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Literatur

Mein kleiner Buchladen „Tunnelromane“ - Der Tunnel

Mein kleiner Buchladen „Tunnelromane“ - Der Tunnel

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnFreitag, 31.03.2017

„Lloyds Gesicht war der tragigkomischen Larve einer Bulldogge ähnlich und verbreitete gleichzeitig den Schrecken eines lebendigen Totenkopfes. Er erinnerte Allan an Indianermumien, auf die sie bei einem Bahnbau in Bolivia gestoßen waren. Diese Mumien hockten in viereckigen Kisten. Ihre Körper waren eingetrocknet, die Gebisse erhalten, hinter den verschrumpften Lippen grinsend, die Augen mit Hilfe von weißen und dunklen Steinen grauenhaft natürlich nachgeahmt.“

Bernhard Kellermanns Roman „Der Tunnel“ erschien im April 1913 im Berliner S. Fischer Verlag. Innerhalb eines Monats waren die 10 000 Exemplare der ersten Auflage verkauft und nach einem halben Jahr betrug die Auflage bereits 100 000. „Der Tunnel“ wurde dreimal verfilmt, in 24 Sprachen übersetzt und erreichte bis 1939 eine Gesamtauflage in Millionenhöhe. Heute ist der erste deutsche Bestsellerautor des 20. Jahrhunderts ein weitgehend Unbekannter. Meine Ausgabe (1.-25. Tausend der ungekürzten Sonderausgabe von 1931) stand einige Jahre neben den Kollegen Gottfried und Paul Keller in meinem Buchladen, bevor ich ihn für die Reihe „Tunnelromane“ las.

Auf 402 Seiten erzählt der Autor eine 26-jährige Tunnelbaugeschichte zwischen Amerika und Europa. Unter dem Ozean entlang. Der Ingenieur Allan, genannt Mac, gewinnt das Großkapital für sein Projekt und gräbt in einer extremen Materialschlacht mit bis zu 180 000 Arbeitern einen 5000 km langen Eisenbahntunnel tief unter den Meeresboden. Einige Katastrophen geschehen, tausende Tunnelarbeiter bezahlen den Bau bei höllischen Temperaturen mit ihrem Leben. Als der erste Zug endlich nach Europa einrollt, sind Luftschiffe nur noch einige Stunden langsamer, die technischen Anlagen des Tunnels längst überholt.

„Der Tunnel“ rezipiert die technikbegeisterte Einstellung seiner Epoche. Die Zeit schien reif, Technologien bis ins Unendliche auszureizen. Die technische Vernunft vereinnahmte die wirtschaftliche, kühne Ingenieure diskutierten Meerestunnel (z.B. unter der Meerenge von Gibraltar oder die Untertunnelung der Behringstraße). Kurd Laßwitz hatte bereits 1878 die Idee zu einem »großen deutsch-californischen Tunnel« entfaltet, der durch das Erdinnere führen sollte.

Kellermanns Idee erschien dem Leser von 1913 also durchaus praktikabel. „Man sah das Buch an allen Wagen der Untergrund-, Stadt- und Straßenbahn. Selbst ein so vielbeschäftigter, in technischen Dingen erfahrener und anspruchsvoller Mann wie Walther Rathenau erzählte uns, daß er das Buch in einem Zuge ausgelesen habe.“ (Zitat: Oskar Loerke)

Die Sprache Kellermanns ist drastisch und polarisierend, in detailreichen Bildern beschreibt er seine Protagonisten - wie eingangs den an einer hautfressenden Flechte leidenden Milliardär Lloyd, den Mac Allen für sein Projekt gewinnen muss. Mich nervte von Beginn an das seichte (oder latent bösartige) Frauenbild Kellermanns. Maud, die zarte, kleine, süße, musikliebende und sich vernachlässigt fühlende Ehefrau Allens allen voran. Natürlich ist meistens von Männern die Rede, nackten Tunnelarbeitern, schweigsamen baltischen Ingenieuren, besessenen Planern, gierigen Börsenspekulanten und dem spielsüchtigen wie lebensfrohen Gigolo Hobby – bester Freund Allens und Architekt von Mac-City, der Tunnelstadt bei New York. Wenn Frauen überhaupt auftauchen, sind sie hässliche reiche Weiber, denen die Gier aus den Augen springt, oder wunderschön (Lloyds Tochter), aber selbstsüchtig und mindestens von einer fortschreitenden Flechte befallen, die sich nicht mehr „überschminken lässt“. Als in der Tunnelbaustelle tief unter dem Meer ein Feuer ausbricht und über Tage das verheerende Ausmaß bekannt wird, rächen sich die Ehefrauen der verunglückten Arbeiter, indem sie als entfesselter Mob durch Mac-City ziehen und Mac Allens Frau Maud nebst Tochter Edith zu Tode steinigen.

Ebenso schwer zu ertragen war für mich die antisemitische Darstellung von Allans Gegenspieler S. Woolf, dem ungarischen „Ostjuden“, der zum Finanzmagnaten aufsteigt und durchweg als gieriger, heimtückischer und wehleidiger Charakter beschrieben wird. Obendrein schreibt Kellermann ihm pädophile und erotomanische Züge zu und bedient damit die seinerzeit geläufigen Negativklischees.

Bernhard Kellermann, der in seinem „Tunnel“ den ersten Weltkrieg ausfallen lassen hatte, überstand die Nazizeit in innerer Emigration. Sein 1920 veröffentlichter Roman „Der 9. November“ hatte sich kritisch mit dem Verhalten von Soldaten und Offizieren gegenüber der Bevölkerung während der Novemberrevolution auseinandergesetzt und wurde von den Nazis verboten und verbrannt. Kellermann schrieb Trivialromane, gründete nach 1945 mit Johannes R. Becher den Kulturbund, war Abgeordneter der Volkskammer der DDR und erhielt 1949 für seinen Nachkriegsroman „Totentanz“ den Nationalpreis der DDR.

In Westdeutschland wurde er spätestens zu diesem Zeitpunkt aus den Regalen der Buchläden entfernt.

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