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Literatur

VOGUE Imagining

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelMontag, 16.12.2019

Eigentlich wollte ich hier über Martin Scorseses THE IRISHMAN schreiben, über dessen Mafia-Trilogie MEAN STREETS - GOOD FELLAS - CASINO ich damals bei der alten Theaterwissenschafts-Legende Henning Rischbieter, der möglicherweise keinen dieser Filme jemals gesehen hatte, meine Magisterprüfung ablegte (These vergessen).

THE IRISHMAN ist nach einer Buchvorlage von Charles Brandt entstanden, die den viel besseren Titel I HEARD YOU PAINT HOUSES trägt (... was dann allerdings doch nur wieder Mafia-Lingo für "ich hör du knallst Leute ab" ist). Im Film erzählt uns jedenfalls ein alter Mafia-Killer (Robert de Niro als Frank Sheeran) dreieinhalb Stunden lang wirr aus seinem Mafia-Leben und nichts daran ist neu: die Kamerafahrten, de Niros verkniffenes Omèrta-Gesicht, das dazugehörige pseudolakonische "It is what it is"-Gelaber, Al Pacinos schlimmes method acting als Gewerkschafts-Boss Jimmy Hoffa ("Solidarity. SOLIDARITY!"). Hoffa verschwand in den 70ern in den USA und wurde laut Frank Sheeran angeblich von Frank Sheeran abgeknallt, was aber historisch hochumstritten ist (und was auch kein Drama wäre, wenn de Niro in der ZEIT seinem gebannten Interviewer nicht so superstreet-tough was von realness als einzigem Kriterium für "gute Geschichten" vorgequatscht hätte).

Das Deprimierendste aber war, dass sich THE IRISHMAN wie eine Mafiarentner-Parodie anfühlte, für die man nicht mal mehr ins Kino gehen musste, um sie lieber auf Netflix zu gucken: also drei Abende hintereinander jeweils eine geschlagene Stunde lang wie eine öde Mini-Serie, dabei selbst rentnermäßig auf der Couch vom Einschlafen bedroht ...

Cut. Und was hat das bitte mit Literatenfunk beziehungsweise der neuen Januar-Ausgabe der VOGUE zu tun? - Dazu jetzt sofort.

Denn das Heft fiel mir direkt nach meiner Scorsese-Depression in die Hände und ist eine von der Künstlerin Katharina Grosse kuratierte Sonder-Ausgabe mit dem Lennon-Merkel-Titel IMAGINE - WIR SCHAFFEN DAS. Drei Tage lang hat Grosse über 20 Künstlerinnen zu einem großen Fashion-Shooting eingeladen, unter ihnen auch ein kleines Who is who des Berliner Literaturbetriebs: von Annika Reich und Annett Gröschner bis zu Lina Muzur und Karin Graf (im Sia-Look). Gefeiert wurde hier Fashion eher als Verb to fashion ("gestalten", "schaffen") - und ein wenig unklar bleibt beim Durchblättern der beeindruckend langen Bilderstrecke höchstens ein wenig, was genau eigentlich - außer einem weiblichen WIR, das sich pro gender-diversity, Liberalität, Flüchtlingspolitik etc. einsetzt.

In einem ebenso poetischen wie pathetisch-politischen Begleittext beschreiben Annika Reich und Katharina Grosse durchaus nicht unriskant das Projekt (... nicht unriskant, weil Fashion als Fashion ja eben nun mal auch für Distinktion, Elite, Luxuskapitalismus usw. steht):

Wir müssen keine Sekunde darauf warten, dass sich etwas ändert. Die Wirklichkeit liegt weder vor noch hinter uns. Sie funkt von unseren Fingerspitzen, entsteht mit jedem Wimpern-, Hand- und Zungenschlag. Wenn wir genau hinhören, dann entdecken wir alle Stimmlagen, die es braucht: für Entscheidungen, Tonartwechsel und Revolution.

Wirklichkeit ist tausendmal handhabbarer, als wir es für möglich halten. Wenn das für alle gelten soll, dann gibt es nur ein Kriterium, das die Zugehörigkeit bestimmt: Wer da ist, wird gehört und gesehen. Wer da ist, funkt mit. Wir müssen also von den unterschiedlichsten Stellen funken und die Verbindung halten – über Entfernungen, Spiegelungen, Gräben und all die erlernten und hochgerüsteten Grenzen hinweg. Wir müssen uns mit allen, die anders denken, anders gedacht werden, anders aussehen, anders sehen, anders lieben und das wollen, verbinden und verbunden bleiben. Eine geteilte Welt muss die Zukunft als Ausgangspunkt setzen und allen entgegenkommen, auch den Korallen.

Die drei Tage, in denen wir zusammenkamen, waren ein Experiment: risikoreich und operettenhaft, überbordend und ernsthaft, wild, sanft und eigenartig. Ab und zu auf Messers Schneide, ein Fest, aus der Grenze heraus gefeiert. Vorher haben wir lange überlegt, wie wir mit den Erwartungen, Geschlechterrollen, Schönheitsidealen und Geschäftsmodellen umgehen, die wir nicht teilen, und wie es aussehen könnte, wenn wir uns trotzdem auf die Einladung einlassen und all das aus unseren Perspektiven hinterfragen. Einem antiken Drama gleich gab es einen festgelegten Ort, eine festgelegte Zeit und einen Handlungsrahmen: das Shooting. Nur wie sich unsere Andersartigkeiten im Zusammenspiel aufführen würden, das musste sich in aller Offenheit ereignen. Es ging nicht um uns persönlich, sondern darum, das Zusammenwirken zu zeigen. Das gemeinsame Funken erschafft die neue Welt, das Rolemodel. Grenzen sind keine Linien, sondern Aushandlungszonen. Sich da hineinzubegeben erfordert Mut; in diesen Zonen wirklich zusammenzukommen und gemeinsam zu handeln ist eine Form der Schönheit, die uns immer noch umhaut. Wunschkraft und Wirklichkeit sind Schwestern. Wie real das ist, wie schön.

