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Literatur

Interrompu par les évènements

Interrompu par les évènements

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMontag, 11.07.2016

Julius Poseners "Heimliche Erinnerungen" wurden im Exil in Kuala Lumpur auf Englisch geschrieben, abends nach der Arbeit, und ich tue mich schwer, über das Buch zu schreiben, weil eine Fliege im Zimmer herumfliegt und mir die Konzentration raubt, das ist natürlich beschämend aber eben auch die Wahrheit. Und wenn Erinnerungen die Gleichzeitigkeit dieser beiden Seiten unseres Daseins beschreiben, die Geschichte der Welt und die Geschichte von Körper und Seele, dann sind sie für mich gelungen. Ich muß zugeben, daß ich mit wachsendem Vergnügen solche Erinnerungen lese, lieber als Romane, und die von Julius Posener, die erst 2014 erschienen sind, lesen sich wie große Literatur. Das liegt am Sinn für den literarischen Gehalt des Alltäglichen, an der Fähigkeit und Freude daran, das Leben humorvoll zu literarisieren, die manche Familien ihren Kindern mitgeben. Vielleicht hat es auch damit zu tun, daß damals noch so viel gelesen wurde und man das Denken in literarischen Mustern gewohnt war und an Typen, die einem begegneten, an der eigenen Familie und nicht zuletzt an sich selbst den anekdotischen Mehrwert erkannte. Das Buch ist voller gelungener Charakterisierungen von Menschen, oft durch genau wiedergegebene wörtliche Rede. Was außerdem auffällt ist die Schonungslosigkeit des Autors gegen sich selbst, wenn es um charakterliche Schwächen und sexuellen Nöte geht. Wir tauchen ein ins Leben einer jüdischen, großbürgerlichen Familie in Berlin, Kindheit im Kaiserreich, Wagenradhüte, Reformkleider und "Humpelröcke". Die Familie zieht mehrmals in neue, extra gebaute Villen im Westen Berlins um, mit Gärtner und Plätterin. Sadistische, schrullige Lehrer, ein Professor, der immer ein Stück Radium in der Hosentasche trägt. Schön sind die genau erinnerten Floskeln. Wenn man einen besonderen Apfel geschenkt bekommt, und ihn "mit Verstand" essen soll. Die Idylle trügt aber, der Vater fordert die Söhne auf, jedem, der sie beleidigt, die Nase blutig zu schlagen. Schlimmer ist ein Antisemitismus, gegen den man sich nicht mit Schlägen wehren kann, wenn ein Mitschüler sagt: "Es gibt da etwas, das zwischen uns steht und es uns unmöglich macht, befreundet zu sein." Dabei hat die Familie eine kritische Haltung zum Judentum, mit dem sie nichts anfangen kann: "Die hebräische Sprache in ihrer aschkenasischen Form, die von den Rabbis in der Synagoge gesprochen wurde, in die ich mich während meiner gesamten Kindheit und Jugend nur ein oder zweimal verirrt hatte, klang in meinen Ohren unrein wie sauer Erbrochenes." Aber man kann es sich nicht aussuchen, für die anderen ist man trotzdem ein Jude, und die Vorurteile sitzen tief: "Vogel wollte wissen, ob es wahr sei, daß bei jüdischen Mädchen 'das Ding' verkehrt herum sei." Posener betreibt eine interessante Selbstanalyse, indem er seinem frühen Leid am Prokrastinieren nachgeht, das sich zuerst zeigte, als er eine Fossiliensammlung anlegen wollte: "Der schlechte Nachgeschmack einer begonnenen und nicht zu Ende gebrachten Aufgabe. Es war die erste Erfahrung mit einer Verhaltensweise, die mich seitdem beständig begleitet hat." Der erste Weltkrieg, das sind Menschenmengen vor schwarzen Brettern, oder sie umringen vermeintliche russische Spione. Schokolade und Kuchen in Form von Granaten und Mörsern. 1914 seien großgedruckte Schlagzeilen erfunden worden (tatsächlich?) Posener schildert die süße Blasphemie, heimlich zärtlich mit dem Feind zu fühlen. Die Zeit der Ersatzstoffe, es gibt "Ziegenlammwurst" bzw. "Lütticher Wurst" zu essen, Emmentalerersatz und "Riga-Schnitte", einen nach Ammoniak und Sacharin schmeckenden Rübenkuchen. Alte Männer rauchen Kastanienblattzigarren. Der Bruder Karl ist an der Front und schreibt, daß sie britische Orangenmarmelade erobert haben. Die sächsischen Schützen hätten das Gesicht verzogen. Wenn die Briten schon Marmelade aus Schalen machten, würde der Scheißkrieg bald vorbei sein … Wenn in der Kriegsberichterstattung Ortsnamen wieder