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Literatur

Stranger Thing Serielles Erzählen

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelFreitag, 26.07.2019

Achtung, die reale Lesezeit aller hier verlinkten Artikel beträgt ungefähr 97 Minuten und ich habe jetzt jedenfalls bei 30° am Abend endlich geschafft, die dritte Staffel Stranger Things durchzugucken. Am, wie die New York Times in ihrer Rezension meinte, nach Game of Thrones vermutlich letzten großen Lagerfeuer dessen, was früher mal Fernsehen war, geht es immer noch in einer Mischung aus TKKG, Stand by me und Splatter-Horror um eine amerikanische Kleinstadt in den 80ern, in der sich eine Handvoll Kids gegen unterirdische Monster und diesmal noch böse Russen wehren müssen. Die Handlung in ihrer zusammengeklauten Beklopptheit zusammenzufassen, bemüht sich der tapfere Medienredakteur im unten verlinkten Artikel, das kann man sich also schenken (ein einziger plotgetriebener Logikfehler, der irgendwie durch das gnadenlose over-acting Winona Ryders oder Millie Bobby Browns kompensiert werden soll).

Drangeblieben bin ich eigentlich nur aus drei Gründen.

Erstens der Verdacht, es könnte sich hier unterschwellig um eine fundamentale Selbstkritik von Amerika und unserer gesamten Popkultur halten: das amorphe Monster heißt nämlich großartigerweise nur "the Mind Flayer" ("der Gedankenschinder"), was noch großartiger klingt, wenn die Kinder dauernd mit tragischem Ernst vor ihm warnen müssen ("it's the Mind Flayer!"). Der MF zieht magisch ausschließlich Ratten, Menschen und Kinovorlagen an, die sofort zu kranken Zombies werden, bevor sie explodieren und der Gedankenschinder sich ihre matschigen Körperreste zur eigenen Stärkung reinsaugen kann. Und währenddessen überstehen die kleinen Helden den größten Horror weitgehend untraumatisiert bis ungerührt, weil sie sich im Grunde nur für sich selbst und die eigenen pubertären Gefühle interessieren: gerade eben noch wurde der eigene Bruder brutalst vom Monster zerstört - traurig, klar, aber eine Szene später singt man schon wieder fröhlich Songs von Limahl.

Zweitens Maya Hawke, die Tochter von Uma Thurman und Ethan Hawke, die in der dritten Staffel erstmals auftaucht und ein Punk-Indie-Girl als Eisverkäuferin spielt. Sie muss die ganze Zeit in einem Matrosen-Anzug rumlaufen, knackt als einzige den Code der unter einer Mall in einem bizarren unterirdischen Labyrinth operierenden Russen und entzieht sich als Love-Interest gekonnt ihrem Eisverkäufer-Kollegen, indem sie sich als lesbisch outet (so wie man interessanterweise these days immer schwerer glauben kann, dass die sinnlich-spirituelle Suche nach romance & guidance aktueller weiblicher Pop-Ikonen von Sally Rooney bis Banks jemals wieder etwas so Runtergerocktem wie einem Mann gelten könnte).

Drittens das insgeheime Frohlocken darüber, dass der große, übermächtige Erzählfeind, Aufmerksamkeits-Gegner und Lebenszeitvernichter Serien-Streaming bald ins Gras beißen könnte, wenn dort weiter so uninspiriert content runtergesampled wird.

Ein Verdacht, den schließlich auch zwei große Essays, Reportagen oder Untersuchungen aus der Jungle World beziehungsweise dem New York Times Magazine erhärten, die sich Siegeszug und Untergang der Serie widmen:

In Serialize it! versucht Georg Seeßlen vielleicht ein paar Seh-Erfahrungen und Schlussfolgerungen zu viel unter einen Hut zu bringen. Aber dafür formuliert er immerhin 17(!) super Regeln für die "neuen Serien" ...

1. Erfülle viele Erwartungen und Konventionen, breche aber mindestens eben so viele. Zeige auf gar keinen Fall »heile Welt«. Zeige Schmutz und Blut, lass erkennen, dass deine Geschichte in einer verlorenen, korrupten und zukunftslosen Welt spielt, wenn nicht gar in der Hölle.

