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Literatur

Präsidentschaftswahlen und Literatur – Das tapfere Schneiderlein

Präsidentschaftswahlen und Literatur – Das tapfere Schneiderlein

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtSonntag, 07.05.2017

Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass Märchen auch erzählt werden, um die Ängste der Menschen zu bannen.

Heute wird in Frankreich ein neuer Präsident oder eine Präsidentin gewählt. Die Präsidentin, sollte sie gewählt werden, wäre ein Desaster, ordnete sich ein in den Reigen kryptofaschistischer Staatsführer von Erdogan bis Trump, die der Welt in den letzten Jahren beschert wurden. Um nicht in eine kaninchenhafte Starre zu verfallen, werde ich lesen. Und zwar werde ich im Buch eines französischen Autors lesen, das 2015 im Diaphanes Verlag erschienen ist, und das „Das tapfere Schneiderlein“ heißt. Es wird mich ablenken, wird mich sozusagen in andere Sphären als die der Politik geleiten, und gleichzeitig wird das Lesen ein politischer Akt sein. Zumindest ein trotziger Akt. Ich werde mir von der Politik nicht den Tag versauen lassen, komme was wolle, ich werde am Ende des Tages ein gutes Gefühl haben, denn ich habe das Buch schon einmal gelesen, und hatte ein Gefühl.

Der Autor des Buches ist Éric Chevillard und übersetzt hat es Anne Weber. Es sind also gleich zwei Punkte, an denen Sprachen und Literaturen aneinander andocken. Der Text geht tatsächlich auf das Grimmsche Märchen zurück und erfährt in diesem Buch eine französische Ausformung. Zumindest eine Chevillardsche, denn die wenigen Seiten des Originals, das ja im Grunde auch schon eine Nacherzählung ist, erfahren in dieser Version eine ungeheure Ausdehnung. Und da das Märchen keinen Autor kennt, stellt Chevillard einen zur Verfügung. Einen Franzosen wahrscheinlich, einen, der aller Voraussicht nach in Paris ansässig ist. Die Handlung wird verlagert, aus der romantischen Märchenlandschaft hinaus ins Erzählen selbst hinein.

Dennoch erzählt das Buch das Märchen vom tapferen Schneiderlein, jener sagenumwobenen Gestalt, die sieben Fliegen auf einen Streich erledigte, ein Wildschwein einsperrte und zwei Riesen verjagte.

Aber die Erzählung dieses Buches ist durchbrochen, von Abweichungen beherrscht, probiert Alternativen aus. Zum Beispiel wird gefragt, was wäre, wenn es sich bei den Riesen um Analphabeten gehandelt hätte, die den vollmundigen Spruch, den sich das Schneiderlein auf den Gürtel gestickt hatte, nichte hätte lesen können. Rein dramaturgisch wäre nämlich dann die Geschichte viel früher am Ende gewesen, und die Riesen hätten den Helden, ohne in Ehrfurcht zu erstarren, an einem früheren Punkt der Handlung einfach erschlagen.

Das sind so Gedankenspiele einer eher noch harmlosen Natur. Sie bewegen sich letztlich im Rahmen des Grimmschen Stoffes auf einer erzähltechnisch eher abstrakten Ebene. Hätte es Chevillard dabei belassen, das Volumen des Märchens hätte sich eventuell verdoppelt, und es wäre zwar ein kurioses Lesen gewesen, kurzweilig vielleicht, aber noch nicht soweit, dass das Buch zu einem meiner Lieblingsbücher geworden wäre. Und sicher hätte ich es dann nicht heute, da uns eine Marie Le Pen als französische Präsidentin droht, aus dem Regal genommen. (Sie wird es nicht werden, dessen bin ich mir sicher, oder ich möchte mir sicher sein, aber ich kenne auch diesen Spruch, der besagt, dass man schon Pferde vor der Apotheke kotzen gesehen habe. Ich selbst habe zwar noch nie ein Pferd kotzen gesehen, nicht vor einer Apotheke und auch sonst nirgends, aber ich kann mir schon vorstellen, was dieser Spruch meint.)

Bei Chevillard beginnt auf Seite 111, also ungefähr in der Mitte des Buches, das IV. Kapitel, und es beginnt folgendermaßen:

„Nun wäre es aber ungeschickt, zum Kern des Themas vorzudringen, kaum dass es eröffnet ist, und unverzüglich den angekündigten Kampf zwischen den beiden Riesen zu erzählen. Lassen wir unseren Leser noch ein wenig am Waldrand stehen und von einem Fuß auf den anderen treten vor Ungeduld."

Als wollte er die Angst des Lesers, also in diesem Falle meine Angst, erzählt Chevillard an dieser Stelle eine Geschichte der Angst, die in einer Pariser U-Bahn spielt. Der letzten an diesem Abend, und in der der Erzähler eine junge Frau vor den Übergriffen dreier Halbstarker rettet. Oder rettet der Zufall, wird der Held also nur zufällig zum Helden, weil seine Haltestelle gekommen ist, und er ohnehin ausgestiegen wäre?

„Das nur um anzumerken, dass das tapfere Schneiderlein nicht der einzige schmächtige Held ist, den ich kenne."

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