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Mein kleiner Buchladen: „Sachbücher“ – Drachen, Doppelgänger und Dämonen

Mein kleiner Buchladen: „Sachbücher“ – Drachen, Doppelgänger und Dämonen

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnMittwoch, 08.08.2018
Das Haus war leer und feucht, von einem Stockwerk zum nächsten kletterte ich durch enge, glitschige Gänge, zog mich hinauf bis zum löchrigen Dach. Überall wuchsen Pflanzen. Jemand sagte mir, dass es meins sei. Aber was sollte ich mit einem kaputten Haus im Prenzlauer Berg? Ich zog Tapete von einer Wand, dahinter bröselte die Mauer, schwarzbrauner Putz rieselte auf meine Schuhe. Ich verließ das Haus, das ich nicht haben wollte und setzte mich an eine Straßenkreuzung, auf die Stufen des Eckladens. Ein Mann kam vorbei und hielt den Hals eines Straußes vor sich, der Kopf des Vogels drehte sich zu mir. Ich spähte nach dem fehlenden Körper des Tieres, als der Mann seine Hände ausbreitete und ein Dutzend Küken aus ihnen fielen, auf den Bürgersteig plumpsten und piepsend herumrannten. Ich wollte sie einfangen und rutschte auf meine Knie, nahm ein, zwei Küken in die Hand…


Als ich neulich aus diesem Traum erwachte, musste ich an eine ähnliche Beschreibung in einem Buch von Oliver Sacks denken, ein Hund hatte sich dort in einen Schwarm Schmetterlinge aufgelöst. In seinem gut 300 seitigen Buch über Halluzinationen ging der 2015 verstorbene Neurologe auf nicht-psychotische Erscheinungen ein, die uns erfreuen oder plagen. Sacks Lieblingsdefinition lieferte William James 1890 in seinem Werk Principles of Psychologie:

"Eine Halluzination ist eine rein sensorische Bewusstseinsform, eine ebenso wahrhaftige Sinneswahrnehmung, wie sie in Gegenwart eines realen Objektes stattfindet. Nur dass das Objekt zufällig nicht da ist."

Halluzinationen können bei nachlassender Sehkraft, Reizentzug oder fehlendem Geruchssinn auftreten, durch Drogen, Traumata oder Krankheiten hervorgerufen werden und nehmen seit jeher einen wichtigen Platz in unserem Seelenleben und in unserer Kultur ein. Sacks fragt eingangs, ob die geometrischen Muster, die man bei Migräne und anderen Störungen sieht, Urbilder der Motive in der Kunst der Aborigines seien? Ob die schrecklichen Halluzinationen der Alpträume an der Entstehung unserer Vorstellungen von Dämonen, Hexen oder Außerirdischen beteiligt sind? Ich blättere durch das vor einigen Jahren bereits verschlungene Buch und bin wieder in den Alpträumen meiner Kindheit - im 7. Stockwerk eines Magdeburger Neubaus aufgewachsen, war ein wiederkehrendes Motiv eine fliegende Hexe, die in mein Zimmer schaut und versucht, hereinzufliegen.

Während diverser Kinderkrankheiten erlebte ich im Fieber Proportionsverschiebungen, die mich schrumpfen oder auf Riesengröße anwachsen ließen. Oliver Sacks beschreibt an Fallbeispielen seiner Patienten, dass Menschen mit fehlender Sehkraft zunächst meist Muster erblicken, rosa oder blaue Vierecke, die den Boden bedecken, sich über Wände und Decke ausbreiten - so Rosalie, eine vollkommen erblindete greise Dame mit komplexen Halluzinationen.

"Passend dazu erblickte sie jetzt kleine Menschen, nur ein paar Zentimeter groß, wie Elfen oder Trolle, mit kleinen grünen Mützen, die an den Seiten ihres Rollstuhls emporkletterten."

