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Literatur

Vom Lesen in fremden Städten – Lily Brett, "Zu sehen"

Vom Lesen in fremden Städten – Lily Brett, "Zu sehen"

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDonnerstag, 22.06.2017

„Vor zwei Jahren, mit siebenundvierzig, habe ich mit dem Gewichtheben begonnen. Kein Mensch in meiner Familie hat jemals etwas Schwereres gehoben als einen großen Käsekuchen.“

Nach dreiundzwanzig Seiten hat sie mich. Diese Lily Brett, von der ich zum ersten Mal etwas lese, und das auch nur, weil das kleine Buch „Zu sehen“ so schön in mein Reisegepäck passte. In Brünn im Mai trage ich 330 Seiten Lebensreflexionen mit mir herum, erkunde eine reiche, schöne Stadt mit den Augen der Läuferin und Gewichtheberin. Sie in New York, ich in der Hauptstadt Mährens. Als junges Mädchen schwamm sie gern. Ich fing an zu schwimmen, als ich älter wurde. In Brünn gibt es viele Schwimmbäder, ein Flussbad und einen Stausee mit Badestelle, alles gut per Straßenbahn oder Trolley-Bus zu erreichen. Mein Schwimmbad liegt auf einem Hügel, von oben sehe ich hinüber zur Festung Spielberg, auf den alten Steinbruch mit seiner Hippiekolonie und die gelben Rapsfelder hinter den Neubaugebieten. Jeden zweiten Tag erklimme ich den Hügel Kravi hora (= Kuhberg) und bekomme für 2,61 Euro (meist) eine 25 Meter-Bahn für mich alleine, das heiße Blubberbecken, die Rückenmassagestrahler und die Dampfsauna oben drauf, über Mittag mit nur einer Handvoll anderer zu teilen. Auf dem Rückweg durch die Sportanlagen, am Baseballplatz und der Hundewiese vorbei, die Festung vor Augen, setze ich mich manchmal ins Gras. Der Flieder duftet. Lily Brett schreibt:

„Ich trainiere dreimal in der Woche. Nicht, weil ich wie Arnold Schwarzenegger aussehen möchte (obwohl ich das mittlerweile für gar nicht so schlecht halte), sondern weil es mir Spaß macht. Die Konzentration und die Zielstrebigkeit machen mir Spaß. Und die Herausforderung. Ich stöhne gern. Die Töne, die aus mir herauskommen, klingen so primitiv. Ich war immer so höflich und wohlerzogen. Ich gehöre zu denen, die niemals in Gegenwart eines anderen rülpsen oder furzen würden. Wenn man zweihundert Pfund stemmt, denkt man nicht an Körperfunktionen, sondern nur daran, wie man das Gewicht vom Boden hochbringt. Man kann sich keine Gedanken darüber machen, daß einem der Schweiß übers Gesicht rinnt oder daß man Schweißflecken unter den Armen oder Brüsten hat. Ich mag es gern, unbekümmert zu schwitzen und ein rotes Gesicht zu haben.“

Brünn pulsiert, Tausende junge Studenten prägen das Stadtbild. Die Museen, Theater, Galerien und Kneipen sind voller Menschen, manche bis in die Morgenstunden. Eine Stadt, die nie zerstört wurde (ich stamme aus Magdeburg, welches in den letzten Jahrhunderten gleich zweimal dem Erdboden gleichgemacht wurde) und immer modern sein wollte. Ein zehntägiges Festival erinnert im Mai daran, wie vielfältig diese Moderne war – bis nach dem Ende des letzten Weltkrieges die deutsche Bevölkerung vertrieben wurde. Die Juden (Kommunisten, Roma etc.) waren in den Jahren zuvor bereits in die KZs gesteckt worden, unter dem Beifall der deutschen Bevölkerung. Schwierige Geschichte und ein langer Anlauf, die Gräben zuzuschütten.

Kristina Günther-Vieweg, meine Mit-Stipendiatin in Brünn, erarbeitete mit ihren Schauspiel-Kollegen und dem Regisseur Jiří Honzírek ein szenisches Stück zum Schauspieler, Dichter, Journalisten und Theatersekretär Gustav Bondi, der im multikulturellen Brünn der Jahrhundertwende bis zum zweiten Weltkrieg hin wirkte und lebte. Kristina spielte, sprach und tanzte Marie Bondi, die Frau, die vierzig Jahre mit Gustav in Brünn lebte, ihm sechs Kinder gebar und froh war, dass er starb, bevor vier ihrer Kinder in KZs umgebracht wurden, wie ebenso viele ihrer Enkelkinder. Das Stück zeigt die wilde Lebensfreude der Bondis, denen Religionen und Sprachen egal waren. Sie lebte als Katholikin noch bis 1952 in Brünn, ihr Grab ist verschwunden, auf dem jüdischen Friedhof findet sich heute nur noch ein Stein für Gustav und zwei ihrer Kinder. Darauf Walderdbeeren.

Er lebt noch. Der Vater von Lily Brett, in ihrem Buch von 1997 bereits Rentner und Witwer und bei ihr in New York. Inzwischen ist er über 100 Jahre alt – ein Wunder. Lily Brett wurde 1946 in einem deutschen Lager für „Displaced Persons“ geboren. Ihre Eltern hatten im Ghetto von Lodz geheiratet, das KZ Auschwitz getrennt überlebt und einander erst nach monatelanger Suche wiedergefunden, jeweils glaubend, der andere sei tot. Sie wanderten nach Australien aus und ihre einzige Tochter erzählt in vielen autobiografisch geprägten Romanen von dieser Geschichte - und den Jahrzehnten danach. Wie fühlt sich ein Überlebender, was macht es mit einem Menschen, mit einer toten Familie zu leben, wem ist die Schuld für all das zu geben?

Lily Brett behandelt das zentrale Thema mit viel Humor. Und Schärfe. Sie schreibt über die vielen Diäten, die sie in ihrem Leben durchgezogen hat, genauso intensiv, wie über ihre Psychoanalysen, ihre Umzüge, ihre Süchte und Ängste. Während ich über einen Brünner Stolperstein laufe, auf dem mein Name steht, um ein Gespräch mit Nachkommen jüdischer Brünner Industriellen-Familien zu besuchen, gehen mir ihre Zeilen nicht aus dem Kopf.

"Komisch zu sein hat sich für mich immer bezahlt gemacht. Wenn es mir als Kind gelang, meine Mutter zum Lachen zu bringen, war das ein wunderbarer Tag."

Ich bin so froh, dass es Lily Brett gibt und dass ich sie in Brünn entdeckt habe. In einer Stadt, die ist wie viele in Europa, auf der Welt. Sie enthält ein Vakuum. Der Flieder ist verblüht, die Festivalbühne abgebaut, ich habe mir auf dem Heimweg in Weipert/Vejprty den böhmischen Erzgebirgshang angeschaut, auf dem meine Großmutter Blumen pflückte. Ein Gimpel grüßt aus dem Gebüsch.

"Mein Bedürfnis zu schreiben rührt zum Teil aus dem Bedürfnis, die Vergangenheit meiner Eltern zu dokumentieren. Ich möchte die Menschen wissen lassen, was geschah, mit ihnen und all den anderen Juden. Es gab so viele entsetzliche Dinge, die geschehen durften... Meine Eltern hatten mir oft gesagt, daß ich niemandem außer ihnen trauen könnte. Sie wußten, wozu Menschen fähig sind. Doch wenn jemand gut zu ihnen war, dann strahlten sie."


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