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Literatur

Mein kleiner Buchladen - Psychiatrie in der Literatur: „Flucht in die Wolken“

Mein kleiner Buchladen - Psychiatrie in der Literatur: „Flucht in die Wolken“

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDienstag, 07.05.2019

Krankenhaus, 22. November 1970

Meine Haare wachsen und wachsen, ich sehe schon ganz anders aus. Manchmal denke ich an den Mond...

Marlen sagt, ich bin ein Gefühlsmensch. Stimmt. Einerseits Nerven wie ein Pferd und dann, wenn ich jemand anfiebere -bums, bin ich eine Memme. Ich bin jetzt traurig. Es gehört viel Selbstdisziplin dazu, hier fröhlich zu sein...

Als ich das Buch aus einer Bücherkiste ziehe, jauchze ich. Sofort ist das Gefühl wieder da, ich bin fünfzehn, kann mich nicht leiden und keiner mich. Meine Mutter arbeitet in der Neurologie/Psychiatrie des Magdeburger Universitäts-Klinikums. Sie macht sich Sorgen. Ich lese grad die russischen Klassiker aus dem Reclam-Bücherregal meines Vaters und bin kaum ansprechbar. Die Schule nervt, ich darf kein Abi machen und dümpele das letzte Jahr an der POS herum, immer ein Buch auf den Knien und eine provozierende Frage auf den Lippen. Lehrer und Schüler meiden mich. Eine Kollegin empfiehlt meiner Mutter, mir "Flucht in die Wolken" von Sibylle Muthesius zu geben, welches just erschienen ist und republikweit diskutiert wird.

Meine Rettung, 546 Seiten über das Mädchen Pony, die mir helfen. Die Autorin, eigentlich Sibylle Boden-Gerstner, war Gründerin der nach ihr benannten DDR-Mode-Zeitschrift "Sibylle" und führte ein Leben, spannender als ein Krimi. Von den Nazis als "Jüdischer Mischling" aus der Berliner Textil- und Modeschule geworfen, studiert sie in Paris an der École des Beaux-Arts Malerei und lebt von 1940 bis 1944 illegal an der Seite ihres Ehemannes Karl-Heinz Gerstner, welcher die Résistance unterstützt. Noch während des Krieges kehren beide nach Berlin zurück, Gerstner wird im Speziallager Nr. 3 Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert und erst nach Beibringung eidesstattlicher Erklärungen von Angehörigen der Résistance im Januar 1946 entlassen. Ob er tatsächlich per Kassiber den Kontakt zu seiner Frau herstellte, welche die Papiere beschaffte und "unter dem Beschuss eines Wachpostens in das sowjetische Sperrgebiet in Hohenschönhausen" eindrang, um Gerstner auszulösen, sei dahingestellt. Sibylle Boden-Gerstner gelingt es, ein extravagantes und anspruchsvolles Modemagazin zu gründen und über ein Jahrzehnt zu prägen, während Karl-Heinz Gerstner als Wirtschaftsjournalist und ab 1973 als „Chefreporter“ der Berliner Zeitung Karriere macht. Sonja Gerstner, die Pony des Buches, war die jüngere Tochter des prominenten Paares und Schwester der späteren Publizistin Daniela Dahn.

Als ich Ponys Tagebucheinträge und Briefe lese, ergänzt von Zitaten, den Reflektionen ihrer Mutter und den farbig wiedergegeben Bildern Ponys, interessiert mich der Hintergrund wenig. Pony wird sechzehnjährig, nach einem Stupor akut suizidgefährdet, von den Eltern in die Psychiatrie gebracht. Zu damaliger Zeit ein gesamtdeutsches Elend, wie der Spiegel 1982 zur westdeutschen Ausgabe des Buches schreibt. Bei drei Psychiatrieaufenthalten wird das Mädchen mit sieben Diagnosen und Therapien konfrontiert. Dazu gehörten die grausame "Elektrokrampftherapie", eine Insulin-Therapie, Isolation im Bunker und mangelnde Beschäftigung. Pony schreibt und malt. Ihre Bilder erinnern an Chagall, traumhafte Szenen in Pastelltönen, aber auch alptraumhafte Bildnotizen ihrer Situation, gefangen im Bunker, zerfließende Körper und Möbel - und knallbunte Collagen, frisch und klar. Die Texte Ponys sind schonungslos, mädchenhaft, manchmal weise, mitunter todtraurig.

"Wenn man tot ist, lieben einen die Menschen mehr. Das Sterben ist mein Gewinn." Eine Zeile später schreibt die Mutter: "Ich bin erschüttert und grübele, wie Pony zu dieser Todesehnsucht kommt. Mir fällt dazu eine schwarze griechische Marmorstatue ein, die ich in Goethes Wohnhaus sah..."

Mich begeisterte das Absolute, das Wilde in Ponys Gedanken und Bildern - und mich berührte das Verständnis der Mutter, ihr Kampf um Pony. Das Buch endet mit dem Freitod der Neunzehnjährigen im März 1971. Zehn Jahre sollten zwischen diesem "Bilanz-Selbstmord", wie ihn einer der behandelnden Ärzte im Nachwort bezeichnet, und der Veröffentlichung von "Flucht in die Wolken" vergehen. Mit Hilfe ihrer Kontakte zu Regierungskreisen und unter Beibringung von fachlichen Gutachten mehrerer Psychiater erwirkten die Gerstners das Erscheinen des psychiatriekritischen Manuskriptes. Namen und Orte wurden anonymisiert, die Verfasserin wählte ein Pseudonym. Seit der ersten Auflage im Berliner Buchverlag Der Morgen 1981 erlebte ihr Buch bis 1989 weitere sechs Auflagen mit mehr als 120.000 Exemplaren.

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Kommentare 1
  1. Pamela Gräbe
    Pamela Gräbe · vor fast 5 Jahre

    Auch ich habe dieses Buch mit vierzehn oder fünfzehn gelesen. Es war anders als alles andere, was ich zuvor gelesen hatte, diese Offenheit, diese Kreativität sowohl Ponys als auch in der Konzeption dieses Buches hat mich umgehauen. Es hat mir aufgezeigt, wie fragil unser Leben ist und wie stark die Liebe, auch wenn sie den Tod nicht verhindern konnte.
    Vor ein paar Wochen hatte ich es aus meinem Bücherregal gezogen und darin gelesen. Es ist immer noch ein starkes Buch!

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