Eine Patientin ohne Sehstörungen, Zelda, begann beim Betrachten einer Fernsehsendung, in der Menschen ein Flugzeug verließen, winzige Figuren zu halluzinieren, die ihren Abstieg aus dem Flugzeug fortsetzten, indem sie am Schirm und am Fernsehschrank hinabkletterten.

Oliver Sacks absolvierte seine Facharztausbildung in Kalifornien und arbeitete bis knapp vor seinem Tod in New Yorker Kliniken als Neurologe. Berühmt wurde er durch seine Migräne-Forschungen, die er 1966 im Beth Abraham Hospital in der Bronx durchführte. Er stieß auf einige Überlebende der Europäischen Schlafkrankheit, die seit etwa 40 Jahren wie „eingefroren“ waren und weckte sie mit L-Dopa, einer Vorstufe des Neurotransmitters Dopamin kurzfristig auf. Die Patienten zeigten vorübergehend eine überbordende Lebensfreude, bis sie schließlich in ihre Starre zurückfielen. Zunächst verarbeitete Harold Pinter einige der Fallgeschichten in seinem Theaterstück A Kind of Alaska, bevor sie 1990 unter dem Titel Zeit des Erwachens (Awakenings) mit Robin Williams und Robert De Niro in den Hauptrollen verfilmt wurden. Das war der Durchbruch für den Autor Oliver Sacks, der mit Bestsellern wie „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ Millionen von Lesern in aller Welt gewann.

Mich begleiten Sacks Bücher seit den Neunzigern, sein Stil und seine Empathie für die Schicksale hinter den unzähligen Fallgeschichten begeistern mich. In der vorliegenden Sammlung von Halluzinationen beruhigte mich vor allem die Erklärung für etliche Phänomene, die ich mitunter als paranormal/spiritistisch hingenommen hatte, wie das Erscheinen von Verstorbenen und das Hören von Stimmen. Ziemlich gruselig hingegen finde ich die Variationen an Erscheinungen, die unser Gehirn bei Veränderung einzelner Areale schöpfen kann, so berichtete eine langjährige Migräne-Patientin Oliver Sacks, sie sei eines Tages mit Kopfschmerzen und visuellen Symptomen aufgewacht:

"Rechts im oberen Teil des visuellen Felds sah sie eine sich schlängelnde Form, schwarz und gelb wie eine Monarch-Raupe, mit glänzenden Wimpern“, dazu „strahlend gelbe Lichter, die wie bei einer Broadway-Show ununterbrochen auf und nieder tanzten und an und aus gingen.“… Am Mittwoch „schien es in der Badewanne von Ameisen zu wimmeln, Wände und Decken waren mit Spinnweben bedeckt… Die Menschen schienen Gitter vor den Gesichtern zu haben.“

Einige Tage später erschienen ihr die Beine ihres Mannes enorm verkürzt und entstellt, auf dem Markt fehlten den Leuten Teile der Gesichter und die Augen … ein daraufhin erfolgter CT-Scan ergab eine starke Blutung im linken Okzipitallappen, welche nach einigen Wochen abklang, die Halluzinationen blieben. In Sacks Buch kann die Lektüre beliebig fortgesetzt werden, und wenn mir die Schlaganfall- oder Deliriums-Erscheinungen zu heftig sind, blättere ich zu den Migräne-Fallgeschichten und erhole mich bei Sätzen wie diesen:

… „Ich liebte die beiden antiken chinesischen Schränke in unserem Salon, weil ihre lackierten Flächen mit erhabenen Verzierungen in wundervoller Verschränkung und unterschiedlicher Größe versehen waren – Muster, die in andere Muster eingebettet waren, und das alles umgeben von einem dichten Ranken- und Laubwerk. Diese geometrischen und verschlungenen Motive erschienen mir irgendwie vertraut, obwohl ich erst später erkannte, dass ich sie schon in meinem Kopf gesehen hatte, dass diese Strukturen den komplizierten Parkett- und Wirbelmustern entsprachen, die ich während meiner Migräne-Anfälle erlebte.“

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