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Literatur

Panoptikum des Grauens

Panoptikum des Grauens

Jan Brandt
Schriftsteller

Geboren 1974 in Leer (Ostfriesland), veröffentlichte 2011 den Roman "Gegen die Welt" und 2015 den Reisebericht "Tod in Turin". 2016 erscheint "Stadt ohne Engel – Wahre Geschichten aus Los Angeles".

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Jan BrandtMontag, 30.05.2016

Am 29. April 1992 wurden die Polizisten, die im Jahr zuvor den afroamerikanischen Verkehrssünder Rodney King nach einer wilden Verfolgungsjagd gestellt und verprügelt hatten, freigesprochen – und dass obwohl die Tat gefilmt worden und die Szene der brutalen Festnahme im Fernsehen zu sehen gewesen war. Bei den Polizisten handelte es sich um drei Weiße und einen Latino. In der Jury saß kein einziger Schwarzer. Kaum war die Meldung in der Welt, brach im Süden von Los Angeles die Hölle los. Geschäfte wurden geplündert, Autos und Häuser in Brand gesteckt, 55 Menschen kamen bei den gewaltsamen Ausschreitungen ums Leben, 2383 wurden verletzt, 10.904 wurden verhaftet, es entstanden Sachschäden in Höhe von mehr als einer Milliarden Dollar. Sechs Tage lang herrschte Anarchie, ehe es der Polizei, unterstützt von Nationalgarde, Armee und Marines, gelang, die Lage unter Kontrolle zu bringen.

Dieses Ereignis nimmt Ryan Gattis zum Anlass, um einen großen L.A.-Roman in der Tradition der klassischen Moderne zu schreiben: In den Straßen die Wut erzählt von Gangmitgliedern in South Central, die die Gunst der Stunden nutzen und alte Rechnungen begleichen, von einer Krankenschwester, die Opfer versorgt, mit denen sie selbst zur Schule gegangen ist, von einem Feuerwehrmann, der von Brand zu Brand fährt und jedes Mal von Anwohnern attackiert wird, von einem Sondereinsatzkommando, das jenseits der Legalität agiert, von einem Obdachlosen, einem Street Artist und Dutzenden weiteren Personen. Jede Figur erhält eine eigene Stimme, jede schildert die Riots aus ihrer Sicht. Gattis entfaltet in seinem ersten auf Deutsch erhältlichen Roman ein Panoptikum des Grauens. Und weil das alles aus der Ich-Perspektive erzählt ist, ist man ganz nah dran an den Geschehnissen.

Die Handlung beginnt mit dem Vergeltungsmord an einem Unschuldigen: Nachdem Lil Mosco die Freundin eines verfeindeten Gangsters vor einem Club umgelegt hat, wird Ernesto, Lil Moscos Bruder, der nichts mit der Sache zu tun hat, verprügelt, an ein Auto gekettet und erstochen. Das setzt einen Gewaltreigen in Gang, der sich über mehrere Tage und Nächte erstreckt: „Wir meinten, das wäre jetzt die Gelegenheit, ein paar Rechnungen zu begleichen, alte Schulden einzutreiben, Leute fertigzumachen.“ 

Es hat fast etwas von einem Novellenkranz, wie Gattis hier kunstvoll und doch scheinbar beiläufig Figuren immer wieder auftauchen und verschwinden lässt, wie die Geschichten des einen sich im anderen fortsetzen, wie Motive aufgenommen und fallengelassen werden. Gattis hat jahrelang für diesen Roman recherchiert, mit den Opfern und Tätern von damals gesprochen, den Überlebenden, und sich von Gangstern und Polizisten erklären lassen, wie Schießereien ablaufen, wie man Spuren verfolgt und verwischt.

Von der Poetik her erinnert In den Straßen die Wut, das im Original All Involved heißt, stark an John Dos Passos’ Manhattan Transfer: die Unmittelbarkeit des Geschilderten, die fragmentierte Großstadterfahrung, das Zitieren von Zeitungsartikeln und Radiomeldungen, der ganze große urbane Sound. All Involved deutet aber im Gegensatz zum deutschen Titel gleich auf die Vernetzung und Verstrickung der Figuren hin, die so stark und subtil miteinander verbunden sind, dass sie nicht mehr voneinander loskommen. Eins bedingt das andere. Dos Passos’ Erzählweise ist sehr filmisch, da ist es nicht verwunderlich, dass sich Hollywood längst dieser Methode des Episodischen angenommen und von New York auf Los Angeles übertragen hat: Der Film L.A. Crash von Paul Haggis ist ganz ähnlich konstruiert wie Manhattan Transfer und verarbeitet ähnliche Themen wie In den Straßen die Wut, Polizeigewalt, Rassismus, Bandenkriminalität. Verwunderlich ist lediglich, dass ein Ereignis wie die Unruhen von 1992, dieses bürgerkriegsähnliche Kollektiverlebnis, nicht viel früher auf diese Art erzählt worden ist.

Schon nach den ersten Seiten bin ich sofort im Süden von Los Angeles, und ich merke, was diese Innenperspektive mit mir macht: Sie hebt die Distanz auf. Sie erzeugt das, was Literatur im besten Fall leisten kann: Nähe, Verständnis, Mitgefühl. Ich kannte die Fernsehbilder und die Stadtviertel aus eigener Anschauung, aber erst nach der Lektüre von In den Straßen die Wut habe ich eine Ahnung davon bekommen, was damals in den Leuten vor Ort vorgegangen sein mag: „Über uns fliegt ein Hubschrauber“, heißt es an einer Stelle, „und hat einen Scheinwerfer auf uns gerichtet, als würden wir auf dem Grund eines tiefen schwarzen Lochs hocken. Die Leute, die hier leben, wissen ganz genau, wie sich das anfühlt. Die wissen, wie hässlich das Leben sein kann. Alle anderen, die Leute, die zu Hause sitzen und sich das alles im Fernsehen angucken, die haben keine Ahnung. Die sind richtig geschockt von den Unruhen. Sie verstehen das alles nicht, weil sie die andere Seite nicht verstehen. Sie begreifen nicht, was mit Leuten passiert, die kein Geld haben und in einer Gegend leben, wo die Kriminalität eine zuverlässige berufliche Perspektive bietet, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt.“

In den Straßen die Wut ist ein kraftvoll erzählter, absolut zeitgemäßer Splatterroman, der zeigt, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist und wie leicht eine ganze Gesellschaft in einen Blutrausch geraten kann, wenn die sozialen Bedingungen dafür unter der Oberfläche seit Langem existieren. Dann reicht ein Funke – und alles explodiert.

Ryan Gattis, In den Straßen die Wut, Aus dem Englischen von Ingo Herzke, Rowohlt, Hamburg 2016, 520 Seiten, 16,99 Euro. 

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