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Literatur

Reyner Banham loves Los Angeles

Reyner Banham loves Los Angeles

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMittwoch, 18.10.2017

Wenn ein britischer Professor für Architekturgeschichte vom University College London im Jahr 1972 in einer BBC-Dokumentation auftritt, die "Reyner Banham loves Los Angeles" heißt (der Titel erscheint am Anfang des Films in rosa Bubblestyle-Buchstaben auf einem Billboard), und - zu einem Zeitpunkt, als der autogerechte Umbau der europäischen Städte, der nach dem Krieg die Stadtplanung ersetzt hatte, langsam aber sicher als Fehler erkannt wurde-, einer der zu dieser Zeit autogerechtesten Städte der Welt, die gemeinhin als urbanes Desaster par excellence gilt (man denke an Woody Allens Kurzausflug nach L.A. in "Annie Hall") eine enthusiastische Liebeserklärung widmet (angeblich hat er sogar Auto fahren gelernt, um Los Angeles "im Original lesen zu können"), dann war das wohl durchaus als Provokation gemeint. Aber es zeigt auch, daß Besucher an Städten nicht unbedingt das reizt, was sie für ihre Bewohner angenehm macht. Als Freund der europäischen Stadt habe ich eine perverse Faszination für möglichst uneuropäische Städte, in denen alle Regeln gebrochen werden. Deshalb begeistert mich dieser Film über Los Angeles im Jahr 1972. (Gibt es die Stadt überhaupt schon so lange? Und wie lange noch?) Wer war dieser Reyner Banham, der im Film mit Bart und Sonnenbrille erstaunlich entspannt durch L.A. cruist und über Städtebau, die Schönheit ephemerer Architektur, Gentrifizierung, Surfbrettbemalung, Autofahren und ein Leben im Wohnwagen nachdenkt? In kaum einer Bibliographie von Büchern über moderne Architektur, die ich gelesen habe, fehlte Banhams "Theory and Design in the First Machine Age" von 1960 ("Die Revolution der Architektur", Rowohlt 1964). Es war seine Ph.D.-Arbeit, die er bei Nikolaus Pevsner geschrieben hat (Autor von "Pioneers of Modern Design. From William Morris to Walter Gropius"), eine textbasierte (Banham las offenbar Französisch, Deutsch und Italienisch im Original) Studie über die funktionalistische Architekturdoktrin, deren Entstehung weit vor dem Bauhaus lag. Banham, den man im Superman-T-Shirt Vorlesungen halten sehen kann, hat zunächst als Ingenieur gearbeitet, war aber auch früh von Pop-Art fasziniert. Er hat 1966 ein Buch über brutalistische Architektur geschrieben, "The New Brutalism" (das inzwischen bei Amazon über 300 Euro kostet.) Den Begriff Brutalismus hat er sehr früh mitgeprägt. Soweit ich es überblicke, ist kaum etwas von ihm auf Deutsch erschienen, auch nicht sein Buch über amerikanische Wüsten "Scenes in America Deserta" (777 Euro bei Amazon) und sein Buch über den Einfluß amerikanischer Getreidesilos auf die moderne europäische Architektur "A Concrete Atlantis: US Industrial Building and European Modern Architecture". (Man will schnell etwas über einen Autor erfahren und steht schaudernd vor gänzlich unergoogelten Kulturlandschaften.)