2. Treibe drei Elemente an den Rand des Erlaubten: Sex, Gewalt und Zynismus.

3. Wirf eine Erzählmaschine an, die immer perfekter und selbstreflexiver läuft, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie beginnt, leer durchzudrehen oder heißzulaufen.

4. Kill ein paar Darlings!

5. Zitiere, aber tue es nie respektvoll, sondern wollüstig destruktiv.

6. Werde gelegentlich überraschend ernst, wenn nicht gar geistreich.

7. Berühre mindestens ein Tabu.

8. Egal welches Genre, welchen Hintergrund, welche Kostümierung du wählst, lass‘ die Kritik argwöhnen, du meintest genau die Welt, wie sie gerade ist.

9. Die eigentlichen Stars sind Showrunner beziehungsweise Autoren. Regisseure haben der Sache zu dienen und müssen sich eben so zurückhalten wie die Schauspieler, die vor allem teamdienlich sein müssen. Eine TV-Serie verkauft keinen Star, eine TV-Serie verkauft »eine Welt«. Keine Bilder, sondern einen Look. Keine Geschichte, sondern ¬einen Zustand. Die Serien sind nicht zuletzt eine Form, die Machtverhältnisse in der Produktion audiovisuellen Contents zu verändern.

10. Die neuen TV-Serien »machen« eher Stars, als sie zu nutzen. Man sieht daher nicht nur einem Star beim Werden zu, man sieht sich selbst beim Mit-Machen eines Stars zu.

11. Vermittle dem Publikum, dass du es ernst nimmst, oder auch gleich persönlich. Du folgst nicht einer Geschichte (genau darum sind lineare Geschichten und Hollywoodianische 3-Akt-Dramaturgie durchaus unangemessen), du tauchst in eine irgendwie organische, irgendwie architektonische Konstruktion ein.

12. Entfalte mehr lose Enden, als jemals im Sinne einer konsistenten Logik zu verknüpfen sein werden. Führe bewusst Handlungsfäden ein, die sich als Irrwege oder Ablenkungen erweisen. Spicke dein Script mit Hinweisen darauf, was alles möglich sein könnte. Lass ab und an jemanden etwas sagen oder tun, was erst in einer späteren Folge einen Sinn ergibt. Erzeuge, mit anderen Worten Spannung nicht in einer zwei-, sondern in einer dreidimensionalen Weise: Nicht das Ja oder Nein eines Cliffhangers (oder das Wie, wenn es um einen ohnehin unsterblichen Helden geht), sondern die Auswahl unter vielen Möglichkeiten ist der Leitstern.

13. Benutze einen hoch symbolischen und anspielungsreichen Vorspann.

14. Zitiere (spätestens) im Abspann einen populären Indie-Rock-Song.

15. Erkläre deinem eigenen Genre den semantischen und moralischen Krieg. Verhalte dich zu deinen Vorlagen, gleichgültig ob Krimi, Western oder Fantasy, wie jemand, der nun aber wirklich »alles« und »richtig« zeigt (womit automatisch alles Vorhergegangene im Genre als Kinderkram erscheinen muss).

16. Berühre ein-, zweimal pro Staffel den Bereich, den man in anderem Zusammenhang als »Wahnsinn« bezeichnen würde. Mixe das Glaubwürdigste mit dem Unglaubwürdigsten.

17. Halte dich nicht einmal an diese Regeln.

... und bringt danach die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft auch und gerade hier (in nur noch sich selbst likende Lifestyle-Bubbles) ziemlich gut auf den Punkt:

