier erscheinen mir zynisch, wenn ich sehe, wie der Westen in Afghanistan hunderttausende Bürger*innen den Klerikalfaschisten/Taliban überläßt und den Schwanz einzieht. Wer soll da das Gerede von universellen Rechten, gendergerechter Sprache etc. noch jemals ernst nehmen? Wir erteilen Rechte mehr oder weniger verbal ohne die damit notwendigen Pflichten einzufordern oder auch nur zu erwähnen.

      Sorry, aber das mußte mal raus.

  3. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor fast 3 Jahre

    ja, vielleicht hätten Sie es sein lassen können - vorallem wenn Ihr Text nichts neues vorbringt.

    und nur am Rande: Gästin gab es schon - nachweislich seit dem Mittelalter.
    und Ihr Wähler-Beispiel ist ein Eigentor: denn wenn das Verzeichnis Wähler-/Innen-Verzeichnis geheißen hätte, hätte es auf jeden Fall Frauen angesprochen, und juristisch inkludiert...

  4. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor fast 3 Jahre

    Wie ist es denn mit der Gender-Gerechtigkeit bei Völkern und Nationen, die kein generisches Maskulinum in der Sprache haben?

    1. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor fast 3 Jahre

      wenn es kein generisches maskulinum gibt, wird sprachlich nicht (auf diese Weise) diskriminiert.

      und das Englische welches so gern von deutschsprachigen Gendergegnern aufgeführt wird, klingt für uns (!) eben doch "maskulin", zb teachER.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 3 Jahre

      @Cornelia Gliem Sind denn dadurch die Gesellschaften dort real besser? In Ungarn z.B.? Müssen die Engländer jetzt ihre Endungen mit "er" ändern, damit für einige in D das nicht mehr "maskulin" klingt? Das erscheint mir alles etwas absurd.

      Es ist doch kein Selbstzweck, diese von vielen gar nicht empfundene "sprachliche Diskriminierung" abzuschaffen. Sollten wir unsere begrenzten Kräfte nicht auf Probleme konzentrieren, die real sind? Da könnte man sich doch produktiver profilieren?

    3. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor fast 3 Jahre

      @Thomas Wahl Dass eine geschlechslose Sprache ein Ende der Diskriminierung bedeutet, ist jedenfalls Unsinn. Sonst wäre der Iran ein feministisches Land. Der Sprachwissenschaftler Mehrdad Saeedi schrieb 2018: "Im Hinblick auf das Persische und dessen exemplarischem Kernland Iran muss man hier aber auch sagen, dass das reine Fehlen des grammatischen Geschlechts nicht automatisch einem Fehlen von soziokulturell bedingten problematischen Sprach- und Denkweisen über Geschlechter und Machtverhältnisse gleichkommt. Die hartnäckigen Spuren der männlichen Sprachdominanz ungrammatischer Natur und gar sexistischen Sprachgebrauchs im bewussten sowie unbewussten Sprachverhalten vieler Iraner und ja auch Iranerinnen, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Bildungsgrad und ihrer sozialen Stellung, konnten nämlich in den letzten Jahren in mehreren wissenschaftlichen Studien innerhalb der Islamischen Republik Iran und von iranischen Soziolinguisten selbst belegt werden. Für die Debatte in Deutschland könnte dies bedeuten, dass selbst eine etwaige absolut geschlechtsneutrale Sprache nicht zwingend eine Entdiskriminierung des weiblichen oder sonstigen Geschlechts zur Folge haben wird." http://www.multiperspe...

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 3 Jahre

      @Dirk Liesemer Das denke ich auch ….. Weder zwingend noch wahrscheinlich.

  5. Gabriel Koraus
    Gabriel Koraus · vor fast 3 Jahre · bearbeitet vor fast 3 Jahre

    Vielen Dank für den Piq sowie die weiterführenden Texthinweise. Alle gelesen, wie auch bei den vergangenen Debatten hier auf piqd.
    Sind alle wissenswert!

    Dennoch oder gerade deswegen: mich vermag weder der "fanatische Genderwahn", noch die "maskulin-grammatikalische Beharrungsstarre" zu überzeugen.
    Selbstverständlich basiert jeglicher linguistischer Determinus auf einer massiven Verkürzung der aller kulturellen Dynamik zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten.

    Gleichsam ist das generische Maskulinum eben faktisch ganz klar nicht geschlechtsneutral und "sexusindifferent" wirksam, auch wenn es sprachtheoretisch wohl so angelegt ist. Praktisch assoziieren Termini wie "Wähler", "Politiker", "Ärzte" und "Kunden" (und ja: auch "Mond") männliche Protagonisten.

    Ist einfach so, Kontext hin oder her.
    Nicht bewusst, nicht als direkte Ausgrenzung, is klar.
    Aber eben als unbewusstes "Mitdenkenmüssen" und historisch konstituierte Selbstverständlichkeit, die einem nicht direkt Betroffenen (Mann) etwas schwerer zu vermitteln ist.

    Das kann man nun semiotisch und linguistisch kritisieren, am lebensweltlichen Rezeptionsmuster ändert sich aber nichts.

    Was ist denn so schwer daran, einfach "Schülerinnen", "Anwältinnen" und "Autorinnen" zu sagen?

    Und nein, die bloße Tatsache, hierbei das Frau-sein mitzuthematisieren, stellt keine Reduktion und Sexualisierung dar.

    Vielmehr eine neue Selbstverständlichkeit!

    Ich erachte die Diskussion als zu extrem.
    Einiges kann gut gegendert werden? Dann machen!
    Anderes nicht so gut ("Gästinnen")?
    Dann erstmal lassen!
    Und "Bürger*innen*meister*inwahl" ist natürlich eine orthographische Katastrophe.
    Aber mit extremen Beispielen und Dammbruchargumenten ist noch keine Debatte sinnvoll und konstruktiv geführt worden.

    Für mich fängt das Problem eigentlich dort an, wo dem Gendern selber Exklusivismus vorgeworfen wird, weil es trans- und nicht-binäre Sexualidentitäten nicht adäquat repräsentieren und damit diskriminieren würde. Denn was bedeutet es, wenn irgendwann jegliche Form der Selbstdarstellung mit distinktem Appelativ berücksichtigt werden muss?

    Sprache ist kein Naturgesetz, aber auch kein beliebig manipulierbarer Determinator. Sie ist Effekt und Phänomen innerhalb kulturwirksamer Interdependenzen. Ich bin aufrichtig gespannt, wie es in 10 Jahren aussieht...

    1. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor fast 3 Jahre

      Solche Kommentare wünscht man sich doch hier!

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