1971 hat Banham ein Buch über Los Angeles geschrieben "Los Angeles The Architecture Of Four Ecologies", über das man hier mehr erfährt. So ist es wohl zu diesem Film von 1972 gekommen, der ihn als motorisierten Flaneur in L.A. zeigt und der wie ein nachträgliches Making-of zum Buch wirkt. Der Film beginnt damit, daß Banham sich ins Auto setzt und eine "Baede-Kar"-Kassette in den Rekorder schiebt, woraufhin eine Frauenstimme Stadtführertext spricht. Diesem Text widerspricht Banham hin und wieder heftig, ihn fasziniert an L.A. gerade, was in keinem Reiseführer steht (wobei es für Dinge, die "in keinem Reiseführer stehen", inzwischen längst Reiseführer geben dürfte). Banham behauptet, daß er L.A., wo er als Gastprofessor an der University of Southern California unterrichtet, "leidenschaftlich liebt". Eine Stadt, "normally regarded as an unspeakable sprawling mess". Er hat dieses L.A. zunächst aus der Ferne kennengelernt, als er als Junge im Kino seiner englischen Heimatstadt Norwich Buster-Keaton-Filme gesehen hat, in denen noch viel "Streetcar" gefahren wurde (von der er im Film nur noch die unkrautüberwachsenen Schienen findet.) Als erstes führt er uns nach Watts, ein Viertel, das ich noch gar nicht kannte, obwohl ich doch, woher auch immer, über so viel passives L.A.-Wissen verfüge: Compton, Pasadena, der Santa Monica Track Club (Carl Lewis!), Venice Beach, Beverly Hills, Hollywood, Malibu, Mulholland Drive, Pacific Palisades, Echo Park, Bel Air, Bunker Hill, ich war wahrscheinlich in meiner Jugend zu oft im Kino. In Watts gab es in den 60ern heftige Riots, wovon 1972 nicht mehr viel zu sehen is. Banham führt uns zu den Watts Towers, die ein italienischer Einwanderer von 1921 bis 1954 aus Schrott gebaut hat (sie sind bis zu 30 Meter hoch). Eine Form von Architektur, die nicht jeder akademische Architekturhistoriker schätzen dürfte, bei mir rennt Banham offene Türen ein, Basteleien aus Zivilisationsmüll finde ich natürlich großartig. Die Türme, die mit Scherben und Flaschenböden verziert sind, sehen aus wie die Sagrada Familia, allerdings viel schöner, nämlich selbst gebastelt aus Schrott. Weiter geht es auf dem Freeway durch L.A., wo man stundenlang Auto fahren muß, um von A nach B zu kommen, "wich I personally find rewarding", wie Banham sagt. Das klingt natürlich ökologisch unkorrekt, heute, wo das Auto bei allen vernunftbegabten Menschen, deren Horizont über ihr persönliches Interesse hinausreicht, zum Anti-Statussymbol geworden ist. Aber 1972 war noch vor der Ölkrise, und der Film fasziniert auch als Dokument einer prä-ökologischen, "autopischen" Naivität. Banham biegt auf der Intersection von Santa-Monica und San-Diego-Freeway ab, die von Experten als die eleganteste der Welt bezeichnet wird (wohl weil sie den Schmidtstedter Knoten in Erfurt nicht kennen), er besucht das Griffith Parc Observatory (kam mir aus Wim Wenders' "The End of Violence" bekannt vor), er bricht eine Lanze für die volkskunsthafte Architektur der vermeintlich langweiligen amerikanischen Suburbia-Eigenheime. In L.A., wo es gute Verkehrsverbindungen gab und an Raum kein Mangel herrschte, konnten die Menschen ihre Obsession für individuelles Wohnen ausleben, dabei ist ein Typ Haus in einem pseudospanischen Pseudo-Kolonialstil entstanden, mit Holzsäulen und wuchtigen Dachziegeln, der von den Phantasien der Bewohner erzählt. Ganz anders reizvoll ist das Eames-Haus aus Stahlträgern und Glas, das 1949 in Pacific Palisades gebaut wurde, und das wir danach sehen. Was, wenn diese Architektur sich in L.A. durchgesetzt hätte? Von hier geht es nach Palos Verdes Hills, in eine exklusive Wohngegend, wo Banham mit dem Auto einen Posten nicht passieren darf. "Private cities" gab es damals schon, er nennt diese Viertel eine Imitation von Paradies und Freiheit hinter Wachposten, und er kann sie überhaupt nicht leiden "it's like the balkans before 1914". Das Gegenteil einer Gated Community ist (damals noch) Venice Beach, ein Ort für "dropouts", aber auch für Body Builder, die dort in einer öffentlichen Anlage, wie einer von ihnen berichtet, sechs Tage die Woche 90 Minuten Muskelgruppe für Muskelgruppe trainieren und nebenbei Freunde finden, die sich wie sie für Fitness und gesunde Ernährung interessieren. Die Übungen am Reck, die sie vorführen, sind teilweise noch ziemlich kunstturnerisch inspiriert, inzwischen sieht auch das anders aus. Baede-Kar behauptet, Venice würde wegen der "dropouts" und "problem people" einen "clean up" brauchen, um wieder attraktiv zu sein. Banham kommentiert das bitter: "No, thank You! Another executive ghetto, plastic people in plastic boats". Mit anderen Worten: Gentrifizierung im Jahr 1972 (wahrscheinlich gab es die auch schon im alten Rom.) Der Ocean Parc Pier, dessen Wiederherstellung Baede-Kar begeistert ankündigt, sei keineswegs verrottet gewesen, sondern "deliberately bancrupted to make a real estate bonanza".´Das klingt einem doch sehr vertraut. Banham besucht in Venice Vasa Mihich, einen Künstler, der aus Jugoslawien emigriert ist und sich in L.A. so künstlerisch frei und so frei von Ängsten fühlt wie nie in Leben. Banham bewundert die Surfer-Kultur, die eine Surfbrett-Manufaktur-Kultur hervorgebracht hat, mit Lackierkünstlern, so, wie es eine Auto-Lackier-Kultur gibt. Er hat viel übrig für diese Ausdrucksformen, die sich außerhalb des künstlerischen Universums bewegen aber eigentlich Kunst sind. Plötzlich sehen wir ihn mitten in einer Vorlesung an der Universität, wo er ausführt "a truly great city offers a man a mechanism for imposing his own style and his own vision on the rest of the world" (ängstlich fragt man sich, ob Berlin noch so eine "truly great city" ist? Bzw. ob man überhaupt eine eigene "vision" hat, die man dem "rest of the world" gerne imposen würde?)