Selbstverständlich wird die neue TV-Serie, konzipiert für ein junges, liberales, sarkastisches und nach dem Spektakulären hungerndes Publikum, weder den Kinofilm noch das »alte« Fernsehen überflüssig machen; der Markt der Bilderzählungen organisiert sich nur neu, allerdings mit wachsender Divergenz. Das Fatale an der Spaltung des TV-Verhaltens liegt in der Kraft der Selbstverstärkung. Um noch akzeptable Quoten zu erlangen, müssen die »alten« Sender, die öffentlich-rechtlichen vor allem, genau die Klientel bedienen, die noch im Geschmack an der »heilen Welt« verharrt. Daraus entsteht ein mehr oder weniger gerontologisches Fernsehen, aus Quiz-Sendungen, »Traumschiff« und Formaten über die »Heimat«, durchsetzt mit der üblichen Krimi-Kost, was wiederum die letzten Zuschauer vertreiben dürfte. Aber das gilt auch umgekehrt: Die Mehrzahl der Serien überfordert die verbale und visuelle Toleranz der klassischen Fernsehzuschauer, die an ihrem Medium gerade das Mainstream-Gemütliche und Akzeptierte schätzten. Der Kitsch wird immer kitschiger, und der »Realismus« wird immer realistischer. Die Verlangsamung und die Beschleunigung werden immer inkomensurabler, so wie sich immer mehr das Übereindeutige vom Ambiguen trennt. Am Ende, wer weiß, sind die Bilderwelten einander so fremd wie die politischen Milieus.

Unter dem Titel "The Great Race to Rule Streaming TV" begibt sich Seeßlens Kollege Jonah Weiner dagegen vor allem in die Hölle Corporate America in Form von Netflix, Amazon, HBO & Co - ... Because there's too much money out here (Travis Scott) haben dort längst die Big Data-Boys von Marketing und Marktforschung die Macht übernommen. Spannend daran ist vor allem, worum es den Mega-Companies inzwischen ausschließlich geht: erbarmungslose Monetarisierung unserer attention-span. Und gegen wen sie dafür mit immer kürzeren Formaten (die Buddenbrooks in 5 Minuten auf dein iPhone) in den Krieg ziehen ... Kleiner Spoiler: es ist nicht die Literatur.

... The dominant force driving TV in the Netflix age is the same one driving social networks, video-sharing platforms and online publishers: the relentless pursuit and monetization of our attention. For media companies like AT&T, the real value of HBO-style “prestige” programming is not that it produces works of art as profound as “The Sopranos” but that it offers a viable market alternative to all the gaming videos, makeup tutorials and alt-right primers that millions of people spend millions of minutes watching on their phones every day. Randall L. Stephenson, AT&T’s chief executive, has expressed his desire for 20-minute edits of “Game of Thrones” — a length more optimal for mobile viewing. In a similar vein, the Hollywood mogul Jeffrey Katzenberg is building a new streaming service named Quibi, for “quick bites,” devoted to lavishly financed, big-name programming that will reportedly be delivered in phone-friendly 10-minute chunks. As the Netflix boss Reed Hastings put it in 2017, making a half-joke about bleary-eyed binge-watching that was no less dystopian for its tongue-in-cheek delivery: “We actually compete with sleep. And we’re winning.”


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Kommentare 1
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 4 Jahre

    So düster sehe ich das gar nicht - von wegen Zerfalls der TV-Welt in getrennte Lager hinter Mauern aus Nicht-Verständnis. Allerdings führt die herrlich freie WahlMöglichkeit des Streamens (=und das ist es! ... theoretisch übrigens auch schon bei Erfindung der Videotheken angelegt) bei gleichzeitigem Verlust gemeinsamer kollektiver Sozialer Zeit vor dem Fernseher tatsächlich zu dem Gefühl in verschiedenen Fan-/Milieu-Welten zu leben.
    (ob das analog ist zu früheren Ablösen des kollektiven Theaters zum individuellem
    Buch? vom kino zum Fernseher?)

    Daher wohl die große Anstrengungen vieler, die serienInteressen und seh-Gewohnheiten abzugleichen, sich intensiv zwitcherchattig
    in reallife und digital-Sozialräumen auszutauschen und zu "missionieren" :-)

    aber man erkennt m.A.n. bereits Gegenbewegungen und Neues am Ende des Tunnels: gemeinsames Streamen - public viewing - herbeigerufene Serien-Hypes (echte serien und Kinofilm-Reihen wie Marvels 22).

    :-)

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