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Literatur

"Langweilige Postkarten", ein hochinteressanter Bildband

"Langweilige Postkarten", ein hochinteressanter Bildband

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMittwoch, 23.08.2017

Laut Cioran haben durch den Zustand der Langeweile auch Nichtgläubige die Möglichkeit, das Absolute zu erfahren. Dieser Gedanke kann vielleicht die Bedeutung von "Langweilige Postkarten" (Martin Parr, Phaidon-Verlag) unterstreichen, einem Bildband, der den Versuch unternimmt, Langeweile zu visualisieren, und zwar in Gestalt von Ansichtskarten, einem Medium, das eigentlich Interessantheit verspricht. Wer eine Ansichtskarte verschickt, kauft sich durch das mitgelieferte Bild vom Zwang, etwas Interessantes mitzuteilen frei und kann die Rückseite mit langweiligen Bemerkungen füllen: "Hier ist es schön". Das Oxymoron im Buchtitel ist wahrscheinlich als verkaufsträchtige Provokation gemeint, denn anders als in der Literatur, wo Langeweile oft geradezu als Ausweis für Qualität gilt, dürfte es bei Fotobänden schwer sein, mit dieser Kategorie zu punkten. Anders gesagt: Ansichtskarten müssen schon sehr langweilig sein, um interessant genug für einen Bildband zu sein.

Beim Betrachten erweist sich das Programm schnell als unerfüllbar. Es ist eigentlich unmöglich, etwas Langweiliges zu fotografieren, ohne daß es gerade dadurch interessant wird. Schon die Tatsache, daß diese Bilder nie langweilig gemeint waren, sondern für einen gewissen Stolz auf Erreichtes sprechen, ist interessant. Der Band macht zum Glück nicht die Vergangenheit lächerlich, und er geht über das Überlegenheitserlebnis hinaus, das angesichts früherer ästhetischer Vorlieben leicht zu haben wäre. Bei Stadtansichten dürften Fotos von Interessantem, also sogenannten Sehenswürdigkeiten, auch viel langweiliger sein als Aufnahmen scheinbar unwichtiger Straßenzüge, Gebäude oder Plätze. Außerdem bleibt immer noch genug zu entdecken, was sich zufällig aufs Bild geschlichen hat.

Die Aufnahmen stammen ungefähr aus den 50er bis 70er Jahren aus Ost- und Westdeutschland. Das muß man dazusagen, denn einen stilistischen Unterschied zwischen beiden Deutschlands kann man hier kaum erkennen. Das vor Augen zu führen, dürfte eine der Intentionen des Sammlers gewesen sein, der den Betrachter durch die Bildzusammenstellung oft genug an der Nase herumführt. Auf beiden Seiten Deutschlands herrscht damals Aufbruchstimmung, architektonisch gut zu erkennen an modernen Zweckbauten mit tageslichthungrigen Glasfassaden, schwungvoll auskragenden Betondächern, einem noch nicht problematisierten Miteinander von Wohnungsbau und Straßenbau, der stilistischen Nähe von Alten- und Erholungsheim. Technische Leistungen wie Autobahnen, Brücken, Hochhausscheiben werden gefeiert, mal sind es Hotels (Sheraton in München, Hotel Warnow in Rostock), dann wieder ein Wohnstift für Senioren (Augustinum, Bad Neuenahr). Der Westen hat neue Rathäuser wie in Flensburg, Peine, Ahrensburg, zu bieten, Hochhäuser mit flachem Anbau, die zeigen, daß diese Bauweise keine Eigenheit des Sozialismus war und die nachhaltige Zuschreibung dieser Bauweise an den Osten umso erstaunlicher erscheinen lassen. Manchmal führen die Bilder zu Aha-Erlebnissen, nie ist mir beim Umsteigen bewußt gewesen, wie schön der neue Bahnhof von Braunschweig aussieht! Die stilistischen Überschneidungen sind geradezu frappierend. Die Fußgängerpassage in der Nord-West-Stadt in Frankfurt/Main scheint eine Kopie der Fußgängerpassage in Halle/Neustadt zu sein. Die Diabetes-Klinik in Bad Oeynhausen und das Südstadt-Krankenhaus in Rostock stehen sich auf zwei Seiten des Buchs gegenüber wie nahe Verwandte. Daß es eine Divergenz der Systeme gab, sieht man aber an der Gegenüberstellung von Elektro-Versuchsschnelltriebwagenzug ICE-S und der Diesellok "Taigatrommel", die im Osten noch bis zum Ende in Betrieb war.