auftauchen, die man seit 1914 nicht mehr gehört hat, weiß Julius, daß es zu Ende geht. Bemerkenswert, wie er den Tod des Vaters beschreibt, bei dem er immer einen zufällig aufgeschnappten Schlager im Kopf hatte: "In einer kleinen Konditorei". Für solche idiosynkratischen Momente einen Sinn zu haben, das ist Literatur. Überhaupt der Tod des Vaters: er will zu Weihnachten unbedingt dem Dienstmädchen helfen, den Gabentisch hochzutragen. "'Nun sehen Sie, wie jung ich bin.' Es waren seine letzten Worte." Julius hat für ihn den Grabstein entworfen, der auf dem Parkfriedhof Lichterfelde steht. Er scheitert an seiner Doktorarbeit, weil er statt Architekturgeschichte unglaublich langsam Taines "Origines de la France contemporaine" liest. Das Thema Prokrastination läßt ihn nicht los: "Eines Tages war ich im Zimmer meines Bruders Karl allein, und plötzlich wurde mir bewußt, daß ich meine Zeit bisher vergeudet hatte. All die verschwendete Zeit, dachte ich, während ich im Raum auf und ab lief, all diese Zeit. Und während ich dies dachte, blickte ich auf meine Armbanduhr und stellte fest, daß ich eine weitere Viertelstunde vergeudet hatte. [..] Auf diese Weise begann meine Pubertät. Statt des goldenen Tors zur Freiheit hatte ich eine Bürde entdeckt, die auf mir lastete: Verantwortung für das eigene Leben zu tragen und die Zeit zu nutzen, die einem zur Verfügung steht." Er scheint durch tiefe Täler von Selbstzweifel gegangen zu sein, und doch ist er am Ende, wie der Klappentext verrät "zum Doyen der deutschen Architekturgeschichte" geworden. Gebäude sind auch in der Zeit des Scheiterns schon ein Trost, er liebt ja die Architektur, nur daß ihm keine Karriere bei einem der großen Architekten seiner Zeit gelingen will, die er aus der direkten Begegnung porträtiert, Erich Mendelsohn, Heinrich Tessenow, der charismatische Lehrer Hans Poelzig, dessen anmaßende Jünger lange Haare, Cordhosen und karierte Hemden trugen, Gropius und "die Gropia" (Alma Mahler) (Bauhaus: "wir schreiben klein, denn wir sparen zeit".) Er liefert überraschende Einsichten zur kulturgeschichtlichen Bedeutung von Architektur: Weil die deutschen Villen Zentralheizung haben, dienten die Kinderzimmer darin nicht nur zum Schlafen sondern auch zum Spielen, weswegen der Anblick des Betts keine peinlichen Gefühle auslöse und auch Mädchen zu Besuch kommen dürften, was wiederum zu Freizügigkeiten führe. Oder daß Kopfbahnhöfe über eine Kurve verfügen, um den Abschied zu verkürzen. Am Architekturstudium verzweifelt er aber, die komischen Professoren: "Menschen mit wahrem Geschmack kehren immer wieder zu den Jeriechen zurück." Oder einer, der Erinnerungen an die Jugend immer mit den Worten einleitet: "Als ich Bauleiter in Korinth war." Sie müssen endlos "Kohlköpfe" zeichnen (korinthische Kapitelle). Ein Erweckungserlebnis hat er, als er Hermann Muthesius entdeckt, der den englischen Landhausstil adaptiert hat. Er unternimmt Ausflüge durch die Stadt, um sich solche Gebäude anzusehen. Im "Haus Cramer" hat auf der Arbeitsplatte unter der Anrichte eine geöffnete Weinflasche Platz, aus der der Korken ja ein Stück heraussteht. Jenseits aller revolutionären Stile ist ein Architekt groß, wenn er an solche Kleinigkeiten gedacht hat. Aber Architektur ist auch Politik. Das Flachdach war damals in Deutschland Emblem Wahrzeichen der modernen Bewegung. Den Nazis galt es als "orientalisch", sie nannten es "Sukkoth-Architektur". (Heute bekommen Plattenbauten künstliche Giebel, weil das Flachdach für das Scheitern der sozialistischen Baupolitik steht.) Die heraufziehende Nazizeit, die politische Blindheit der Familie: "Als Ludwig XVI. gewaltsam nach Paris gebracht wurde, notierte er in seinem Tagebuch lediglich die Jagdtrophäen des Tages, und der Eintrag schließt lakonisch: 'Interrompu par les évènements.'" Während in den Straßen SA-Leute mit Sammelbüchsen klappern: "Für die Reise nach Jerusalem ohne Rückfahrkarte." 1935 emigriert Julius Posener nach Palästina und kehrt 1961 nach Deutschland zurück, um am Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule der Künste in Berlin zu lehren.

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