Über den etwas hoch zielenden Ton kann sich jetzt lustig machen, wer will, aber deutlich spürbar bleibt trotzdem das Bemühen um ein gemeinsames "Wir", das niemanden außen vor lässt (außer vielleicht Männer, die ohnehin nie die VOGUE in die Hand nehmen würden). Ein Wir, an das sich die Heftmacherinnen immer wieder im Stil von literarischen Coaches mit schönen (Anti-)Motivations-Aphorismen wenden: "Machen, was man für verzichtbar hält." "Gegen die Erpressbarkeit durch Wünsche." Oder: "Dieses Zuhören und in einer Gruppe denken, das war ganz stark bei der Londoner Bloomsbury Group oder auch bei den Berliner Salonièren im 19. Jahrhundert." (Erika Hoffmann)

In jedem Fall brachte mich die aktuelle VOGUE und der old-fashioned IRISHMAN fast zu so etwas wie einer These über die Gegensätzlichkeiten von weiblichem "Wir" und männlichem "Ich" in der westlichen Erzählkultur. ("Fast", weil ich solchen Thesen misstraue, am meisten bei mir selbst.) Denn bei Scorsese gibt und gab es natürlich immer eine genauso pathetische (und höchstens ein bisschen ironisch gebrochene) Feier des einsamen Ichs (meist nostalgisch eingefärbt als Einsamkeit der Erinnerung, wenn im IRISHMAN beispielsweise die junge Pflegerin von Frank Sheeran nicht mal mehr weiß, wer Jimmy Hoffa überhaupt war). Das Lonertum galt gewissermaßen als Grundvoraussetzung für den intimen Dialog zwischen Movie-Maker und Movie-Goer, über den Scorsese selbst am besten Auskunft geben konnte.

So zum Beispiel in dem schönen Band SCORSESE ÜBER SCORSESE (Hg. David Thompson, Ian Christie, Aus dem Amerikanischen von Renate Gehlen. Verlag der Autoren, 1996):

Es gibt in TAXI DRIVER eine Einstellung, in der Travis Bickle mit Betsy telefoniert, und die Kamera löst sich von ihm und blickt den langen Flur hinunter, und da ist niemand. Das war die erste Einstellung, an die ich bei dem Film gedacht habe, und es war die letzte, die ich gedreht habe. Ich mag sie, weil ich spürte, daß sie zu der Einsamkeit des Ganzen beitrug (...)

Überall in der Welt haben mir Leute dies bestätigt, sogar in China. Ich war zu einem dreiwöchigen Seminar dort, und da war auch ein junger mongolischer Student, der ein bißchen englisch sprach und mir überallhin durch Peking folgte. Er redete dauernd über TAXI DRIVER. Er sagte: „Wissen Sie, ich bin sehr einsam“, und ich sagte: „Ja, im Grunde sind wir das doch alle.“ Dann sagte er: „Sie haben die Einsamkeit sehr gut vermittelt.“, und ich dankte ihm. Dann kam er wieder an und fragte mich: „Was mache ich nur mit der Einsamkeit?“ Er war nicht unbedingt verrückt, er war ein wirklich interessierter Filmstudent. Ich sagte: „Sehr oft versuche ich, sie in meine Arbeit einzubringen.“ Also kam er ein paar Tage später wieder und sagte: „Ich habe versucht, sie in meiner Arbeit unterzubringen, aber sie geht nicht weg.“ Ich antwortete: „Nein, sie geht nicht weg, es gibt dagegen kein Zaubermittel.“

Selbstverständlich ist auch die aktuelle VOGUE kein solches Zaubermittel. Und dennoch wäre es wünschenswert, in diesen scheinbar so vernetzten Zeiten aus dem Monologischen ins Dialogische zu treten.

Denn ein bisschen was von der hier imaginierten Gegenüberstellung von weiblichem Wir versus männlichem Ich ließ sich sogar aus den beiden Nobelpreisreden der letzten Woche heraushören: Hier Olga Tokarczuks Polyphonie (als "vierte Perspektive"), dort Peter Handkes sentimentales Ich. Selbst die WELT empfand Handke dabei fast schon als Scorsese-Charakter:

Die beiden Reden hätten unterschiedlicher nicht ausfallen können. Hier eine politisch engagierte, über den Zustand der Welt scharf sinnierende Tokarczuk, die den Medienwandel und die politische Radikalisierung der Moderne fest in den Blick nahm. Dort der 77-jährige Handke, der an eine alternde, absteigende Figur aus einem Scorsese-Film erinnerte – mit dem Bewusstsein, dass gerade daraus der poetische Reiz seines gesamten Werkes entspringt.

Wenn Einsamkeit und Connectedness die beiden markanten Gefühlszustände unserer Zeit sein sollten, wird es spannend sein zu beobachten, was sich als der größere Horror und das größere Glück herausstellen wird. Choose sides or come on over to the other side!

VOGUE Imagining

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