Die DDR hat gerne ihre Neubaugebiete durch Postkarten nobilitiert, Rostock Lütten-Klein, Wolfen-Nord, Greifswald-Schönwalde, Zwickau Neu-Planitz, Zeitz-Ost, Gera-Lusan sind mit vierteiligen Ansichten vertreten. Schon diese Vierteilung der Bildseite, wie von Urlaubsorten gewohnt, suggeriert, daß man sich an einem sehenswürdigen Ort befindet. Dem oberflächlichen Betrachter mögen diese Bilder eintönig vorkommen, aber auf den zweiten Blick erkennt man Details, die schon dadurch so interessant sind, daß sie heute weitgehend verschwunden sind, der Spielplatz mit dem Hangelbogen, die frisch gepflanzten Bäume, der konstruktivistische Fassadenschmuck, Skulpturen aus Bronze, die noch nicht von Altmetalldieben geklaut wurden und aus Keramik, die noch nicht von jugendlichen Vandalen zerstört wurden, die Springbrunnen werden noch betrieben, die alten Kugellaternen aus Glas sind noch nicht zerschmissen oder ausgetauscht worden, die Kinderwagen haben noch Seitenfenster, weil man damals eine Zeitlang Bauchlage für richtig hielt. Aber berührender ist für mich diese eigenartig metaphysische Stimmung, es gibt kaum Autos auf den Straßen, überall scheint Hochsommer zu sein und die Menschen sind verreist, bis auf wenige, die in der Hitze zwischen dem Beton ausharren, an einer Bushaltestelle stehen oder unterwegs zur Kaufhalle sind.

Der Osten bildet außerdem gerne neue Schulgebäude ab, man erkennt sie auch an den von Schülern ausgeschnittenen Papierblumen und Losungen in den Fenstern ("Mit guten Taten überall/ voran zum X.Festival"). Ob in Schwepnitz, Oschatz-West oder Wilkau-Hasslau, immer ganz ähnliche Schultypen mit Fensterfronten nach beiden Seiten und einem überdachten Eingangsportal mit Freitreppe, wie man es heute noch sieht. Eine weitere "Errungenschaft" sind die Speisesäle, Clubräume ("Schach und Lesezimmer" auf dem Urlauberschiff "Fritz Heckert") und Bars von FDGB-Erholungsheimen, mit offenbar von Künstlern oder Kunsthandwerkern angefertigtem Wandschmuck, mit abgehängter Decke, die durch Faltungen oder Löcher konstruktivistische Muster bekommt, mit hölzernen Faltwänden als Raumteilern, folkloristischem Wandschmuck aus den sozialistischen Bruderländern. Ikonen der Erholung findet man wieder, das Hotel Neptun in Rostock-Warnemünde oder das FDGB-Erholungsheim "Rennsteig" in Oberhof, beides damals für Normalsterbliche unerreichbare Ziele.

Der Westen steht aber nicht nach, er hat spektakuläre Zweckbauten zu bieten, wie die Autobahnraststätte Frankenwald in Rudolphstein, ein "Brückenrasthaus". Der Bildvergleich zwischen früher (siehe Bild oben) und heute offenbart allerdings das ganze ästhetische Elend unserer Neuzeit, das Gebäude, das 1967 die erste bundesdeutsche Brückenraststätte war, ist modernisiert worden, rote Fensterrahmen, ein häßlicher Schriftzug, ein scheußlicher Standardspielplatz, Schallschutzwände, ein gläserner Anbau mit Fahrstuhl, nichts erinnert mehr an die ursprüngliche, spektakulär schlichte Eleganz des Gebäudes. Vor allem fehlt die herrliche Leere der alten Aufnahme, keine Autos, keine Menschen, keine bunte Werbung, nur die Landschaft und das Gebäude als kühner Solitär. (Die Autobahnbrücken-Raststätte Dammer Berge hat sich dagegen noch gut erhalten.)

Das Beispiel zeigt, daß es sich geradezu aufdrängt, anders als eigentlich üblich, wenn man an schönen Orten nach Postkarten sucht, nach den Orten zu suchen, die man auf diesen schönen Postkarten sieht.

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