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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Objektsexualität“ – Eine Liebe in der Steppe

Mein kleiner Buchladen: „Objektsexualität“ – Eine Liebe in der Steppe

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnSamstag, 03.02.2018

"Einen Moment lang fühlte er sich geborgen in dieser amniotischen Welt, seinem nährenden Privatmeer, das eine feste Schale umgab. Er atmete in dieser Schale, die stabil und zerbrechlich zugleich war, fühlte sich gewärmt und zugleich belüftet, geschützt und getrocknet vor Austrocknung und Bakterienbefall. Seine Seele rollte sich zusammen in diesem Ei…“

Gregor ist in eine Kapelle verliebt. Sie steht am Rand des Neubaugebietes einer ostdeutschen Stadt, ein plumpes Ding mit Spitzdach, Maschendrahtzaun und gemauerten Stufen. Weiß gekalkt, angeklebtes Messingkreuz auf der Stirnseite, Portikus mit flachem Giebel und den drei Worten: St. Maria Magdalena. Gregor Stenitz arbeitet im Stadtmuseum von Zinnroda als Kustos für die Fossiliensammlung und streift in seiner freien Zeit durch die Steppe - die Zone, wie seine Freundin Judith und der gemeinsame Freund le Bertram die Rückbaustelle nennen. Sie beobachten die Abrisswellen und versuchen sie zu boykottieren. Bis Gregor auf Madeleine (wie er sie zärtlich nennt) stößt - und jene fortan allein besucht. "Die Kapelle stand am Horizont, als hätte sie auf ihn gewartet."

Jörg Uwe Albigs Novelle über diese Liebe fand kürzlich den Weg in mein Lädchen und entzündete, ja erregte mich sofort. Objektsexualität ist noch kein wissenschaftlich etablierter Begriff, mir seit der Biennale von 2008 durch den Film Berlinmuren bekannt. Die Sehnsucht nach Objekten ist der Beginn dieser Obsession. (Ich erlebte vor zwei Jahren eine dem Paläontologen Albigs annähernd ähnliche Situation, als ich für einige Tage zum ersten Mal nach Island gereist war - und mich in die Stadt Reykjavik verliebte)

"Er roch denn Duft, den die Wand verströmte; es war ein sauberer, mineralischer Geruch. […] Draußen kreiste die Steppe ihn ein, eine endlose Landmasse, zusammengewachsene Urkontinente, die keine Grenzen mehr kannten. Irgendwo jagten Stürme über Bergkämme, Flüsse zernagten das Gestein, Stille lastete, das Schweigen vor der Erfindung der Vögel.“

Albig entführt uns vom ersten Moment an in den absurden Kosmos einer Objektbesessenheit; es geht nicht um Plattenbauten, neue Bundesländer oder Arbeitslosigkeit -  auch wenn all dies auftaucht in seiner Novelle. Statisten gleich stehen die letzten Hochhaustürme in der Steppe, wie Ruinen eines modernen Stonehenge, welche auf Anbeter warten. Und wie Gregor Madeleine am Rande dieser Steppe anbetet, finden auch die Türme ihre Priester - alles ist mit allem verflochten und treidelt auf gleichbleibend hohem Sprachniveau in diesem wundersamen Prosastück.

"Schon beim Aufwachen spürte er eine Spannung, eine Höhlung im Gedärm, ein sanftes Ziehen im Rückenmark.“ Gregor vernachlässigt seine Freundin, derer er nicht mehr bedarf, pilgert zu Madeleine und nimmt an den evangelischen Gottesdiensten teil. Er trinkt mit dem Pfarrer Dornkamp im Abstellraum Madeleines Rum, singt Kirchenlieder und zieht ganz hinaus in die Zone, in einen der letzten Plattenbauten. Tage verbringt er damit, eine Webcam im Netz zu suchen, die ihm Madeleine zeigt.

"Er hatte immer über Menschen geschmunzelt, die behaupteten, sich in Dinge zu verlieben, die das World Trade Center heiraten wollten oder die Berliner Mauer. Mit Unverständnis hatte er von diesen Leuten gehört, mit dem Staunen, das ihm die Symbiose von Einsiedlerkrebs und Seeanemone einflößte, die Selbstamputationen der Kraken. Jetzt war aus dem Staunen ein Unbehagen geworden.“

Nach drei Tagen gelingt es ihm, auf einer Wetterseite vom Wasserturm Zinnrodas aus die Neunstöcker zu entdecken, den Wohnkomplex. Und am rechten Bildrand - fremd und vertraut zugleich, Madeleine. Bei jeder Gelegenheit hält Gregor fortan Ausschau und manchmal spannt der Himmel noch blau über den Wohntürmen, während am westlichen Horizont schon Gewitterfronten stehen. "Madeleine aber blieb immer dieselbe. Sie stand und blieb abseits, frei und mit durchgedrückten Kreuz.“

Unter dem stroboskopischen Schattenspiel der Türme und der flüchtenden Wolken ballt sich Unheil zusammen. Gregor hadert, verdächtigt die leeren Blöcke um ihn herum, dass sie heimlich tuschelten in ihrer Häusersprache, dass sie kurze lockende Zurufe hinüberschickten zu seiner Kapelle. Seine Vorstöße in Madeleines Richtung werden verstohlen, als müsse er sie vor sich selbst verbergen, er schlendert "wie zufällig an ihr vorbei, ließ wie aus Versehen ein paar Astern fallen, fotografierte sich vor ihrer Fassade in seinem betongrauen Anzug."  Und beobachtet Madeleine per webcam. Als die Kids des verschwindenden Viertels ihre heidnische Wut auf die Kapelle zu richten beginnen, eskaliert das Geschehen.

Nach 175 Seiten findet die "Liebe in der Steppe" ein messerscharfes Ende. Vielleicht lag es damals in Reykjavik an den Katzen, auf welche ich dank des städtischen Hundeverbotes überall traf, am sommerlichen Sonnenaufgangsspektakel über dem Meer, oder an den Farbspielen auf den Glasprismen der von Olafur Eliasson geschaffenen Opernfassade. Als die Abreise heran rückte, heulte ich Rotz und Wasser. In den Wochen nach meiner Rückkehr fehlte mir die Stadt körperlich und ich träumte von ihr, am schönsten war der Traum, in welchem ich auf der Perla (Warmwasserspeicher und eines der archtitektonischen Wahrzeichen der Stadt) in einem Heißwasserpool bade und mit den anderen Leuten, die darin lümmeln, isländisch plaudere. Tatsächlich versuchte ich einige Monate lang, isländisch zu lernen und das Orginal des Besteseller "101 Reykjavik" zu lesen. Ich scheiterte, gewann ganz allmählich Abstand und brauchte mehr als ein Jahr, um ohne Herzklopfen den Stadtsee in Reykjavik betrachten zu können ...

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