Was soll der Tourist in einer Stadt, die kaum öffentliche Gebäude hat, besichtigen? Die Antwort erinnert an Robert Venturis Las-Vegas-Studie, und Banham bekommt sie in Tiny Naylor's Drive-in auf dem Sunset Boulevard, einem Gebäude im Space-Age-Design, das es längst nicht mehr gibt. Edward Ruscha, ein Künstler, der ein Buch "Twentysix Gasoline Stations" herausgebracht hat, erklärt ihm, daß man in L.A. natürlich Tankstellen besichtigen sollte, oder überhaupt jedes Gebäude, das mit Autos zu tun hat. Tankstellen sind eine klassisch-ephemere Bauform, in drei Tagen errichtet, typisiert, man kann dasselbe Gebäude an 900 Orten besichtigen, es wird aber vielleicht schon abgerissen sein, wenn man wiederkommt. (Auch in Venturis Buch gab es Fotoserien von Tankstellen und Casino-Parkplätzen). Wir sehen andere ephemere Gebäude, wie einen Hotdog-Stand in Hotdog-Form (ein großes Thema). Die Krönung ephemerer Baukunst ist der Sunset Strip, der nachts aussieht wie eine Freiluftgalerie von beleuchteten Werbetafeln. "Sodom and Gomorra cried the preachers of ecological doom", wie Banham sagt. Und er begeistert sich Ernst-Jünger-like für den Sonnenuntergang am Sunset Strip, der seine atemberaubenden Farben der Luftverschmutzung verdanke, und den man vom Auto aus sehen kann, hier, wo Amerika zuende ist, weil nur noch der Pazifik kommt und man nicht mehr weiter nach Westen aufbrechen kann, es sei denn, man reist ins Imaginäre und dreht Science-Fiction-Filme.

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Kommentare 2
  1. Ralph Diermann
    Ralph Diermann · vor mehr als 6 Jahre

    Was für ein Empfehlungs-Text - wow, danke! Der ist selbst einen Piq wert (ein Meta-Piq sozusagen).

    1. Jochen Schmidt
      Jochen Schmidt · vor mehr als 6 Jahre

      Vielen Dank für die netten Worte. Es freut mich, wenn der Text Ihnen gefallen hat!

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